concert for anarchy

Boris Vian: Der Deserteur

| Horst Blume

Verehrter Präsident
Ich sende Euch ein Schreiben
Lest oder laßt es bleiben
Wenn Euch die Zeit sehr brennt.

Man schickt mir da, gebt acht
Die Militärpapiere
Daß ich in den Krieg marschiere
Und das vor Mittwoch nacht.

Verehrter Präsident
Das werde ich nicht machen
Das wäre ja zum Lachen
Ich hab kein Kriegstalent.

Sei´s Euch auch zum Verdruß
Ihr könnt mir´s nicht befehlen
Ich will´s Euch nicht verhehlen
Daß ich desertieren muß.

Seit ich auf Erden bin
Sah ich den Vater sterben
Sah meine Brüder sterben
Und weinen nur mein Kind.

Sah Mutters große Not
Nun liegt sie schon im Grabe
Verlacht den Bombenhagel
Und treibt mit Würmern Spott.

Als ich Gefangner war
Ging meine Frau verdienen
Ich sah nur noch Ruinen
Nichts blieb, was mir mal war.

Früh wenn die Hähne krähen
Dann schließ ich meine Türen
Und will die Toten spüren
Und auf die Straße gehen.

Ich nehm den Bettelstab
Auf meiner Tour de France
Durch Bretagne und Province
Und sag den Menschen dies:

Verweigert Krieg, Gewehr
Verweigert Waffentragen
Ihr müßt schon etwas wagen
Verweigert´s Militär.

Ihr predigt, Kompliment
Doch wollt Ihr Blut vergießen
Dann laßt das Eure fließen
Verehrter Präsident.

Sagt Eurer Polizei
Sie würde mich schon schaffen
Denn ich bin ohne Waffen
Zu schießen steht ihr frei.

(Variante zur Schlußstrophe, nur in Notfällen zu singen)

Sagt Eurer Polizei
Sie würde mich nicht schaffen
Denn ich besitze Waffen
Und schieße nicht vorbei.

(Aus Boris Vian, „Der Deserteur – Chansons, Satiren und Erzählungen“, Wagenbach Verlag, 1992)

„Abend für Abend tritt Vian nun an den Bühnenrand, mit Magenkrämpfen vor lauter Angst. Er kommt sehr früh ins Theater, obgleich sein Auftritt erst spät angesetzt ist, um sich an den Ort zu gewöhnen und sein Herzklopfen abklingen zu lassen. Nach und nach, mehr oder weniger freiwillig, versucht er dann, seine Bühnenpräsenz bewußt als Mittel einzusetzen. Wenn er so steif ist, dann kann er auch so tun, als verzichte er willentlich auf Gestik, um seine Chansons für sich selbst sprechen zu lassen“ (Philippe Boggio). Als Boris Vian 1955 in Paris auf diese Weise sein Lied „Der Deserteur“ vortrug, hatte der französische Staat gerade seine Kolonialarmee aus Indochina zurückgeholt, um sie anschließend gegen die Befreiungsbewegung in Algerien einzusetzen. Trotz des politischen Sprengstoffes, den das Chanson enthielt, war das Interesse an Vians Text ein Jahr zuvor sehr gering, so daß Jacques Canetti dem Schriftsteller riet: „Singen Sie ihre Lieder selbst.“ Zunächst sang der bekanntere Chansonnier Marcel Mouloudji bei seinen Auftritten „Le Déserteur“ mit einigem Erfolg, so daß Boris den Mut findet, selbst aufzutreten und seine anderen Texte zu singen. Bei der anschließenden Kabarett-Tournee mit anderen Künstlern hatte er einen 20-Minuten-Auftritt. Boris wirkte nach der Auffassung von Beobachtern „eher linkisch“, aber „seine knappen, sarkastischen Kommentare bewirkten bald ein engagiertes Mitgehen des Publikums“ (Klaus Völker). Philippe Boggio schreibt: „Er singt nicht, er psalmodiert. (…) Der Saal übernimmt sein Unwohlsein und spiegelt es.“

Die Rechte störte seine Auftritte

Wendepunkt der Tournee war Vians Auftritt in Nantes, als eine Gruppe von älteren Männern seinen Vortrag mit Rufen „Nach Rußland! Nach Rußland!“ – auf seinen Vornamen anspielend – unterbrach. Es handelte sich um Kriegsveteranen, denen „Der Deserteur“ nicht passte. Ein patriotischer Bürgermeister organisierte die Proteste, die von nun an Vians Auftritte begleiteten: „Bleicher als je zuvor, steht Vian da, den Blick fest in die Mitte des Saales gerichtet, und versucht halsstarrig zu singen, doch ihre Schreie übertönen seine Stimme. Da steht der Bürgermeister auf, tritt vor, hievt seine ganze Würde auf die Bühne und fordert unter allgemeinem Applaus diesen Russen, diesen Anarchisten, der reif dafür ist, an die Mauer gestellt zu werden, diesen antifranzösischen Deserteur auf, endlich abzutreten“ (Boggio). Die sich hier lautstark gebärdende nationalistische Bewegung korrespondierte stark mit dem 1953 aufkommenden „Poujadismus“, benannt nach Pierre Poujade. Es handelt sich hierbei um rückwärtsgewandte Mittelständler und Steuerrebellen, die sogar Finanzämter überfielen. 1956 zog übrigens als jüngster Abgeordneter Le Pen mit 51 anderen Mitgliedern dieser „Union zur Verteidigung der Kaufleute und Handwerker“ in das französische Parlament ein: Ein Vorläufer des Front National (FN). Und auch der spätere Le Pen-Freund Mitterand war in eben jener Zeit 1954 bis 1955 sozialistischer Innenminister Frankreichs und verfolgte eine äußerst repressive Politik gegenüber der algerischen Unabhängigkeitsbewegung. Boris Vian widmete das Chanson „Das kleine Geschäft“ Poujade und gab dessen kleingeistige, aber gefährliche Krämerseele der Lächerlichkeit preis: „Ich habe Seife verkauft. Die ist nicht gegangen.“ Und blieb bei dem Thema, das er bei „Der Deserteur“ angesprochen hatte: „Ich verkaufte Kanonen in den Straßen der Welt. Und mein Geschäft ist verdammt gut gegangen. Von allen Friedhofslieferanten bekam ich viel Geld.“

Missachtung und spätere Zensur

Obwohl „Der Deserteur“ in der Presse zu verschiedenen Diskussionen führte und es am 27. 8. 1955 zu einer Life-Aufnahme im belgischen Fernsehen kam, wurden nur ein paar hundert Schallplatten mit seinen Chansons hergestellt. Der Skandal um dieses Lied betraf zu dieser Zeit doch eher die Provinz. Erst später, als der Algerienkrieg ausbrach, wurde das Lied zensiert. Vian, der „einfach logisch und entschlossen destruktiv argumentierte, wie ein trotziges Kind, dem Begriffe wie Bürgerpflicht, Patriotismus keinen Eindruck machen können (…), trug das Chanson auch wie ein Kinderlied vor“ (Klaus Völker).

Das passte zu ihm. Bis in das junge Erwachsenenalter war er eher mit jenen „pennälerhaften Rebellen“ seiner Generation zu vergleichen, die sich den Idealvorstellungen der herrschenden Gesellschaft verweigerten. 1920 geboren und im wohlhabenden Elternhaus in einem Villenvorort von Paris aufgewachsen, beendete Boris 1942 sein Studium an der Technischen Hochschule zu einer Zeit, als Frankreich von faschistischen deutschen Truppen besetzt war. Damals wurden Jazz und Swing in bestimmten französischen Jugendcliquen populär. Boris Vian, der Trompete spielte, trat mit seiner Band auf und war begeisterter Anhänger der aus Amerika kommenden Musik. Während die Deutschen dieser unkonventionellen Bewegung wenig Beachtung schenkten und sich mehr dem Kriegsgeschehen widmeten, war der französischen Kollaborationsregierung diese „jüdisch-negroid-amerikanische“ Musik suspekt. Als 1944 Frankreich größtenteils vom Faschismus befreit war, verlangten die Veranstalter verschiedener Vergnügungsbars, in der Vians Band auftrat, von ihr das Anstimmen der alliierten Nationalhymnen. Wegen dieser Zumutung verhunzten sie in ihrer Interpretation unter Anderem die amerikanische Hymne – rund 25 Jahre vor Hendrix. Es kam zum Skandal, bei dem ihm mangelnder Patriotismus vorgeworfen wurde. Boris Vian leidete seit seiner Jugend an einer Herzmuskelschwäche. Mit seinem Ausspruch „Jeder Puster in meine Trompete verkürzt mein Leben“ kokettierte er schon früh mit dem Tod. Als Autor provozierender Romane („Ich werde auf eure Gräber spucken“) stand Boris Vian zusammen mit Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Albert Camus mitten im pulsierenden intellektuellen Leben Frankreichs und debattierte oft mit ihnen. Obwohl Boris Vian einen intensiveren persönlichen Kontakt zu Sartre hatte, verhielt sich dieser nach seiner Wahrnehmung viel zu sehr wie ein Politiker, der auffallend oft seine Meinung wechselte. Dagegen beeinflussten die Thesen von Camus in „Der Mensch in der Revolte“ Boris Vian sehr. Er betätigte sich nicht nur als Musiker und Schauspieler, sondern auch als Technik-Tüftler war er ein vielfältig begabter Wissensabenteurer. In einer Zeit, in der kollektive Identitäten von allen Seiten benutzt und hochgehalten wurden, pochte Boris Vian auf die Verantwortlichkeit jedes Einzelnen für sein Tun. In seinem Chanson „Der kleine Mann ist der wahre Schuldige“ singt er: „Ist ein General ohne Soldaten gefährlich?“ Und antwortete: „Hitler ist tot, die kleinen Leute leben weiter und geben sich Mühe, einen harmlosen Eindruck zu machen – wie alle kleinen Leute dieser Welt.“

1959 starb Boris Vian während der Uraufführung der Verfilmung seines Romans „Ich werde auf eure Gräber spucken“ an Herzversagen. Seine Chansons wurden in den folgenden Jahrzehnten von Vielen gesungen. Unter anderem von Hildegard Knef und Wolf Biermann. Die „Kampagne gegen die Wehrpflicht“ setzte das Lied noch 1990 bei ihren Aktionen ein. Auch heute – anlässlich des zweiten Jahrestages des Jugoslawienkrieges und der Verfolgung von Aufrufen, zu desertieren – hat es nichts an Aktualität eingebüßt.

Literatur

Philippe Boggio: "Boris Vian. Biographie", Rohwolt 1997

Boris Vian: "Der Deserteur" Mit