nachruf

Nachruf auf Ernst Jandl

| Joseph Steinbeiß

„Die Biographie eines Dichters sind seine Gedichte.“ – Jewgeni Jetuschenko
„Die Welt ist laut – laut ist schön.“ – Ernst Jandl

Ernst Jandl ist tot. Ganzundgartot.

Es gibt Dinge, die gehören sich einfach nicht!

Komme mir keiner mit einer handvoll überreifer Pflaumen aus dem Platitüdenpark: von wegen, seine Gedichte werden „ewig leben“. Komme mir keiner mit einer verkratzten Quartplatte und erkläre, Ernst Jandl sei doch da. Manche Dichter haben nicht zu sterben! „Jandls Texte“, schreibt sein Kollege und Geistesbruder Franz Mon, „sind mit Jandls Zunge genäht. Es gehört der stimmliche Vollzug, das Lautwerden und Hörbarmachen substantiell zu seinen Texten dazu“. Wer soll sie nun lesen? Wer soll schwitzen, sich die hohe Stirn reiben, die enorme Brille zurechtrücken und Lyrik vortragen, die in der deutschsprachigen Literatur nicht ihresgleichen hat? „Nach Ernst Jandl“, schrieb schon vor Jahren ein Kritiker, „kann niemand mehr Gedichte schreiben wie bisher“. Bitteschneuzweidreivierfünfsechssiebenachtneunzehn: Ernst Jandl ist tot.

1.
Traurigsein
heißt nicht gut ausatmen können
und nicht spüren wie etwas schmeckt
außer Traurigsein

Ernst Jandl wird am 1. August 1925 in Wien geboren. Die Familie lebt zunächst in mäßigem Wohlstand – Victor Jandl ist Bankangestellter – und ist durchaus aufgeschlossen für Kunst und Literatur. Dann verschlechtert sich die Lage. Die Wirtschaftskrise stürzt die Jandls in den Ruin. 1932, drei Jahre nach der Geburt des dritten Sohnes Hermann, erkrankt die Mutter, Luise, an Myasthenia gravis, einem tödlichen Nervenleiden. Sie beginnt zu schreiben, Gedichte und kurze Prosa. Der älteste Sohn, Ernst, schaut ihr interessiert zu. Aber auch ihr Katholizismus nimmt mit dem Fortschreiten der Krankheit immer rigidere Formen an:

fragment

wenn die rett
es wird bal
übermor
bis die atombo
ja herr pfa

1938 marschieren Hitler-Truppen in Österreich ein – der „Anschluß“ ist da. Jandls jüdische MitschülerInnen „verschwinden“. Junge Lehrer werden an die Front geholt und durch ältere Kollegen ersetzt. Trotzdem entgeht Jandl der nationalsozialistischen Indoktrination. Auf geheimen Zusammenkünften lesen er und seine Freunde expressionistische Literatur und entdecken Jazz und atonale Musik. 1940 stirbt, mit gerade einmal 39 Jahren, Luise Jandl. Im Herbst 1943 wird Ernst Jandl zur Wehrmacht eingezogen. Im Frühherbst 1944 kommt er an die Front – nach Westen. Der Neunzehnjährige hält sich an Gleichgesinnte, militärischer Ehrgeiz ist ihm fremd. Den Krieg verabscheut er:

falamaleikum

falamaleikum
falamaleitum
falnamaleutum
fallnamalsooovielleutum
wennabereinmalderkrieglanggenugausist
sindallewiederda.
oderfehlteiner?

Das Kriegsende erlebt Ernst Jandl in englischer Gefangenschaft. Wieder in Freiheit, schreibt er sich in Wien für die Fächer Germanistik und Anglistik ein. 1949 legt er sein Staatsexamen ab, 1950 bereits promoviert er über die Novellen Arthur Schnitzlers. Jandl wird fast sein ganzes Leben lang dem Lehrerberuf treu bleiben. Erst als ihn Alter und Krankheit dazu zwingen, gibt er widerwillig seinen „Broterwerb“ auf. Sonderurlaub für Lesungen und Vorträge läßt er sich nicht bezahlen.

1954 lernt Ernst Jandl während der 5. Österreichischen Jugendkulturwoche in Tirol Frederike Mayröcker kennen. Der „Freizeitdichter“ hatte 1952 mit viel Mühe einige seiner Texte veröffentlichen können – konventionelle Gedichte in der Nachfolge Brechts. Frederike Mayröcker dagegen gilt bereits als „arriviert“. Beide werden, künstlerisch wie menschlich, ein Paar. Die Partnerschaft ist nicht frei von Stürmen und Turbulenzen:

demokratie

unsere Ansichten
gehen als Freunde auseinander

Ernst Jandl unterrichtet am Bundesrealgymnasium Wien 4 Englisch und Deutsch. Von den herkömmlicheren Lyrikformen verabschiedet er sich, es entstehen die bahnbrechenden „Sprechgedichte“. 1956 erscheint sein erster Gedichtband „Andere Augen“. In den folgenden zehn Jahren wird Jandl sich vergeblich um einen Verlag bemühen. Bei Suhrkamp wird ihm bescheinigt, er sei „ein Dichter ohne Sprache“. Jandl wird später, in seiner zweiten Frankfurter Poetik-Vorlesung, darauf antworten: „Die Sprache gehört mir nicht, diese meine deutsche Sprache gehört mir nicht. Sie gehört allen“.

2.
Traurigsein
heißt vielleicht mehr bemerken
von dem was traurig ist
als vor dem Traurigsein

Nein, in den fünfziger Jahren herrscht kein gutes Klima für experimentelle Literatur. Über den Versen hockt die alles überragende Gestalt Gottfried Benns auf einem „Olymp des Scheins“. Der Übervater und Nazi-Sympathisant entwickelt in den Nachkriegsjahren in Deutschland eine ungeheuer einflußreiche Poetik: Dichtung habe „Form“ und „Schönheit“ zu sein, die „Wahrheit“ aber sei zu „erledigen“. Es ist die Zeit des apolitischen, wirklichkeitsblinden Gesäusels in der deutschen Literatur; die Stunde der „inneren Emigranten“; des verräterischen Streits um eine Rückkehr Thomas Manns; von Bergengruen, Weinheber und Carossa in deutschen Schulbüchern.

Eine ganze Generation junger SchriftstellerInnen wird gegen erstickenden Rosendunst und Wirklichkeitsverlust aufbegehren. „Jedes vollkommene Kunstwerk ist ein gelungener Ausbruch aus der Blindheit der reinen, sich selbst genügenden Form“, schreibt Alfred Andersch 1956. Und im berühmten „Manifest“ von Wolfgang Borchert findet sich schon 1947 ein Satz, der wie mit dem Finger auf Ernst Jandl zu zeigen scheint: „Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns die Geduld“.

Ernst Jandls Gedichte sind Sprechgedichte. Auf Lesereisen vermag er, wenn auch mühevoll, dem Publikum näher zu kommen. 1966 riskiert es Klaus Wagenbach, eine Sprechplatte mit Gedichten aus dem Band „Laut und Luise“ zu veröffentlichen. Daß die Platte ein Erfolg wird, teilt Wagenbach seinem neuen Autor gerne und sofort mit. Den Grund für den Erfolg mag er nicht berichten: „Wir haben natürlich nach den Gründen für (den) Erfolg geforscht, das Ergebnis aber zuerst geheimgehalten und dann nur dosiert an den Autor weitergegeben, weil es ihm offensichtlich nicht gefiel: die Platte war ein Hit bei Kindern! Da aber in der Folge die Kinder andere Kinder anstifteten, ihre Eltern zum Kauf der Platte anzustiften, verbreitete sich die Platte auch unter Erwachsenen, so daß wir langsam mit den Dosierungen gegenüber dem Autor aufhören und die Sprachregelung einführen konnten: ‚Die Platte hat Erfolg bei Kindern und Erwachsenen'“.

Die komische Wirkung vieler seiner Texte bleibt für Jandl Zeit Lebens ein Ärgernis – wenn auch kein großes. „warum o warum du dich nicht halten denn dann an sprachen“. Es ärgert ihn, daß man seine Sprech – und Lautgedichte als verspielten Klamauk abzutun geneigt ist. Helmut Heissenbüttel hat vielleicht am besten auf das zugrunde liegende Missverständnis hingewiesen: „Es wird (…) deutlich, warum Ernst Jandl seit ‚Laut und Luise‘ als Komiker mißverstanden worden ist. Das liegt nicht an ihm und dem, was er verfaßt hat, sondern daran, daß Leser und Hörer seiner Poesie daran gewöhnt waren und sind, daß die sprachlichen Elemente, die er zum Reden bringt, zum Zweck des komischen Effekts verwendet werden. Was die Komik nicht mindert, die mitspielt, aber sie ist weder das Ziel noch der Mittelpunkt der Jandlschen Gedichte“.

3.
Traurigsein
heißt nicht Traurigseinwollen
und nicht Unglücklichseinwollen
und auch nicht Glücklichseinwollen

„Meine These“, sagt Ernst Jandl, „ist, daß ich mit der Sprache anfangen kann, was ich will. Alles, was die Sprache mit sich anfangen läßt“. In seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen erläutert er Methode und Ziel seines dichterischen Arbeitens. „Das Röcheln der Mona Lisa“, Titel eines berühmten Hörspieles von Jandl und Mayröcker, ist programmatisch für Jandls künstlerisches Selbstverständnis: es ist das „Verröcheln“ des Bennschen Schönheitskultes. „Aber zu welchem Zweck soll das Schöne zerstört werden? Gewiß doch zum Zweck der Erreichung von Kunst“. Die wieder in eigenes Recht gesetzte Sprache, Laute, die dem Körper zurückgegeben, der Stimme des Lesenden unterstellt werden – all das ist für Ernst Jandl im Gegensatz zu einigen seiner KollegInnen wie Rühm oder H.C. Artmann nicht sich selbst genügende, gewissermaßen schon per se aufklärerische Spielerei. Dadaismus, konkrete Poesie, Phonologie und Morphologie der Linguistik, all das macht Jandl in vollendeter Form seinem eigentlichen Ansinnen dienstbar: „Die Veränderungen der Sprache bedeuten Veränderungen der Weltinterpretation“, sagt Heissenbüttel. Oder, mit Jandls eigenen Worten zu reden: „Das Material ist dasselbe, aber die Gewöhnung daran muß aufhören, alle Gewöhnung daran muß aufhören, wo Poesie beginnen soll“. Jandls Dichtung ist politische Dichtung – implizit oder explizit. 1970 schreibt der Kritiker Reinhard Baumgart: „Was hier erlebt wird, nämlich nicht mehr materielles Elend, noch weniger physische Gewalt, dafür Gängelung, Verelendung, Entfremdung des Bewußtseins, das wird heute eher registriert in einer Literatur, die scheinbar von Sprache statt von Welt handelt, die angeblich schwierig, aber trotzdem politisch ist“.

lichtung

manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht velwechsern
werch ein illtum!

Jandl selbst ist eher ein politisch konservativer Mensch, ein Freund bürgerlicher, manchmal etwas steifer Umgangsformen. Ein Deutschlehrer eben. Trotzdem bleibt er auch in stürmischen Zeiten dem linken Wagenbach-Verlag treu. Nicht aus Überzeugung, sondern weil es sich so gehört. Als der Wagenbach-Verlag in den siebziger Jahren mehrfach und mit massiver Polizeigewalt durchsucht wird, ist es Ernst Jandl, der sich als erster meldet. „Nach Abzug der Polizei und der Wiederherstellung der telefonischen Kommunikation, rief Ernst Jandl an, aus Wien, räusperte sich und fragte sehr förmlich: ‚Herr Doktor, ich höre, bei ihnen war die Polizei?‘ Ich bejahte, ebenfalls ganz förmlich, und er fuhr fort, nur um eine Winzigkeit weniger förmlich: ‚Das tut mir aber leid!'“

In späten Jahren erhält Jandl die Anerkennung, die ihm in den fünfziger Jahren versagt geblieben ist. Er erhält Literaturpreise, arbeitet erfolgreich für das Theater. Seine späten Gedichte verlieren den spielerischen Touch. Sie werden düster, verzweifelt, hart. Die letzten Aufnahmen Ernst Jandls – kein deutschsprachiger Dichter hat je so viele Schallplatten besprochen! – sind beklemmend und schmerzlich zu hören. Auch künstlerisch vermögen sie nicht mehr uneingeschränkt zu überzeugen.

Er wäre dieses Jahr 75 Jahre alt geworden. Es kommt anders. Ernst Jandl stirbt nach langer Krankheit am 9. Juni 2000 in Wien.

Es bleibt so vieles.
Nun soll Zeit bleiben.
Ernst Jandl ist tot.
Ganzundgartot:

Traurigsein
heißt überhaupt nichts wollen
und auch nichts nichtwollen
Es heißt nur Traurigsein.