Am 15. Mai 1897 - vor 100 Jahren - wurde mit dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK) weltweit die erste Homosexuellenorganisation gegründet, die sich die Anerkennung der Rechte Homosexueller und die Beseitigung des § 175, der "beischlafähnliche Handlungen" zwischen Männern unter Strafe stellte, zum Ziel gesetzt hatte. (Red.)
Am 25. Mai 1895 wurde Oscar Wilde von einem Londoner Gericht wegen seiner Homosexualität zu zwei Jahren Gefängnis mit Zwangsarbeit verurteilt. Ein Ereignis, das den jüdischen Arzt Magnus Hirschfeld nach seinen eigenen Angaben mit dazu veranlaßte, sich wissenschaftlich mit Homosexualität zu beschäftigen (1). Wenig später erschien seine Veröffentlichung Sappho und Sokrates oder Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Geschlechts? – ein Buch, das als ein Manifest zur Befreiung der Homosexuellen bezeichnet werden muß. (2) Hirschfeld vertritt darin die Auffassung, daß Homosexualität in der Natur des Menschen begründet ist, und diese Liebe, die er einmal als Fluch der Natur, ein andermal als höchste Form der Liebe bezeichnet, daher nicht unmoralisch sein könne. Er begreift darin Homosexualität nicht als Krankheit, sondern als eine Abweichung von der Norm, einer „angeborenen Mißbildung“. Dennoch bleibt er im pathologischen gefangen, setzt sich also nicht positiv von anderen fortschrittlichen Ärzten seiner Zeit ab.
Trotzdem löste dieses Buch den Beginn der ersten Homosexuellen-Bewegung aus, und am 15. Mai 1897 gründeten Hirschfeld, sein heterosexueller Verleger Max Spohr, Eduard Oberg und der Schriftsteller Franz Josef von Bülow in Hirschfelds Charlottenburger Wohnung das „Wissenschaftlich-humanitäre Komitee“ (WhK), das als erstes eine Petition für die Abschaffung des § 175 an den Reichstag erarbeitete und verbreitete.
BürgerInnenrechtspolitik und Wissenschaftsgläubigkeit
Das WhK hatte sich der Aufklärung verschrieben. „Höher als die Freiheit steht das Recht, am höchsten die Wahrheit“ (3), in diesem Satz von Magnus Hirschfeld kommt sein Vertrauen in die Kraft der Aufklärung sehr gut zum Ausdruck. Hirschfelds wesentliche These war, daß Homosexualität „irgendwie aus der menschlichen Natur selbst hervorgeht“ (4) und somit nicht unmoralisch sein könne. Zur Erklärung entwickelte er die Theorie der „sexuellen Zwischenstufen“, die zwar bereits bei Karl-Heinrich Ulrichs (5), einem anderen Vorkämpfer schwuler Emanzipation, angelegt war, von Hirschfeld aber anders gebraucht wurde.
Die Zwischenstufentheorie geht davon aus, daß aus einem zunächst eingeschlechtlichen Embryo zwar ein geschlechtlich differenziertes Wesen entsteht, dieses aber immer Anteile beider Geschlechter enthält. „Vollmann“ und „Vollweib“ wären demnach nur die Extreme auf einer stufenlosen Skala. Gemäß seinem Postulat „Die Natur macht keine Sprünge“ (6) untersucht Hirschfeld die Geschlechtsunterschiede nach vier Gesichtspunkten:
„I. die Geschlechtsorgane, II. die sonstigen körperlichen Eigenschaften, III. der Geschlechtstrieb, IV. die sonstigen seelischen Eigenschaften.“ (7)
Auch wenn diese Theorie im Biologismus (typisch für die Zeit) gefangen blieb und mittlerweile vollkommen überholt ist, so sind ihre Konsequenzen eigentlich radikal: es ergibt sich daraus, daß die geschlechtliche Eindeutigkeit nichts anderes als eine Fiktion ist (8), der Einzelmensch immer eine zufällige Kombination beider Geschlechtsanteile darstellt. Allerdings betonte Hirschfeld diesen Aspekt seiner Zwischenstufentheorie in der Öffentlichkeit kaum, war doch seine Arbeit für die Homosexualität schon Provokation genug.
Neben seiner theoretischen Arbeit stachen vor allem seine empirischen Untersuchungen hervor. Als erster entwickelte Hirschfeld einen Fragebogen zur Sexualität, den er Ende 1903 an 3 000 Studenten und kurz darauf an 5 721 Berliner Metallarbeiter verschickte – was ihm eine Geldstrafe wegen Beleidigung einbrachte. Die Ergebnisse dieser ersten breit angelegten empirischen Untersuchungen zeigten deutlich, daß es nicht wenige Schwule gab: 1″5 % bei den Studenten und 1,1 % bei den Metallarbeitern. 4,5 % der Studenten und 3,2 % der Metallarbeiter gaben an, daß sie sich zu beiden Geschlechtern hingezogen fühlten. (9) Untersuchungen zu weiblichen Homosexuellen stellten Hirschfeld allerdings nicht an.
Erst in den 50er Jahren wurde eine dann noch umfangreichere Untersuchung von einem Team um den amerikanischen Biologen Alfred C. Kinsey durchgeführt, die auf den Angaben von 11 000 Frauen und Männern beruhte. Als Biologe entwickelte Kinsey eine Skala sexuellen Verhaltens, die nicht starr zwischen Homo- und Heterosexualität unterschied, sondern fließende Übergänge vorsah. In der Tendenz stellte Kinsey jedoch höhere Prozentzahlen für ausschließlich homosexuelles Verhalten unter Männern fest (4 %), die eigentlich überraschende Tatsache war aber, daß diese Ausschließlichkeit eher die Ausnahme darstellte. (10)
Auf der Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse führte das WhK seinen Kampf für die Abschaffung des § 175 und die Anerkennung der Homosexuellen. Dabei verfolgte es im wesentlichen eine bürgerrechtliche Politik und bediente sich einer intensiven Lobbyarbeit.
Bereits kurz nach der Gründung des WhK wurde eine erste Petition mit 200 Unterschriften ,namhafter Persönlichkeiten“ an den Reichtstag gerichtet, und am 13. Januar 1998 begründete der SPD-Vorsitzende August Bebel höchstpersönlich diese Petition im Reichstagsplenum. Allerdings wanderte die Petition lediglich in die Ausschüsse und führte dort zu nichts. Noch mehrmals (1907, 1922 und 1926) versuchte es das WhK mit Petitionen, im wesentlichen jedoch ohne nennenswerten Erfolg.
Neben dieser frühen schwulenpolitischen Lobbyarbeit betätigte sich das WhK vor allem als Selbsthilfeorganisation für Homosexuelle und Hirschfeld trat häufig als Sachverständiger vor Gericht auf, um wegen § 175 angeklagte Homosexuelle zu verteidigen. Dabei wird die Widersprüchlichkeit dieser Politik deutlich, denn um hier wirksam tätig werden zu können, d.h. eine Strafmilderung zu erreichen, mußte Hirschfeld Homosexualität als Krankheit bezeichnen, zumindest im engeren juristischen Sinne. Hirschfeld rechtfertigte sich damit, daß er so den Angeklagten i.d.R. einige Jahre Knast ersparen konnte.
Schwule gegen das WhK
Das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee war innerhalb der „Schwulenszene“ nie unumstritten. Das WhK sah sich nie als Massenorganisation, sondern eher als kleine aber feine Eliteorganisation. Es hatte nie mehr als vielleicht 500 Mitglieder. Und das WhK betonte immer seine wissenschaftlichen Herangehensweise.
Gerade dafür wurde es wiederholt kritisiert. Nicht nur Sagitta (John Henry Mackay) verachtete diesen Ansatz, sah er doch keine Notwendigkeit der Erklärung für etwas so selbstverständliches wie Homosexualität. Massivere Kritik kam jedoch aus einer Richtung der Schwulenbewegung, die sich um Adolf Brand und seine „Gemeinschaft der Eigenen“ formierte. Diese Kritik eskalierte im Rahmen der Eulenburg-Affäre 1907/08, die sich nach einer Veröffentlichung in Maximilian Hardens Zeitschrift „Die Zukunft“ entspannte. Darin wurden der Fürst Eulenburg und zwei Generäle der Homosexualität bezichtigt, woraufhin sie vom Kaiser entlassen wurden. Der entlassene General Moltke klagte daraufhin gegen Harden, und dieser wiederum benannte Hirschfeld als Sachverständigen (11).
Im Gefolge dieser Affäre „outete“ Adolf Brand Reichskanzler Fürst Bernhard von Bülow als schwul, und wurde von diesem ebenfalls verklagt. Da er seine Behauptung nicht beweisen konnte, wurde Brand zu 18 Monaten Haft verurteilt.
Diese Prozeßwelle hat zum einen der Homosexuellenbewegung einen nicht wieder gut zu machenden Schaden zugefügt, zum anderen aber auch Unterschiede innerhalb der Bewegung deutlich werden lassen. Das WhK (und im übrigen auch einige anarchistische Blätter) sprachen sich deutlich gegen das „Outing“, diesen „Weg über Leichen“, aus und vertrauten weiterhin auf die Kraft der Aufklärung und Wissenschaft.
Als Alternative wurde allerdings immer wieder das massenhafte Selbstouting diskutiert, jedoch nie in die Tat umgesetzt. Kurt Hiller äußerte sich zu dieser seiner „Lieblingsidee“: „Ich weiß, daß tausenderlei gegen den Plan spricht; vor allem das Fehlen jeder Kampflust, jedes Opfermuts, jeder Idealität und Solidatität; der totale Mangel an Pflichtgefühl und die Hypertrophie dreckigster Geldgier.“ (12) Doch auch die führenden Köpfe des WhK – Magnus Hirschfeld und Kurt Hiller – outeten sich nie öffentlich, und der zweite Teil von Hillers Memoiren, Eros, durfte erst nach seinem Tod veröffentlicht werden.
Doch der Streit ging nicht nur um die Taktik, sondern auch – oder sogar mehr noch – um schwules Selbstverständnis. Benedikt Friedländer, ebenfalls Mitglied des WhK, brach 1906 mit dem WhK und gründete die „Sezession des Wissenschaftlich-humanitären Komitees“. Die Gründe lagen zum einen in der WhK-internen Machtpolitik Hirschfelds, der durch einen Geschäftsordnungstrick Friedländers Einfluß zu beschneiden versuchte (13), aber auch in der Richtung, in der Friedländer zu wirken versuchte. Friedländer war Anarchist, doch das war kaum der Grund für den Konflikt. Friedländer propagierte jedoch den „Eros Uranios“, das Ideal einer „weiberfreien Gesellschaft“ mit einer ausdrücklichen Betonung von (homosexuellen) Männerfreundschaften und Männerbündelei. (14) Die „Sezession des WhK“ überlebte jedoch den Selbstmord Benedict Friedländers 1908 nur kurz; nach 1909 verlieren sich ihre Spuren.
Einen ähnlichen Männlichkeitskult betrieb die „Gemeinschaft der Eigenen“ um Adolf Brand (der „Männerbundtheoretiker“ des Wandervogels, Hans Blüher, war ebenfalls Mitglied der Gemeinschaft). Sie strebte eine besondere „männliche Kultur“ an und lehnte vor diesem Hintergrund „weibische“ Homosexuelle und auch Hirschfelds Zwischenstufentheorie ab. Es ging eben um „richtige Männlichkeit“ – eine Tendenz zum faschistischen Männerbund ließ sich hier nicht leugnen. Die Gemeinschaft der Eigenen als Organisation überlebte die Inhaftierung Brands allerdings nicht.
1933: Das Ende des WhK
Als Homosexueller, Jude und Sozialist erfüllte Magnus Hirschfeld gleich drei Ausgrenzungskriterien der NationalsozialistInnen. Es verwundert daher nicht, daß er nicht erst 1933 zum Ziel nationalsozialistischer Angriffe wurde, und bereits in den 20er Jahren wurde er bei einem Naziüberfall schwer verletzt.
Aufgrund interner Machtkämpfe im WhK legte Hirschfeld bereits 1930 den Vorsitz nieder und begab sich auf eine Weltreise, von der er nicht mehr nach Deutschland zurückkehren sollte. Er starb 1935 an seinem 67. Geburtstag in Nizza im französischen Exil.
Sofort nach der Machtübernahme durch die NSDAP kam es zu Durchsuchungen und Übergriffen auf MitarbeiterInnen des Instituts für Sexualwissenschaft und des Wissenschaftlich-humanitären Komitees. Am 6. Mai 1933 stürmten schließlich nationalsozialistische Studenden das Institut und verwüsteten die Räumlichkeiten, große Teile der Bibliothek wurden als „undeutscher Schund und Schmutz“ abtransportiert. (15) Das Institut wurde geschlossen, das WhK verboten. Damit war die Geschichte der ersten deutschen Homosexuellenbewegung zu Ende, ein Zeitalter der brutalen Verfolgung folgte.
(1) Manfred Herzer: Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen. Frankfurt/New York, 1992, S. 53
(2) Magnus Hirschfeld: Sappho und Sokrates oder Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Geschlechts? Leipzig 1896
(3) Magnus Hirschfeld: Einst bis jetzt. Berlin 1986, S. 47
(4) Magnus Hirschfeld: Sappho und Sokrates, 1896, zitiert nach Herzer, a.a.O., 1992
(5) zu Karl-Heinrich Ulrichs vergleiche z.B.: Hubert Kennedy: Karl Heinrich Ulrichs. In: Rüdiger Lautmann (Hrsg.): Homosexualität. Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte. Frankfurt/New York 1993
(6) Magnus Hirschfeld: Geschlechtskunde, 1926, zitiert nach Gesa Lindemann: Magnus Hirschfeld. In: R. Lautmann, a.a.O.
(7) ebenda
(8) ebenda, S. 546
(9) Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 1903, S. 109-178, zitiert nach Lindemann, a.a.O.
(10) zu Kinsey vgl. Erwin J. Haeberle: Alfred C. Kinsey. In: Lautmann, a.a.O.
(11) vgl. dazu z.B. Manfred Herzer, a.a.O., aber auch Erich Mühsam: Die Jagd auf Harden"...
(12) Kurt Hiller 1922, zitiert nach Herzer, a.a.O.
(13) vg. dazu kurz: Hubert Kennedy: Anarchist of Love. The Secret Life of John Henry Mackay. New York 1996, S. 12ff
(14) vgl. z.B. "Weiberfreie Gesellschaft", taz 10.4.90 und Bernd-Ulrich Hergemöller: Benedict Friedländer. In: Lautmann, a.a.O.
(15) Manfred Herzer, a.a.O.