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Burundi: Ein ethnischer Konflikt als koloniales Erbe

Hintergründe des Hutu-Tutsi-Gegensatzes in Burundi und Rwanda

| Charlie Blackfield

Seit Jahren gehen immer wieder Meldungen über brutale Konflikte zwischen Hutu und Tutsi durch die Medien. Aktuellster Anlaß dafür war der Putsch, mit dem Major Pierre Buyoya sich am 25.Juli ins burundische Präsidentenamt zurückbeförderte, das er schon einmal - von 1987 bis 1993 - innegehabt hatte. Handelt es sich wirklich um einen "Bürgerkrieg", bei dem zwei "Stämme" sich gegenseitig auszurotten versuchen - und an dem Europa völlig unschuldig ist? (Red.)

Buyoya versprach nach dem Putsch gleichzeitig Frieden und härtere militärische Aktionen gegen die Rebellen. Kurz zuvor hatte der gestürzte Präsident Sylvestre Ntibantunganya der Entsendung einer regionalen Eingreiftruppe zugestimmt, was dem burundischen Militär ein Dorn im Auge war. Nach dem Putsch ist die Lage verworrener denn je, die Reaktionen des Auslandes konfus, und die meisten Medien bedienen sich wieder des vereinfachendes Klischees eines ethnischen Konflikts zwischen Hutu und Tutsi.

In Burundi, wie auch im benachbarten Rwanda, setzt sich die Bevölkerung aus drei sogenannten ethnischen Gruppen zusammen, den (Ba)Hutu, (Ba)Tutsi und (Ba)Twa. Die letzte Gruppe ist die kleinste und spielt politisch kaum eine Rolle. Hutu machen in beiden Ländern jeweils 80 bis 85 % der Bevölkerung aus, die Tutsi sind mit rund 15 bis 20 % eine Minderheit.

Hutu-Tutsi – ein ethnischer Konflikt wird konstruiert

Über die Ethnogenese der Hutu und Tutsi gibt es viele Theorien, aber bis heute keine endgültige Klarheit. (1) Bekannt ist nur, daß die europäischen Kolonialmächte, die erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in Rwanda und Burundi eindrangen, dort die genannten drei Bevölkerungsgruppen vorfanden. Ob es sich dabei um ethnische Gruppen handelte oder eher um soziale „Standes“bezeichnungen, ist unklar. Jedenfalls ist es bezeichnend, daß die angeblichen Ethnien damals „durchlässig“ waren, d.h., gebürtige Hutu konnten bei Veränderung ihrer sozialen Stellung zu Tutsi werden und umgekehrt. Wahrscheinlich ist, daß erst die Deutschen, die sich kurz vor der Jahrhundertwende Rwanda und Burundi als „Schutzgebiete“ einverleibten, aus Hutu und Tutsi Ethnien konstruierten. Tutsi waren den ethnologischen, stark rassistisch geprägten Theorien zufolge Angehörige einer „höherentwickelten“ Bevölkerungsgruppe, die aus dem heutigen Äthiopien eingewandert sei und durch „rassische Merkmale“ besser als die Hutu-Mehrheit für Verwaltungs- und Führungsaufgaben geeignet sei. Kein Wunder, daß sich unter den angeblichen oder tatsächlichen Tutsi alsbald eine Art ethnisches Bewußtsein verbreitete!

Das Konstrukt des Hutu-Tutsi-Gegensatzes bekam weiteren Auftrieb, nachdem Rwanda und Burundi zu Mandatsgebieten des Völkerbundes unter belgischer Verwaltung wurden. Als „B-Mandate“ wurden sie praktisch wie Kolonien verwaltet, und Belgien, tatkräftig unterstützt von der eifrig missionierenden katholischen Kirche, verfestigte in beiden Ländern eine Zwei-Klassen-Gesellschaft: Tutsi wurden protegiert, bekamen bessere Ausbildungsmöglichkeiten, und ab den 30er Jahren waren fast alle politisch und wirtschaftlich entscheidenden Stellen mit Tutsi besetzt. Die Hutu hingegen blieben von höherer Bildung und dementsprechend auch von gesellschaftlichen oder politischen Aufstiegschancen ausgeschlossen.

Die rigorose Abgrenzung zwischen Hutu und Tutsi wie auch die aus Europa mitgebrachte Geschichtsschreibung, die diese Abgrenzung ethnologisch und historisch zu begründen versuchte, schuf binnen weniger Jahrzehnte eine Spaltung der Gesellschaft in eine deklassierte Hutu-Bevölkerungsmehrheit und eine privilegierte Tutsi-Minderheit. Als in Rwanda 1959 durch eine Revolution das Ende der Kolonialherrschaft eingeläutet wurde, spielte der Hutu-Tutsi-Gegensatz bereits eine wichtige Rolle. Hunderttausende von Tutsi flüchteten ins Ausland, da viele Hutu in ihnen KollaborateurInnen sahen, wenn nicht gar eine „eingewanderte“ Minderheit, die sie „jahrhundertelang“ unterdrückt hätte.

Rassistische Theorien, die aus höchstwahrscheinlich nur sozialen Gruppenbezeichnungen Ethnien konstruiert hatten, führten damals zum ersten Mal zu schweren Auseinandersetzungen. Ein ethnischer Konflikt war geschaffen.

Entwicklungen nach der Unabhängigkeit

1962 wurden Rwanda und Burundi unabhängig. Die beiden Nachbarländer entwickelten sich sehr unterschiedlich. Während in Rwanda die Bevölkerungsmehrheit der Hutu nun das Sagen hatte und sich an den westlichen „Demokratien“ orientierte, etablierte sich in Burundi nach einigen Wirren eine politische Elite, die sich aus einigen wenigen Tutsi-Familien zusammensetzte. Der während der Kolonialzeit geschaffene ethnische Gegensatz blieb dort fast unverändert erhalten. Die Armee bestand bis in die untersten Ränge fast ausschließlich aus Tutsi; Verwaltung, politische und wirtschaftliche Macht blieben ebenfalls fest in Händen der – nach alten deutschen und belgischen Theorien – angeblich „überlegenen Rasse“. Mehrfach regte sich dagegen Widerstand, und es kam zu blutigen Massakern. Hutu massakrierten Tutsi (ungeachtet der Tatsache, daß auch die Mehrheit der Tutsi von vielen politischen und wirtschaftlichen Chancen ausgeschlossen ist, die Herrschaft also nur von einer Minderheit innerhalb einer Minderheit ausgeübt wird); und die Armee reagierte mit brutalster Vergeltung und massakrierte, ähnlich unterschiedslos, Teile der Hutu-Bevölkerung. Auch unter Präsident Pierre Buyoya, der sich 1987 zum ersten Mal an die Macht putschte, kam es 1988 zu pogromartigen Auseinandersetzungen. Dennoch machte Buyoya sich im westlichen Ausland einen guten Namen. Er führte politische Reformen durch, führte ein Mehrparteiensystem ein, sorgte für die ersten Wahlen im Juni 1993 – und trat sogar zurück, nachdem er seinem Konkurrenten Melchior Ndadaye (dessen Partei „Frodebu“ 73 % aller Stimmen erhalten hatte) unterlegen war. Anschließend gründete er eine wohltätige Stiftung für Einheit, Frieden und Demokratie, die von den USA großzügig gesponsort wurde.

Nachfolger Ndadaye, ein gemäßigter Hutu, wollte sich sogleich an eine Reform heranwagen, die Buyoya wohlweislich unterlassen hatte: die Umstrukturierung der Armee (fast hundertprozentig Tutsi) entsprechend der ethnischen Verteilung der Gesamtbevölkerung (über achtzig Prozent Hutu). Er kam nicht mehr dazu. Bei einem Putschversuch am 21.Oktober 1993 wurde er von Militärs ermordet. Bei schweren Unruhen in den folgenden Wochen kamen auf beiden Seiten – Hutu wie Tutsi – rund 50 000 Menschen ums Leben. Eine Koalitionsregierung aus Buyoyas ehemaliger Einheitspartei und Ndadayes Frodebu bewahrte nach dem Scheitern des Putschversuchs einen letzten Anschein von „Ordnung“. Doch die Macht lag längst in den Händen derer, die Waffen hatten: der extremistischen Hutu-Milizen und der kaum weniger extremistischen „regulären“ Armee. Morde und pogromartige Zwischenfälle sind seither an der Tagesordnung.

Die aktuelle Szenerie: Wer ermordet wen?

Im aktuellen politischen Geschehen Burundis sind folgende Gruppen von Bedeutung:

  1. das „reguläre“ burundische Militär: Es setzt sich, wie schon erwähnt, zu fast hundert Prozent aus Tutsi zusammen und ist das wichtigste Herrschaftsinstrument der Clique, die seit Mitte der 60er Jahre das Sagen hat. Innerhalb der Militärführung streiten sich extremistische Hardliner mit eher gemäßigten, zu denen bislang auch Pierre Buyoya gezählt wurde. Doch auch die gemäßigte Strömung ist in jedem Fall daran interessiert, von ihrem Einfluß auf die burundische Politik möglichst wenig zu verlieren. Ihre Bereitschaft, mit der Hutu-Partei Frodebu zusammenzuarbeiten, entspricht eher der rationalen Einsicht, daß der Ausschluß der Hutu-Mehrheit aus der burundischen Politik sich nicht für alle Zeiten aufrechterhalten läßt.

    Nach dem Putsch hat Buyoya eine neue Rekrutierungswelle für das Militär eingeleitet. Die Rekrutierungen beschränkten sich auf Männer der Tutsi, womit der einseitige ethnische Charakter des Militärs unverändert fortbesteht. Bei neuen Angriffen gegen die Hutu-Milizen (siehe 3.) ging die Armee wahllos gegen die Hutu-Bevölkerung vor und ermordete auch Frauen und Kinder. Colonel Jean-Bosco Daradangwe, Chef des militärischen Nachrichtendienstes, sagte dazu: „Die Armee ist manchmal undiszipliniert. Es gibt ab und zu bedauernswerte Situationen. Aber wir haben eine Kommission gebildet, um herauszufinden, was los ist, und es sind jetzt zwei Offiziere im Gefängnis.“ (2) – Für Menschenrechtsorganisationen und Überlebende der Massaker muß diese Aussage zynisch klingen. Denn die angeblichen Einzelfälle scheinen allen AugenzeugInnenberichten zufolge eher die Regel zu sein.

  2. die gestürzte Regierung von Sylvestre Ntibantunganya: Für die internationale Diplomatie ist sie vielleicht noch von Bedeutung, aber ihre Machtstellung war schon vor dem Putsch nur noch marginal. Die Regierung, bestehend aus einer mehr schlecht als recht zusammengekleisterten Koalition der alten Herrschaftsclique (der Tutsi-dominierten Einheitspartei, die den Premierminister stellte) und der 1993 mit überwältigender Mehrheit gewählten, Hutu-dominierten Frodebu (die den Präsidenten stellte), hatte den Staat schon lange nicht mehr unter Kontrolle. In den Augen der internationalen Diplomatie ist die Regierung Ntibantunganyas immerhin „demokratisch“ legitimiert.

  3. extremistische Hutu-Milizen: Die Unterdrückung durch den herrschenden Teil der Tutsi und rassistische Hetzpropaganda, insbesondere durch Radiosender, haben in Rwanda wie Burundi einen Teil der Hutu-Bevölkerung in den Extremismus getrieben. Die Milizen gehen auf brutalste Weise gegen alle Tutsi vor. Gegenüber dem Völkermord, den diese Milizen an den Tutsi begehen, waren die „ethnischen Säuberungen“ im ehemaligen Jugoslawien fast noch harmlos. Wurden auf dem Balkan die Menschen meist „nur“ vertrieben, so werden sie in Rwanda wie Burundi massakriert – Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen. Gerade der Völkermord in Rwanda, dem mehrere hunderttausend Tutsi zum Opfer fielen, ist mit ein Hauptgrund für das brutale Vorgehen des Tutsi-dominierten burundischen Militärs, dessen Methoden sich von denen der Milizen kaum unterscheiden.Was den Hutu-Milizen sehr viel Auftrieb gab, war die Flucht der damaligen rwandischen Regierung 1994 nach Zaire. Die Regierung kam nicht nur mit einem großen Teil der damaligen regulären rwandischen Armee (Hutu-dominiert und oft in engem Kontakt zu den Milizen), sondern auch mit der Staatskasse über die Grenze. Es wird vermutet, daß die Milizen, die derzeit Burundi terrorisieren, von den rwandischen Hutu-Milizen unterstützt werden. Stimmt diese Vermutung, so verfügen sie über bedeutende Ressourcen und können ihren Terror wahrscheinlich noch über Jahre hinweg fortsetzen.

  4. die Zivilbevölkerung: Die Mehrheit beider Bevölkerungsgruppen, Hutu wie Tutsi, will nichts als Frieden. Der angebliche „Bürgerkrieg“ wird nicht etwa von allen BürgerInnen geführt, sondern von einer Minderheit: von rassistisch-extremistischen Hutu-Milizen und von einer ebenso rassistisch-extremistischen „regulären“ Armee. Die beiden bewaffneten Gruppen bekämpfen sich nicht nur gegenseitig; Hutu-Milizen begehen einen Völkermord an den Tutsi, da sie generell alle Tutsi zu FeindInnen abstempeln; die Armee tut entsprechendes an den Hutu, da sie alle Hutu als FeindInnen ansieht. Der Bevölkerung des kleinen Landes bleibt nichts übrig als die Flucht.

Die Rolle des Westens

Auch vor der Ankunft der Kolonialmächte hat es in Rwanda und Burundi kriegerische Auseinandersetzungen gegeben, Unterdrückung, Ausbeutung, soziale Konflikte. Doch was sich heute dort abspielt, wäre ohne die aus Deutschland und Belgien importierten rassistischen Theorien und Praktiken niemals denkbar gewesen. Zunächst definierten die Kolonialmächte ganz klar, wer Tutsi und wer Hutu sei, ohne jemals die von den Betroffenen selbst traditionell praktizierte Einteilung verstanden zu haben. Anschließend protegierten sie die angeblich überlegenen Tutsi und schlossen die angeblich unterentwickelten Hutu – und damit über achtzig Prozent der Bevölkerung – vom politischen Geschehen aus. Da zudem die Geschichtsbücher in Rwanda und Burundi aus belgischer Feder stammen (bei den AfrikanerInnen existierte zuvor nur eine mündliche Weitergabe), wurde in kürzester Zeit den Tutsi wie Hutu ein rassistisch geprägtes, ethnisches Bewußtsein indoktriniert. Ohne dieses gäbe es vielleicht heute auch Krieg in Rwanda und Burundi – aber sicher nicht einen solch brutalen, umfassenden Völkermord, wie er sich seit einigen Jahren in der Region abspielt.

Gelgentlich geistert heute wieder das Gespenst einer Militärintervention durch die Medien. Eine solche wird stets dann gefordert, wenn der „point of no return“ längst überschritten ist und kurzfristige Lösungen nicht mehr möglich sind. Frankreich, das die Hutu-dominierte rwandische Regierung jahrzehntelang unterstützte, intervenierte ab 1990 mehrfach in den Krieg zwischen der rwandischen Regierung und den Tutsi-dominierten, exilrwandischen Streitkräften der FPR. Die Regierungsarmee wurde auch dann noch großzügig mit Waffen versorgt, als bekannt war, daß Teile der Armee Hand in den Hand mit den Hutu-Milizen arbeiteten. Der Schwenk auf eine neutrale Politik in Form der Einrichtung einer Sicherheitszone im Sommer 1994 war der vorübergehende Versuch, das mit den Waffenlieferungen angerichtete Unheil wieder gutzumachen. Für viele Menschen in Rwanda mag dies ein hilfreicher Schritt gewesen sein, doch in den Flüchtlingslagern in Zaire und in Burundi gingen die Massaker weiter – unter Verwendung französischer Waffen aus den Beständen der früheren rwandischen Armee.

(1) siehe dazu: Hildegard Schürings: Ethnien haben eine Geschichte, in: dies. (Hrsg.): Ein Volk verläßt sein Land. Krieg und Völkermord in Ruanda, Köln 1994, S.136-144. Auch im folgenden beziehe ich mich auf diesen und andere Aufsätze aus dem angegebenen Buch.

(2) The Guardian, 15.8.1996; Übers. d. Verf.