anarchismus

Vor 80 Jahren: Kronstadt!

Victor Serge erinnert sich an den Aufstand und dessen Niederschlagung

| Victor Serge, 1943

Kronstadt ist eine kleine Garnisonsstadt auf einer Meeresinsel kurz vor Petrograd, dem zwischenzeitlichen Leningrad, gelegen. 1921 entsprang dort der in Repression und Bürgerkriegswirren gefangenen russischen Revolution der letzte Hoffnungsfunke: der Schrei nach einer erneuerten Revolution, nach freien Sowjetwahlen, nach einem freiheitlichen Sozialismus erklang. Er wurde von den herrschenden Bolschewiki in Blut erstickt. Seither ist Kronstadt zum Symbol der uneingelösten Hoffnungen anarchistischer Bewegungen in ihrer Auseinandersetzung mit dem orthodoxen Marxismus geworden. Das gilt auch für revolutionäre Bewegungen in der Zukunft: hinter Kronstadt können wir Libertären nicht zurück! Im folgenden bringen wir die Kronstadt und seine Verarbeitung betreffenden Auszüge aus den Lebenserinnerungen des jüdisch-französisch-russischen Revolutionärs Victor Serge (1890-1947), der den Aufstand damals in Petrograd als eines der wenigen selbstkritischen Parteimitglieder erlebte. Serge wurde 1927 zusammen mit Trotzki als Linksabweichler aus der Partei gedrängt, überlebte aufgrund seiner Popularität in Frankreich nach dreijähriger Haft 1933-36 in der Sowjetunion den stalinistischen Terror und ging Anfang der vierziger Jahre ins mexikanische Exil, wo er 1942/43 seine Lebenserinnerungen niederschrieb. (Red.)

In der Nacht vom 28. auf den 29. Februar (1921; Red.) weckte mich ein Telefonanruf aus einem Nachbarzimmer im Astoria (1). Eine bewegte Stimme sagte: „Kronstadt ist in der Hand der Weißen. Wir sind alle mobilisiert.“ Der mir diese furchtbare Nachricht übermittelte – furchtbar war sie, weil sie den unmittelbar bevorstehenden Fall Petrograds ankündigte – war der Schwager Sinowjews (2), Ilija Jonow.

„Was für Weiße? Woher kommen sie? Das ist ja unglaublich!“
„Ein General Koslowski …“
„Und unsere Matrosen? Der Sowjet? Die Tscheka (Geheimdienst; Red.)? Die Arbeiter im Arsenal?“
„Ich weiß nichts weiter.“

Sinowjew war in einer Besprechung mit dem Revolutionsrat der Armee. Ich eilte zum Komitee des II. Bezirks. Ich sah nichts als düstere Mienen. „Es ist unbegreiflich, aber es ist so …“ „Nun gut“, sagte ich, „wir müssen sofort alle mobilisieren!“ Man antwortete mir ausweichend, das werde geschehen, aber man warte auf die Anweisungen des Petrograder Komitees. Den Rest der Nacht verbrachte ich mit einigen Genossen damit, die Karte des finnischen Meerbusens zu studieren. Wir erfuhren, daß sich während dessen in den Vorstädten eine Menge kleine Streiks ausbreiteten. Die Weißen vor uns, Hunger und Streiks hinter uns! Als ich im Morgengrauen hinausging, sah ich eine alte Dienstmagd aus dem Hotelpersonal, die sich verstohlen mit Paketen davon machte.

„Wohin gehst du denn so früh am Morgen, Mütterchen?“
„Es riecht nach Unheil in der Stadt. Sie werden euch Ärmste alle abschlachten, sie werden wieder einmal alles plündern. Darum bringe ich meine Sachen weg.“

Kleine Plakate an den Mauern in den noch verlassenen Straßen verkündeten, daß sich der konterrevolutionäre General Koslowski durch Verschwörung und Verrat Kronstadts bemächtigt habe, und rief das Proletariat zu den Waffen. Aber noch bevor ich zum Bezirkskomitee zurückkam, begegnete ich Genossen, die mit ihren Mauserpistolen herbeieilten und mir sagten, es sei eine abscheuliche Lüge, die Matrosen hätten gemeutert, es sei eine Revolte der Flotte, die von dem Sowjet geleitet werde. Das war vielleicht nicht weniger ernst; im Gegenteil. Das Schlimmste war, daß uns die offizielle Lüge lähmte. Daß uns die eigene Partei derart belog, das war noch nie vorgekommen. „Es muß sein“, sagten manche, wenngleich niedergeschlagen, „wegen der Bevölkerung …“ Der Streik war fast allgemein. Man wußte nicht, ob die Straßenbahn fahren werde.

Am gleichen Tag beschlossen meine Freunde von der Gruppe der Kommunisten französischer Sprache und ich, daß wir nicht die Waffen ergreifen und uns weder gegen ausgehungerte Streikende noch gegen Matrosen schlagen wollten, die mit ihrer Geduld am Ende waren. In (der Vorstadt; Red.) Wassili-Ostrow sah ich auf der schneebedeckten Straße eine Menschenmenge, hauptsächlich aus Frauen bestehend, die sich durch langsamen stetigen Druck mit den Offiziersanwärtern der Kriegsschule vermischten, die man hingeschickt hatte, um die Eingänge der Fabrik freizuhalten. Eine ruhige, traurige Menge, die mit den Soldaten über die Not sprach, sie Brüder nannte und sie um Hilfe bat. Die Kadetten holten Brot aus ihren Taschen und verteilten es. Man schrieb die Organisation des Generalstreiks den Menschewiken (3) und den linken Sozialrevolutionären zu.

Das Programm der Erneuerung

Flugschriften, die in den Vorstädten verteilt wurden, gaben die Forderungen des Kronstadter Sojwets bekannt. Es war das Programm einer Erneuerung der Revolution. Ich fasse zusammen: Neuwahl der Sowjets mit geheimer Abstimmung; Rede- und Pressefreiheit für alle revolutionäre Parteien und Gruppen; Gewerkschaftsfreiheit, Freilassung der revolutionären politischen Gefangenen; Abschaffung der offiziellen Propaganda; Einstellung der Requisitionen (4) auf dem Lande; Freiheit des Handwerks; sofortige Zurückziehung der Sperrkommandos, die die Bevölkerung hinderten sich selbst zu versorgen. Der Sowjet, die Garnison Kronstadt und die Schiffsbesatzungen des ersten und zweiten Geschwaders erhoben sich, um dieses Programm zum Sieg zu führen.

Die Wahrheit sickerte allmählich durch, von Stunde zu Stunde, durch den Nebelvorhang der buchstäblich in Lügen schwelgenden Presse. Und das war unsere Presse, die Presse unserer Revolution, die erste sozialistische, das heißt unbestechliche und uneigennützige Presse der Welt! Sie hatte vorher gelegentlich Demagogie getrieben, eine leidenschaftlich aufrichtige Demagogie übrigens, und hatte die Gegner heftig angegriffen. Das konnte ein gutes Kriegsrecht sein, jedenfalls verständlich. Jetzt log sie systematisch. Die Petrograder Prawda veröffentlichte, der Kommissar bei der Flotte und der Armee, Kusmin, sei in Kronstadt gefangengenommen und brutal mißhandelt worden und nur mit knapper Not einer sofortigen Hinrichtung entgangen, die von den Konterrevolutionären schriftlich angeordnet worden sei. Ich kannte Kusmin, seines Zeichens Studienrat, einen energischen und eifrigen Soldaten, grau vom Scheitel bis zur Sohle, von der Uniform bis zu dem runzeligen Gesicht. Er ‚entkam‘ aus Kronstadt und kehrte ins Smolny (5) zurück. „Ich kann mir gar nicht denken“, sagte ich zu ihm, „daß man Sie erschießen wollte. Haben Sie wirklich den Befehl gesehen?“ Er zögerte verwirrt. „Ach, es wird immer ein bißchen übertrieben, es gab da ein kleines Schreiben, in dem Drohungen ausgesprochen wurden …“ Kurzum, er hatte also ein wenig Angst gehabt. Aber da das aufständische Kronstadt keinen Tropfen Blut vergossen hatte, da es nur einige kommunistische Funktionäre verhaftet und schonend behandelt hatte (die große Mehrzahl der Kommunisten, mehrere Hundert, hatten sich der Bewegung angeschlossen, was die Unsicherheit der Parteibasis hinreichend beweist), erfand man das Märchen von mißlungenen Hinrichtungen.

In diesem ganzen Drama spielten die Gerüchte eine verhängnisvolle Rolle. Da die offizielle Presse alles verschwieg, was nicht Erfolg und Lobpreisung des Regimes war, und die Tscheka in völliger Dunkelheit agierte, entstanden jeden Augenblick Katastrophengerüchte. Im Gefolge der Streiks in Petrograd war in Kronstadt das Gerücht aufgekommen, Streikende würden in Massen verhaftet und in den Fabriken schreite das Militär ein. Im großen Ganzen war das nicht wahr, obwohl die Tscheka zweifellos nach ihrer Gewohnheit törichte Verhaftungen vorgenommen hatte, die im allgemeinen freilich von kurzer Dauer waren. Ich sah fast täglich den Sekretär des Petrograder Komitees, Sergej Sorin, und ich wußte, wie sehr ihn der Aufruhr beunruhigte, wie fest er entschlossen war, gegen Arbeiter keine Gewaltmaßnahmen anzuwenden und daß ihm unter den gegebenen Umständen als einzige wirksame Waffe die Agitation erschien: um sie zu verstärken, besorgte er sich Waggons mit Lebensmitteln. Er erzählte mir lachend, wie er selbst in ein Viertel geraten sei, wo die rechten Sozialrevolutionäre die Leute dazu gebracht hatten, zu rufen: „Hoch die Konstituante!“ (das hieß, richtig übersetzt: „Nieder mit dem Bolschewismus!“) „Ich verkündete“, sagte er, „das Eintreffen mehrerer Waggons mit Lebensmitteln und hatte die Situation im Nu zu meinen Gunsten gewendet.“ Auf jeden Fall begann die Gehorsamsverweigerung in Kronstadt mit einer Bewegung der Solidarität mit den Streiks in Petrograd und auf Grund von im Ganzen falschen Gerüchten über Gewaltmaßnahmen.

Die Hauptschuldigen, deren brutale Ungeschicklichkeit die Rebellion heraufbeschworen hatte, waren Kalinin und Kusmin. Von der Garnison Kronstadt mit Musik und Willkommensgrüßen empfangen, hatte Kalinin, der Vorsitzende der Exekutive der Republik, der über die Forderungen der Matrosen unterrichtet war, sie Faulpelze, Egoisten, Verräter genannt und mit unnachsichtlicher Bestrafung gedroht. Kusmin rief, Disziplinlosigkeit und Verrat würden von der eisernen Hand der Diktatur des Proletariats zerschmettert werden. Sie wurden mit Gejohle weggejagt; der Bruch war vollzogen. Wahrscheinlich war es Kalinin, der, nach Petrograd zurückgekehrt, den ‚weißen General Koslowski‘ erfand. Obgleich es also leicht gewesen wäre, den Konflikt beizulegen, wollten die bolschewistischen Chefs vom ersten Augenblick an nur mit Gewalt vorgehen. Wir erfuhren in der Folge, daß die ganze Delegation, die von Kronstadt zu dem Sowjet und der Bevölkerung von Petrograd geschickt worden war, um sie über den Streitfall zu unterrichten, in den Gefängnissen der Tscheka saß.

Das Scheitern der Vermittlung und die Niederschlagung

Der Gedanke einer Vermittlung bildete sich im Laufe der Unterhaltungen, die ich jeden Abend mit amerikanischen Anarchisten hatte, die kürzlich angekommen waren: Emma Goldman, Alexander Berkman und dem jungen Sekretär der Union der russischen Arbeiter in den Vereinigten Staaten, Perkus. Ich sprach mit einigen Genossen in der Partei darüber. Sie antworteten mir: „Das wird nichts helfen, und wir sind durch die Parteidisziplin gebunden, und du auch.“ Ich erregte mich: „Man kann aus einer Partei austreten!“ Sie erwiderten mir kalt und traurig: „Ein Bolschewik verläßt seine Partei nicht. Und du, wo willst du denn hin? Wir sind trotz allem die einzigen.“ Die Gruppe der anarchistischen Vermittlung versammelte sich bei meinem Schwiegervater, Alexander Russakow. Ich wohnte dieser Zusammenkunft nicht bei, denn es war beschlossen worden, nur die Anarchisten sollten die Initiative ergreifen, wegen des Einflusses, den sie im Schoße des Kronstadter Sowjets hatten, und nur die amerikanischen Anarchisten sollten gegenüber der Sowjetregierung die Verantwortung übernehmen. Emma Goldman und Alexander Berkman wurden von Sinowjew sehr freundlich empfangen und konnten das Machtwort einer immer noch bedeutenden Fraktion des internationalen Proletariats aussprechen. Ihre Vermittlung scheiterte total. Sinowjew bot ihnen im Gegenteil alle Erleichterungen an, damit sie in einem Sonderwaggon ganz Rußland besichtigen könnten. „Sehen Sie selbst und Sie werden verstehen …“

Von den russischen ‚Vermittlern‘ wurde die Mehrzahl verhaftet, ich ausgenommen. Ich verdanke diese Nachsicht der Sympathie Sinowjews, Sorins und einiger anderer, und auch meiner Eigenschaft als Aktiver der französischen Arbeiterbewegung.

Nach langem Zögern und mit unaussprechlicher Herzensangst erklärten wir, meine kommunistischen Freunde und ich, uns schließlich für die Partei. Hier die Gründe. Kronstadt war im Recht. Kronstadt begann eine neue befreiende Revolution, die der Volksdemokratie. „Die III. Revolution!“ sagten einige Anarchisten, die mit kindlichen Illusionen vollgestopft waren. Allein, das Land war völlig erschöpft, die Produktion stand fast völlig still, es gab keine Reserven irgendwelcher Art mehr, nicht einmal Reserven an Nervenstärke in der Seele der Massen. Die Elite des Proletariats, die in den Kämpfen mit dem Zarenregime geprägt worden war, war buchstäblich dezimiert. Die Partei, die durch den Zulauf derer, die sich mit der Macht ausgesöhnt hatten, angewachsen war, flößte wenig Vertrauen ein. Von den anderen Parteien waren nur noch winzig kleine Kader von mehr als zweifelhafter Fähigkeit vorhanden. Sie konnten sich natürlich im Laufe von ein paar Wochen neu bilden, aber nur dadurch, daß sie Verbitterte, Unzufriedene und Aufgebrachte aufnahmen – und nicht mehr, wie 1917, Enthusiasten der jungen Revolution. Der sowjetischen Demokratie fehlte es an Schwung, an Köpfen, an Organisationen, und hinter sich hatte sie nur ausgehungerte und verzweifelte Massen. Die Konterrevolution des Volkes übersetzte die Forderung freigewählter Sowjets durch die der ‚Sowjets ohne Kommunisten‘. Wenn die Diktatur fiel, so bedeutete das in Kürze das Chaos, und durch das Chaos hindurch das Vordringen der Bauern, das Massaker der Kommunisten, die Rückkehr der Emigraten und am Ende durch die Macht der Umstände eine andere, antiproletarische Diktatur. (6) (…)

Das Politbüro beschloß, mit Kronstadt zu verhandeln, dann ein Ultimatum zu stellen und als letztes die Festung und die eingefrorenen Panzerschiffe der Flotte anzugreifen. In Wirklichkeit kam es nicht zu Verhandlungen. Ein in aufreizenden Wendungen abgefaßtes Ultimatum, von Lenin und Trotzki unterzeichnet, wurde angeschlagen: „Ergebt Euch oder Ihr werdet zusammengeknallt wie Kaninchen.“ Trotzki kam nicht nach Petrograd und sprach nur im Politbüro.

Anfang März eröffnete die rote Armee auf dem Eis den Angriff gegen Kronstadt und die Flotte. Die Artillerie der Schiffe und der Forts feuerte auf die Angreifer. Das Eis brach an verschiedenen Stellen unter der Infanterie ein, die, weißgekleidet, in mehreren Wellen vorging. Riesige Schollen kenterten und stürzten ihre menschliche Last in die schwarzen Fluten. Das war der Anfang des schlimmsten Brudermordes.

Der X. Parteikongreß, der inzwischen in Moskau zusammengetreten war, hob auf Lenins Antrag das Regime der Requisitionen auf, das heißt den ‚Kriegskommunismus‘, und verkündete die neue Wirtschaftspolitik; alle wirtschaftlichen Forderungen Kronstadts waren erfüllt! Damit wies der Kongreß die Opposition zurecht. Die Arbeiteropposition wurde als ‚anarcho-syndikalistische Abweichung‘ bezeichnet, die ‚mit der Partei unvereinbar‘ sei, obgleich sie nicht das geringste mit dem Anarchismus zu tun hatte und nur die Leitung der Produktion durch die Gewerkschaften verlangte (ein großer Schritt zur Arbeiterdemokratie). Der Kongreß machte seine Mitglieder und unter ihnen viele Oppositionelle – für die Schlacht gegen Kronstadt mobil! Der ehemalige Kronstädter Matrose Dybenko, von der äußersten Linken, und der Führer der Gruppe der ‚demokratischen Zentralisation‘, Bubnow, Schriftsteller und Soldat, kämpften auf dem Eis gegen Aufständische, denen sie innerlich recht gaben. Tuchatschewski bereitete den letzten Angriff vor. In diesen schwarzen Tagen sagte Lenin wörtlich zu einem meiner Freunde: „Das ist der Thermidor. Aber wir werden uns nicht guillotinieren lassen. Wir machen selbst Thermidor!“ (7) (…)

Victor Serge über Trotzki im Jahre 1939

In diese Zeit (1939) fällt auch mein Bruch mit Trotzki. Ich hatte mich der trotzkistischen Bewegung ferngehalten, weil ich in ihr nicht das Streben der russischen Linksopposition nach einer Erneuerung der Ideen, der Sitten und der Institutionen des Sozialismus finden konnte. In den Ländern, die ich kannte, in Belgien, Holland, Frankreich, Spanien, bildeten die Zwergparteien der ‚IV. Internationale‘ (8), von häufigen Spaltungen, und, in Paris, von jämmerlichen Streitigkeiten zerrissen, eine schwache, sektiererische Bewegung, in der, wie mir schien, kein neuer Gedanke entstehen konnte. Das Ansehen des Alten und seine unaufhörliche Arbeit allein hielten das Leben der Gruppen aufrecht, aber dieses Ansehen und die Qualität dieser Arbeit litten darunter. Schon der Gedanke, eine Internationale in dem Moment zu gründen, wo alle internationalen sozialistischen Organisationen darniederlagen, ohne irgendeine Stütze und während die Reaktion obenauf war, erschien mir unsinnig. Ich schrieb darüber an Leo Dawidowitsch (Trotzki; Red.). Uneins war ich mit ihm auch in wichtigen Fragen der Geschichte der Revolution; er wollte nicht zugeben, daß in der schrecklichen Episode von Kronstadt 1921 das bolschewistische Zentralkomitee eine sehr große Verantwortung hatte; daß die Zwangsmaßnahmen, die darauf folgten, unnötig barbarisch waren; daß die Errichtung der Tscheka (aus der später die GPU wurde) mit ihren Methoden einer geheimen Inquisition ein schwerer Fehler der führenden Männer der Revolution gewesen sei, wider den Geist des Sozialismus. (…)

Das einzige Problem, das das revolutionäre Rußland der Jahre 1917 bis 1923 niemals zu stellen wußte, ist das der Freiheit; die einzige Erklärung, die noch einmal abgegeben werden mußte und die es nicht abgegeben hat, ist die der Menschenrechte. Nichts menschlich Großes wird in Zukunft geschehen, wenn dieses Problem nicht gelöst wird. Ich legte diesen Gedanken in einem Artikel dar, Macht und Grenzen des Marxismus, den ich in Paris und New York (in Partisan Review unter dem Titel Marxism of our Time) veröffentlichte. Der Alte sah darin, in Anwendung seiner gewohnten Klischees, nichts weiter als eine ‚Kundgebung kleinbürgerlicher Demoralisierung’… Von seinen Adepten kläglich informiert, schrieb er einen langen polemischen Essay gegen mich, wobei er mir einen Artikel zuschrieb, der gar nicht von mir war und in keiner Weise meinen schon so manchesmal formulierten Gedanken entsprach. Die trotzkistischen Zeitschriften weigerten sich, meine Richtigstellung zu veröffentlichen. Ich entdeckte bei den Verfolgten dieselben Sitten wie bei den Verfolgern. Es gibt eine natürliche Logik der Ansteckung durch den Kampf, und so führte die russische Revolution gegen ihren Willen gewisse Überlieferungen des Despotismus weiter, den sie eben gestürzt hatte; der Trotzkismus entwickelte eine Mentalität, die der des Stalinismus analog war, gegen den er sich erhoben hatte und der ihn zermalmte.

(1) Im Hotel Astoria waren einige mit der sowjetischen Revolution sympathisierende ausländische Intellektuelle und RevolutionärInnen untergebracht.

(2) Grigorij Sinowjew, Vorsitzender des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale, selbst äußerst autoritär, später zusammen mit Trotzki und Serge wegen Linksabweichlertum diffamiert und schließlich 1936/37 Opfer der Moskauer Prozesse.

(3) Menschewik hiess damals "Minderheitler" und war der allgemein akzeptierte Begriff für SozialdemokratInnen.

(4) Zwangsweiser Einzug von Nahrungsmitteln.

(5) Damalige Zentrale der Bolschewistischen Partei in Petrograd.

(6) Diese von Serge beschworene Negativentwicklung war keine Notwendigkeit, wenngleich nicht unmöglich. Die Argumentation macht jedoch jede Möglichkeit zum "Sprung aus der Geschichte" zunichte. Hier bewegt sich Serge in seinen Erinnerungen am ehesten innerhalb der Orthodoxie: mit diesem Argument wurden von Kronstadt an alle linksradikalen Aufstände gegen die Orthodoxie unterdrückt, so lange bis die Aufstände kaum mehr linksradikale Inhalte hatten und dann, wie schließlich 1989 geschehen, tatsächlich nur so enden konnten, wie es der orthodoxe Kommunismus immer beschwor, Red. HD.

(7) Elfter Monat des französischen Revolutionskalenders, Mitte Juli bis Mitte August, gemeint ist hier die Schreckensherrschaft unter Robespierre, der im Juli 1793 an die Macht kam.

(8) Nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion Ende der zwanziger Jahre und nach dem Niedergang der III., der kommunistischen Internationale, rief Trotzki international zur Bildung einer trotzkistischen IV. Internationale auf.

Quelle

Victor Serge: Erinnerungen eines Revolutionärs, Hamburg 1990, S. 143-150 u. S. 392ff.