anarchismus

„Ich selbst bin Anarchist, aber von einer anderen Art.“

M.K. Gandhis Rede zur Einweihung der Hindu-Universität von Benares, 6. Februar 1916

| M. K. Gandhi

Am 30.1.1948, vor 50 Jahren also, wurde M.K. Gandhi von einem Hindu-Nationalisten, Nathuram Godse, erschossen. Anläßlich der Erinnerung an seine Ermordung veröffentlichen wir erstmals die Übersetzung von Gandhis Rede zur Einweihung der Hindu-Universität von Benares vom 6.2.1916. Die Rede ist überaus bedeutsam, bezeichnete sich Gandhi darin doch weithin hörbar und explizit als Anarchist. U.a. deshalb wurde seine Rede auch abgebrochen. Der Eklat beschäftigte die gesamte indische Presse. Gandhi befand sich nach seiner Rückkehr aus Südafrika seit geraumer Zeit auf Rundreise, um Indien besser kennenzulernen. Zwar war von seinen Widerstandsaktionen in Südafrika da und dort etwas durchgesickert, doch erst der Eklat von Benares verschaffte Gandhi einen neuen Popularitätsschub unter den indischen Massen, der ihn für die kommenden Kampagnen zivilen Ungehorsams prädestinierte. Bei der mehrtägigen Einweihungsfeier waren u.a. Annie Besant, ihres Zeichens Vorsitzende der Theosophischen Gesellschaft, britische Fördererin der Congress-Unabhängigkeitsorganisation und Gründungsmitglied der Benares Universität, sowie der britische Vizekönig Lord Hardinge zugegen. Wegen der Anwesenheit des Vizekönigs waren in der Stadt viele Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden, was die Studenten empörte. Als Gandhi seine Rede hielt, präsidierte auf dem Podium der Maharaja von Darbhanga neben weiteren Fürsten und Frau Besant. Frau Besant war auch für den Abbruch der Rede verantwortlich, nachdem mehrere Fürsten das Podium verlassen hatten. Es war gleichzeitig der irreparable Bruch zwischen Gandhi und Besant. Wir übersetzen den Text mit den im Original angegebenen Zwischenrufen aus dem Auditorium oder dem Podium. (Red.)

„Freunde, ich möchte meine demütige Entschuldigung für meine Verspätung aussprechen. Ihr werdet die Entschuldigung annehmen, wenn ich euch sage, daß ich nichts dafür kann noch sonstwer dafür verantwortlich ist. (Gelächter.) Tatsächlich werde ich derzeit wie ein Tier umhergezeigt und meine überfreundlichen Bändiger übersehen ein notwendiges Kapitel meines Lebens – den reinen Zufall. Auch jetzt waren sie wieder nicht gewappnet für die Serie von Zufällen, die mir, meinen Bändigern und meinen Begleitern widerfahren ist. Deshalb die Verspätung.

Liebe Freunde, die ihr noch unter dem Eindruck der unnachahmlichen Beredsamkeit meiner Vorrednerin Lady Besant steht, glaubt nicht, daß unsere Universität bereits vollendet ist und daß all die jungen Männer, die nun in eine werdende und wachsende Universität kommen, diese als vollendete Bürger eines großen Imperiums wieder verlassen werden. Freunde, geht heute nicht mit dieser Erwartung auseinander. Und wenn ihr, die vielen Studenten, an die meine Bemerkungen heute abend gerichtet sind, im gegenwärtigen Augenblick meint, das geistige Leben, für welches dieses Land berühmt und konkurrenzlos ist, könne nur durch Reden ausgedrückt werden, dann, glaubt mir, täuscht ihr euch. Ihr werdet nie lediglich durch Reden die Botschaft ausdrücken können, die Indien, wie ich hoffe, dereinst der Welt zu geben in der Lage sein wird. Ich nehme die hier während der letzten beiden Tage gegebenen Vorträge aus, weil sie nötig waren. Aber ich wage es anzufragen, ob wir nicht langsam das Ende unserer Energien fürs Redenhalten erreicht haben. Und es genügt uns kein Ohrenschmaus, es reicht uns nicht, daß sich unsere Augen weiden. Es ist nötig, daß unsere Herzen berührt werden und daß unsere Hände und Füße in Bewegung gesetzt werden. Die letzten beiden Tage wurde uns von der Notwendigkeit erzählt, die Einfachheit des indischen Charakters zurückzugewinnen, und das heißt, daß unsere Hände und Füße sich im Einklang mit unseren Herzen bewegen. Das nur zur Einleitung.

Ich wollte sagen, daß es für mich zutiefst verletzend und beschämend ist, im Schatten dieser großen Universität und in dieser heiligen Stadt zu meinen Landsleuten in einer Sprache zu sprechen, die mir fremd ist. Ich weiß, wäre ich ein Prüfer und hätte ich die zu prüfen, die als Publikum an diesen beiden Tagen die Vorträge besucht haben, daß die meisten von ihnen die Prüfung nicht bestehen würden. Und warum? Weil sie nicht tatsächlich erreicht worden sind.

Ich habe das Treffen des großen Congress im letzten Dezember besucht. Da war ein viel größeres Autidorium. Glaubt ihr mir, wenn ich euch erzähle, daß die einzigen Reden, die das große Publikum wirklich begeisterten, diejenigen Reden waren, die auf Hindi gehalten wurden? Und das in Bombay, wohlgemerkt, nicht in Benares, wo jeder Hindi spricht. Und zwischen der Landessprache um Bombay und Hindi existiert keine solch große Scheidelinie wie zwischen Englisch und den Schwestersprachen Indiens. Das Congress-Publikum jedenfalls war eher fähig, den Hindi-Rednern zu folgen. Ich hoffe sehr, daß diese Universität darauf ein Auge hat und daß die Jugendlichen, die sie besuchen und in ihr lernen, dies in ihrer Muttersprache tun können. Unsere Sprache ist der Spiegel von uns selbst, und wenn ihr mir sagt, unsere Sprachen seien zu arm, um die schöpferischsten Gedanken auszudrücken, dann sage ich, je früher unsere Existenz ausgetilgt wird, desto besser für uns. Gibt es hier jemanden, der davon träumt, daß Englisch je die Landessprache Indiens werden kann? (Zurufe: „Niemals!“)

Warum diese Bürde für das Land? Denkt nur einen Augenblick darüber nach, welch ungleiches Wettrennen unsere Jugendlichen mit jedem englischen Jugendlichen führen müssen. Ich hatte diesbezüglich die Gelegenheit eines intensiven Gesprächs mit einigen Professoren aus Poona. Sie versicherten mir, daß jeder indische Jugendliche wenigstens sechs kostbare Jahre seines Lebens verliert, weil er sich sein Wissen durch die englische Sprache aneignen muß. Multipliziert das einmal mit der Anzahl der Studierenden aus unseren Schulen und Colleges und findet für euch selbst heraus, wieviele tausend Jahre dem Land verloren gehen. Man wirft uns vor, wir entwickelten keine Initiative. Wie können wir das je, wenn wir die kostbarsten Jahre unseres Lebens dem Erlernen einer fremden Sprache widmen? Und auch noch bei diesem Versuch scheitern wir. Oder gelang es etwa irgendeinem Redner von uns gestern und heute, das Auditorium so zu beeindrucken wie Mr. Higginbotham? Es war aber nicht deren Fehler, daß sie das Publikum nicht beeindruckten. Sie hatten viel Substanz in ihren Reden. Aber ihre Reden konnten unsere Herzen nicht erreichen. Es wird gesagt, schließlich seien es britisch erzogene Inder, die das Land führten. Und es würde in der Katastrophe enden, wenn es anders wäre. Die einzige Erziehung, die wir erfahren, ist die britische. Dafür müssen wir uns erkenntlich zeigen.

Aber nehmt einmal an, wir hätten uns in den letzten 50 Jahren mittels unserer Landessprachen gebildet, was hätten wir heute davon? Wir hätten heute ein freies Indien, wir hätten unsere Intellektuellen, und zwar nicht als Fremde im eigenen Land, sondern als Menschen, die zu unseren Herzen sprechen können. Sie würden unter den Ärmsten der Armen arbeiten und was immer sie während der vergangenen 50 Jahren an Wissen und Erfahrung angehäuft hätten, wäre ein Erbe der Nation. (Applaus.) Heute wird auch unseren Frauen die Partizipation an Bildung vorenthalten. Schaut auf Professor Bose (1) und Professor Ray (2) und ihre brillianten Forschungen. Ist es nicht beschämend, daß sie nicht das gemeinsame geistige Eigentum der Massen werden?

Laßt uns nun einem anderen Thema zuwenden.

Der Congress hat eine Resolution über Selbst-Regierung erlassen und ich hege keine Zweifel, daß das indienweite Congress-Komitee und die Muslim-Liga ihrer Verantwortung gerecht werden und einige greifbare Vorschläge machen. Meinerseits muß ich jedoch frei bekennen, daß ich weniger daran interessiert bin, was das Komitee produziert als daran, was die Studenten oder die Massen hervorbringen. Kein Papier, keine Deklaration wird uns je Selbst-Regierung bescheren. Und noch so viele Reden und Ansprachen werden uns nicht auf die Selbst- Regierung vorbereiten. Nur unsere eigene Lebensführung wird das tun. (Applaus.)

Und wie versuchen wir gegenwärtig uns selbst zu regieren? Ich möchte mich heute abend deutlich ausdrücken. Wenn ihr meine Rede heute abend als Rede ohne die nötige Distanz zur Sache empfindet, dann bedenkt, daß ihr die Gedanken eines Mannes teilt, der es sich heute erlaubt, vernehmbar und deutlich zu werden. Und wenn ihr denkt, ich überschreite die Grenzen, welche die Höflichkeit mir auferlegt, verzeiht mir die Freiheit, die ich mir nehme. Ich habe gestern den Viswanath Temple besucht und bin durch die nahegelegenen Gassen gegangen. Da kamen mir die folgenden Gedanken: Wenn plötzlich ein Fremder bei diesem Tempel auftauchte und den Zustand der Hindus beurteilen müßte, hätte er nicht ein Recht dazu, uns zu kritisieren? Spiegelt dieser große Tempel nicht etwas von unserem derzeitigen Zustand wider? Ich spreche jetzt als Hindu. Ist es gut, daß die Gassen in unserem heiligen Tempel so verdreckt sind? Die Häuser im Umkreis sind querbeet gebaut worden. Die Gassen sind quälend eng. Wenn schon unsere heiligen Stätten ein Beispiel an Enge und Schmutz sind, wie kann dann unsere Selbst-Regierung anders sein? Werden unsere Tempel automatisch zu Heimstätten des Heiligen, Reinen und Friedvollen, sobald die Briten mit Sack und Pack Indien verlassen haben, ob nun aus eigenem Antrieb oder durch unseren Druck?

Ich stimme voll und ganz mit dem Congress-Präsidenten überein, daß wir die nötigen Verantwortlichkeiten erlernen müssen, bevor wir an Selbst-Regierung denken können. In jeder unserer Städte gibt es neben akzeptablen Stadtvierteln auch noch Slums. Meist ist die Stadt ein stinkender Moloch. Wenn wir die Städte zu wirklichem Leben erwecken wollen, können wir nicht einfach das leichtfertige Dorfleben fortsetzen. Es ist nicht gerade angenehm zu sehen, daß sich die Menschen auf den Straßen Bombays ständig davor in Acht nehmen müssen, nicht von den Spucksalven aus den hochgeschoßigen Häusern getroffen zu werden. Ich fahre viel mit der Bahn umher. Dabei beobachte ich die Beschwernisse, die die Reisenden in der dritten Klassen auf sich nehmen müssen. Den Bahnbediensteten kann da auch nicht immer für alle Vorkommnisse die Schuld gegeben werden. Wir verhalten uns so, daß wir nicht einmal die hygienischen Mindestanforderungen erfüllen. Überallhin spucken wir aus und denken nicht daran, daß der Waggonboden anderen vielleicht als Schlafplatz dienen soll. Uns schert das nicht und das Ergebnis ist ein unbeschreibbarer Schmutz in den Abteilen. Und die Passagiere der sogenannten besseren Klassen schüren ihre Vorurteile gegen ihre weniger vom Glück begünstigten Brüder. Unter ihnen sah ich auch Studenten. Und manchmal haben sie sich nicht besser benommen. Sie beherrschen Englisch und tragen Norfolk-Jacken und meinen, dadurch hätten sie das Recht, sich ihren Weg zu bahnen und Sitzplätze zu beanspruchen. Ich finde es wichtig das zu beleuchten, und da ihr mir die Ehre erwiesen habt, zu euch zu sprechen, lege ich mein Herz offen. Denn selbstverständlich müssen wir dieses Verhalten ändern, auf unserem Weg zur Selbst-Regierung.

Nun mache ich euch mit einem anderen Milieu bekannt. Seine Majestät der Maharaja, der die gestrigen Beratungen hier leitete, sprach über Indiens Armut. Auch andere Redner machten davon großes Aufheben. Doch was mußten wir erleben, als die Einweihungszeremonie in Anwesenheit des Vizekönigs stattfand? Natürlich eine prunkvolle Show, eine Zurschaustellung von Juwelen – ein Augenschmaus für den Großjuwelier, der aus Paris gekommen war. Nun vergleiche ich einmal die so reichhaltig geschmückten Adligen mit den Millionen unserer Armen. Und ich fühle, daß ich zu diesen Notablen sagen muß: „Es gibt keine Freiheit für Indien, solange ihr eure Juwelen tragt und sie euren indischen Landsleuten vorenthaltet.“ („Hört, Hört“ und Applaus.) Ich bin sicher, es ist nicht der Wunsch des Königs oder von Lord Hardinge, daß die Loyalität zum König es gebiete, unsere Juwelenkästchen zu leeren uns damit von Kopf bis Fuß zu behängen. Ich würde auf eigene Gefahr die Ansicht von König George dazu einholen, daß er nichts dergleichen gebietet.

Eure Majestät (3), immer wenn ich von einem großen Palast erfahre, der in einer indischen Stadt gebaut wird, ob nun in Britisch-Indien oder im Indien der Fürstentümer, werde ich sofort eifersüchtig und sage: „Es ist das Geld von den Bauern.“ Mehr als 75 Prozent der Bevölkerung sind Bauern und Mr. Higginbotham hat uns gestern in seiner eigenen, treffend formulierten Sprache gesagt, daß es die Bauern sind, die zwei Grashalme auf einer Fläche anbauen, die gerade groß genug für einen ist. Es kann nicht viel Geist der Selbst-Regierung in uns sein, wenn wir anderen erlauben, den Bauern nahezu die vollständigen Erträge ihrer Arbeit wegzunehmen. Unsere Befreiung kann nur durch die Bauern kommen. Weder die Anwälte, noch die Ärzte, noch die reichen Großgrundbesitzer können sie uns bringen.

Zum Schluß nun bin ich verpflichtet, das aufzugreifen, was uns allen während dieser zwei oder drei Tage durch den Kopf ging. Wir alle erlebten angstvolle Augenblicke, als der Vizekönig durch die Straßen von Benares ging. Es waren viele Polizisten auf vielen Plätzen aufgefahren. Wir waren schockiert. Wir fragten uns: „Warum dieses Mißtrauen? Wäre es nicht sogar besser für Lord Hardinge, wenn er sterben müßte, anstatt auf diese Weise lebendig begraben zu sein?“ Doch nein, ein Repräsentant des mächtigen Souveräns kann dieses Risiko nicht eingehen. Er mag es sogar notwendig finden, lebendig begraben zu sein. Aber warum war es notwendig, gegen uns diese viele Polizei aufzufahren?

Wir mögen vor Wut schäumen, wir mögen uns ärgern, wir mögen das übelnehmen, doch wir sollten nicht vergessen, daß das heutige Indien in seiner Ungeduld eine Armee von Anarchisten hervorgebracht hat. Ich selbst bin Anarchist, aber von einer anderen Art. Denn es gibt eine bestimmte Strömung von Anarchisten unter uns, zu denen ich sagen würde, wenn es mir möglich wäre, sie zu erreichen, daß für ihre Form des Anarchismus kein Platz ist in einem Indien, welches den Eroberer bekämpft. Sie sind ein Zeichen der Angst. Wenn wir jedoch Gott vertrauen, brauchen wir vor niemandem Angst haben, weder vor den Maharajas, noch vor den Vizekönigen, noch vor den Polizisten, nicht einmal vor König George. Ich achte diesen Anarchisten für seine Liebe fürs Land. Ich achte seinen Mut und seine Entschlossenheit, für dieses Land zu sterben, aber ich frage ihn: Ist das Töten ehrbar? Ist der Dolch des Attentäters ein angemessener Grund für einen ehrbaren Tod? Ich verneine das. Es gibt keine Rechtfertigung für solche Mittel in irgendeiner Schrift. Wenn ich es für die Befreiung Indiens notwendig fände, daß die Briten sich zurückzögen, daß sie rausgeschmissen werden müßten, würde ich nicht zögern zu erklären, daß sie gehen müßten und ich hoffe, ich wäre fähig für dieses Ziel mein Leben einzusetzen. Das wäre meiner Ansicht nach ein ehrbarer Tod. Der Bombenwerfer aber braucht die geheime Verschwörung, meidet die Öffentlichkeit und zahlt bei einer Festnahme den Preis für seinen fehlgeleiteten Eifer. Man hat mir entgegengehalten: „Hätten wir das nicht getan, hätten einige nicht Bomben geworfen, hätten wir niemals irgendwelche Erfolge in der Bewegung gegen die Teilung Bengalens erzielt.“ (4) (Frau Besant: „Hören Sie damit auf.“) (Gandhi an Frau Besant:) Diese Dinge habe ich auch in Bengalen bei einer Versammlung unter Vorsitz von Mr. Lyons diskutiert. (5) Ich denke, daß das notwendig ist. Wenn mir das Wort entzogen wird, werde ich das akzeptieren. (Dreht sich zum Vorsitzenden.) Ich erwarte Ihre Anweisung. Wenn Sie meine Ansprache als dem Land und dem Imperium nicht dienlich empfinden, werde ich abbrechen. (Zurufe: „Weiter sprechen!“) (Vorsitzender: „Bitte erklären Sie ihre Ausführungen.“) Ich erkläre ja meine Ausführungen. Ich bin nur… (Weitere Unterbrechung.)

(Ans Publikum:) Meine Freunde, bitte ärgert euch nicht über diese Unterbrechung. Wenn Frau Besant heute abend meint, ich solle aufhören, dann tut sie das, weil sie Indien auf solche Weise liebt, daß sie glaubt, ich würde einen Fehler begehen, so deutlich vor euch Jugendlichen zu reden. Wie dem auch sei, ich will Indien ja nur von dieser Atmosphäre des Mißtrauens auf allen Seiten reinigen. Wenn wir unser Ziel erreichen wollen, sollten wir ein Imperium haben, das auf gegenseitiger Liebe und auf gegenseitigem Vertrauen basiert. Ist es nicht besser, wir diskutieren auf ehrliche Weise unter dem Dach dieser Universität anstatt auf unverantwortliche Weise in unseren Familien? Ich denke, es ist viel besser, daß wir diese Dinge frei und offen diskutieren. Und ich habe das bereits bei früheren Gelegenheiten getan, mit exzellenten Ergebnissen übrigens. Ich weiß, es gibt nichts, was die Studenten nicht diskutieren. Es gibt nichts, was die Studenten nicht wissen. Deshalb beleuchte ich unseren eigenen gegenwärtigen Zustand. Mir ist das Schicksal dieses Landes so lieb und teuer, daß ich diese Gedanken mit euch austausche und euch die Frage stelle, ob es keinen Grund für Anarchismus in Indien gibt. Laßt uns frei und offen sagen, was immer wir unseren Regierenden sagen wollen und laßt uns den Folgen entgegensehen, wenn es ihnen nicht gefällt. Aber mißbrauchen wir die Redefreiheit nicht. Ich sprach einmal mit einem Mitglied des stark diskreditierten Civil Service (6) Ich habe mit den höheren zivilen Verwaltungsbeamten nicht viel gemein, aber ich konnte nicht umhin, die Art wie er zu mir sprach zu bewundern. Er sagte: „Herr Gandhi, hatten Sie je die Überzeugung, wir alle, die höheren zivilen Beamten, seien ein schlimmer Haufen, daß wir die Menschen unterdrücken wollen, die wir regieren?“ „Nein“, sagte ich. „Dann bitte ich Sie, wenn sie einmal die Gelegenheit dazu haben, legen Sie doch ein gutes Wort für den diskreditierten Civil Service ein.“ Hier bin ich nun, um dieses gute Wort einzulegen. Ja, viele Angestellte des Indian Civil Service sind ganz bewußt anmaßend, sie benehmen sich tyrannisch, oftmals gedankenlos. Viele weitere Adjektive könnte ich anführen. Ich weiß um diese Dinge und ich weiß auch darum, daß einige von ihnen nach einigen Jahren Dienstes in Indien irgendwie herabgewürdigt werden. Aber was sagt uns das? Sie waren Gentlemen als sie hierherkamen. Wenn sie einen Teil ihres moralischen Charakters aufgegeben haben, reflektiert das nur unseren eigenen Zustand. (Zurufe: „Nein“.) Denkt nur an euch selbst: wenn ein Mensch, der gestern noch freundlich gewesen, jähzornig wurde, nachdem er mich getroffen hat, ist er dafür verantwortlich, daß er sich so gewandelt hat oder bin ich es nicht selbst? Die Atmosphäre des Kriechertums und der Lüge, die die Civil-Service-Leute empfängt, wenn sie nach Indien zurückkehren, demoralisiert sie. Und auch uns würde das demoralisieren. Manchmal ist es besser, sich selbst die Verantwortlichkeit aufzubürden. Wenn wir die Selbst-Regierung erreichen wollen, müssen wir uns verantwortlich verhalten. Sonst bekommen wir nie die Selbst-Regierung. Seht auf die Geschichte des britischen Imperiums und der britischen Nation. Freiheitsliebend wie sie ist, will sie ihrerseits die Freiheit keinem Volk gewähren, das sie nicht selbst nimmt. Zieht euren Lehren, wenn ihr wollt, aus dem Burenkrieg. Diejenigen, die die Feinde des Imperiums waren, sind nur wenige Jahre später seine Freunde geworden… (erneute Unterbrechung.)“

(An diesem Punkt „machten Frau Besant und einige Fürsten Anstalten, das Podium zu verlassen. Gandhi mußte seine Ansprache abbrechen. Danach stellte er Frau Besant in einem Privatgespräch zur Rede und meinte, sie hätte ihn doch ausreden lassen und sich anschließend von seinen Aussagen distanzieren können. Sie aber entgegnete ihm, er habe nicht das Recht gehabt, als geladener Gast alle, die mit auf dem Podium saßen, auf diese Weise zu kompromittieren.“ Nach D. Rothermund: Mahatma Gandhi, München 1989, S.88f)

(1) J.C. Bose, zeitgenössischer indischer Botaniker, d. Ü.

(2) P.C. Ray, zeitgenössischer indischer Chemiker, d. Ü.

(3) wohl an den präsidierenden Maharaja von Darbhanga gewandt, d.Ü.

(4) Die erste Teilung Bengalens durch die Kolonialmacht ungefähr in der Größenordnung der späteren Teilung in Westbengalen/Indien und Ostbengalen/heutiges Bangla Desh wurde 1905 dekretiert und nach sowohl bewaffnetem wie unbewaffnetem Widerstand im Dezember 1911 vorläufig wiederaufgehoben, d.Ü.

(5) Gandhi bezieht sich auf eine am 31.3.1915 gehaltene "Ansprache in Student’s Hall, Calcutta"/Bengalen, d.Ü.

(6) Indische Verwaltungsbeamte des gehobenen Dienstes, Ausbildung in England; d.Ü.

Übersetzt nach Collected Works XIII, Ahmedabad 1964, S.210-216.

Es wird bewußt auf Feminisierung des Textes verzichtet, weil davon ausgegangen wird, daß sie nicht dem damaligen Bewußtseinsstand Gandhis entsprechen würde, d.Ü.