anarchismus

Provos

Libertäre Bewegungen in den Niederlanden seit 1965 (Teil 1)

| Coen Tasman

Der Ex-Kabouter und Amsterdamer Bewegungschronist Coen Tasman ist Autor des Standartwerks "Louter Kabouter. Kroniek van een Beweging 1969-1974" (Babylon-De Geus, Amsterdam 1996, 416 S., ISBN 90-6222-303-6). Im Mai 2000 hielt er an der Uni Münster im Rahmen des Soziologieseminars "Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchie, Anarchismus, libertäre Presse" von Bernd Drücke zwei Referate über die Provo- und Kabouterbewegung. Seine Thesenpapiere veröffentlichen wir redaktionell überarbeitet in zwei Teilen. Teil 2 erscheint in GWR Nr. 259 (Red.).

Provo – Kabouter

Die Provo- und Kabouterbewegung sind auf verschiedene Weisen miteinander verbunden, aber zeigen auch große Unterschiede. Die Provobewegung entstand im Mai 1965 und wurde zwei Jahre später, am 13. Mai 1967, offiziell aufgelöst im Vondelpark. Die Kabouterbewegung wurde fast drei Jahre später offiziell gegründet, am 5. Februar 1970, aber nie aufgelöst. Eigentlich hat die Bewegung etwa anderthalb Jahre existiert und hörte Mitte 1971 allmählich auf, eine Bewegung zu sein. Schon darin unterscheiden beide Bewegungen sich voneinander.

Anfang des Widerstandes gegen die Konsum-Gesellschaft

In den Niederlanden standen die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg im Zeichen des Wiederaufbaus und des Kalten Krieges zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten. Das gesellschaftliche Leben blieb bis weit in die fünfziger Jahre in sogenannten ‚Säulen‘ organisiert: eine katholische Säule, eine protestantische Säule, eine liberale Säule und eine sozialistische Säule, jede Säule mit ihrem eigenen Fußballverein, Radiosender, Gewerkschaft usw.

Mit dem steigenden Wohlstand in den fünfziger Jahren entstand allmählich auch eine Mentalitätsveränderung. Die Niederlanden verwandelten sich von einer überwiegend agrarischen Gesellschaft in eine stark industrialisierte Gesellschaft, in eine sekularisierte Konsum-Gesellschaft. In diesen Jahren gab es Arbeit für jedeN. Über Umweltprobleme dachte damals noch niemand nach.

Etwa 1965 trat eine Generation Jugendlicher an, die während oder nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen war: die sogenannte Babyboom-Generation. Diese Jugendlichen fingen an, sich gegen die biedere Atmosphäre ihres Elternhauses aufzulehnen. Außerdem erlaubte ihnen ihr Jugendlohn oder Taschengeld auch eine größere Unabhängigkeit von ihren Eltern. Jugendliche wurden als eine wichtige Kategorie von KonsumentInnen entdeckt. Es entstand eine spezielle Jugendmode: Kleidung, Musik, Zeitschriften usw.

Dijkers und Pleiners

In Amsterdam protestierten die Jugendlichen aus der Arbeiterklasse auf andere Art gegen die Langeweile zu Hause als die Jugendlichen aus den Kreisen der Intellektuellen und KünstlerInnen. Die Jugendlichen aus den Kreisen der ArbeiterInnen wurden ‚Dijkers‘ genannt, weil Sie sich in der Umgebung des Nieuwendijks, des Zeedijks oder des Dams (der zentrale Platz von Amsterdam) aufhielten und mit ihren lauten Mopeds die übrigen Menschen auf der Straße ärgerten. Oft kam es auch zu kleinen Straßenschlachten mit der Polizei. Sie wurden auch ‚Nozems‘ genannt und der Psychologe Wouter Buikhuizen nannte sie ‚Provos‘ wegen ihres provozierenden Benehmens auf der Straße. Solche Jugendlichen gab es damals auch außerhalb der Niederlande: die ‚Teddyboys‘ in England, die ‚Blousons noirs‘ in Frankreich, die ‚Stilyagi‘ in der ehemaligen Sovjet-Union und die Halbstarken in West-Deutschland.

Die jungen Bohemiens aus den Kreisen der Intellektuellen und KünstlerInnen trafen sich in den Kneipen am Leidseplein und wurden darum ‚Pleiners‘ genannt. Es handelte sich hier um KünstlerInnen, JournalistInnen, FotografInnen, StudentInnen der Kunstakademien und um SchülerInnen. Sie orientierten sich an dem Existenzialismus von Jean-Paul Sartre, besuchten Jazz-Konzerte und experimentierten mit Rauschmitteln wie Marihuana, Meskalin und LSD. Zu diesen Pleiners gehörten zum Beispiel der Künstler Robert-Jasper Grootveld, der Dichter Simon Vinkenoog, der Schriftsteller Jan Cremer, der Comix-zeichner Steef Davidson, der Sänger Ramses Shaffy und die Schauspielerin Shireen Strooker.

Die Happenings von Robert-Jasper Grootveld

Robert-Jasper Grootveld, 1932 in Amsterdam in einem anarchistischem Milieu geboren, war und ist noch immer ein visionärer Künstler. Er machte aus dem künstlerischen Happening eine magische Warnung gegen die Konsum-Gesellschaft. 1962 rief er sich zum ‚Anti-Rauch-Magier‘ aus und erklärte das Rauchen zum Symbol des versklavten Konsumenten. In seinem Anti-Rauch-Tempel, einer alten Garage, hielt er Predigten über die Zigarettenindustrie und den Krebs. Während dieser Happenings erschien Grootveld verkleidet als Afrikanischer Medizinmann oder als der ‚Zwarte Piet‘ (in Deutschland bekant als Knecht Ruprecht), der Helfer von Sankt Nikolaus. Für Grootveld war der heilige Nikolaus, oder einfach Klaas, ein Wohltäter, ein Kinder- und Menschenfreund, der an seinem Geburtstag nichts nahm sondern nur gab. Grootveld betrachtete ihn als Symbol für die Änderung der egoistischen Konsum-Gesellschaft in eine humanere Gesellschaft. Nach einem Monat brannte sein Tempel ab.

Seit Juni 1964 verlegte Grootveld seine Happenings auf den Spui, ein kleiner Platz im Zentrum Amsterdams, und war damit der erste Künstler, der das Phänomen Happening auf die Straße brachte. Dort, auf dem kleinen Platz, stand ein Standbild eines Gassenjungen, das ‚Lieverdje‘, gestiftet von einer Zigarettenfabrik. Das Lieverdje wurde zum Denkmal des ‚versklavten Konsumenten der Zukunft‘. Jede Samstagnacht um zwölf Uhr erschien Grootveld hier wieder als Zwarte Piet (also als Knecht Ruprecht). Er zog dann magische Kreise um diesen „nikotistischen Dämon“ und rief „Klaas“ an („Klaas komme, Klaas kommt!“), der Amsterdam zum „Magischen Zentrum des Westens“ erklärt haben sollte. Das Publikum, das mitmachte, wuchs jede Woche.

Die Provo-Bewegung

Mit seinen Happenings hatte Robert-Jasper Grootveld das Klima geschaffen, worin ein Jahr später, 1965, der von Roel van Duijn propagierte Anarchismus gedeihen konnte.

Roel van Duijn, 1943 in Den Haag in einem theosofischem Milieu geboren, hatte schon Ende 1961, während seiner Schulzeit, mit seinem Freund Hans Korteweg in Amsterdam Sit-ins gegen die Atomrüstung organisiert und wurde deshalb von der Schule geschickt. Er zog 1964 mit seiner Freundin Carla Kuit um nach Amsterdam um dort Philosofie zu studieren. Er war Redaktionsmitglied einer anarchistischen Zeitschrift, die sich nur an den klassischen AnarchistInnen orientierte: Bakunin, Kropotkin, Domela Nieuwenhuis. Roel van Duijn wollte an den außerparlamentarischen Aktivisismus seiner Zeit anschließen. Dadurch entstand ein Konflikt mit seinen Redaktionskollegen. In Amsterdam gründete er zusammen mit seinen Freunden Martijn Lindt (*1947) und Rob Stolk (*1946) eine eigene anarchistische Zeitschrift. Sie nannten diese Zeitschrift ‚Provo‘ und adaptierten damit das von Wouter Buikhuizen erfundene Schimpfwort ‚Provo‘ als Ehrenname.

Bis zu diesem Moment verliefen die mitternächtlichen Happenings beim Lieverdje ganz friedlich. Aber als die ersten Provos von Robert-Jasper Grootveld eingeladen wurden um mitzumachen, griff die Polizei mit viel Gewalt ein. So entstand die Provo-Bewegung: eine Mischung von künstlerischer und magischer Spielerei und ernsthaftem Anarchismus.

Lockere Organisationsstruktur

Provo war keine Organisation beitragsbezahlender Mitglieder, sondern eine offene Bewegung, wobei jede sich anschließen konnte. Es gab einen kleinen aktiven Kern von etwa vierzehn Leuten, die die Ideen formulierten, die Artikel für das Blatt Provo schrieben und die die Aktionen initiierten. Rund um diesen Kern bewegte sich eine wechselnde Gruppe von etwa hundert aktiven Provos, die teilnahmen an den Happenings und anderen Aktionen. Sie stellten auch die Provo-Zeitschrift zusammen und verkauften sie auf der Straße. Zum Schluß gab es noch einen größeren Kreis von Sympathisanten, wozu unter anderem der Künstler Constant Nieuwenhuis, der Schriftsteller Harry Mulisch und der Komponist Peter Schat gehörten. Auch die 13.000 WählerInnen, die bei den Kommunalwahlen im Juni 1966 die Provo-Liste wählten, könnten dazu gerechnet werden.

Klootjesvolk-Theorie und Provotariat

Die Provos waren moderne AnarchistInnen und lehnten den von Karl Marx propagierten Klassenkampf ab. An die Stelle rückte Roel van Duijns ‚Klootjesvolk-Theorie‘: das Proletariat existierte kaum noch und hatte seine revolutionäre Rolle verloren. Die ArbeiterInnen hatten sich vom Konsum verführen lassen und waren so mit der alten Bourgeoisie zusammengeschmolzen zu einem grauen ‚Klootjesvolk‘ versklavter KonsumentInnen. (‚Klootjesvolk‘ kann man übersetzen als ‚Volk von Speißbürgern‘). Das galt in gleichem Maße für den kapitalistischen Westen als für den kommunistischen Osten. Dem Klootjesvolk der industrialisierten Länder stand jetzt das Provotariat als letzte revolutionäre Klasse gegenüber: KünstlerInnen, ‚Pleiners‘, ‚Dijkers‘, Provos, StudentInnen und alle, die sich nicht ökonomisch oder psychologisch mit der Konsum-Gesellschaft verbunden hatten.

Was auffällt, ist die Ähnlichkeit zwischen Roel van Duijns Klootjesvolk-Theorie und die gleichzeitig formulierte ‚New Left‘-Theorie des Deutsch-Amerikanischen Philosofen Herbert Marcuse, die ‚Focus-Theorie‘ von Che Guevara, die später formulierte ‚Randgruppen-Theorie‘ des damaligen westdeutschen Studentenführers Rudi Dutschke oder die ‚Theorie der dynamischen Minderheit‘ des damaligen französischen Studentenführers Daniel Cohn-Bendit. Als Roel van Duijn seine Theorie formulierte, kannte er die anderen Theorien nicht. Also, offensichtlich war die Zeit reif dafür. Es war der Zeitgeist.

Im Gegensatz zu der Provo-Bewegung orientierte die Mehrheit der progressiven StudentInnen-Bewegung in den Niederlanden sich eindeutig in ziemlich dogmatischer Weise am Marxismus. Der bekannteste niederländische Studentenführer in den sechziger Jahre war Ton Regtien, der 1963 die Studenten-Gewerkschaft gegründet hatte. Die Ideologen der StudentInnen-Bewegung betrachteten die Provos als Klassenfeinde der Arbeiter, weil sie den altmodischen Klassenkampf ablehnten. Während in West-Deutschland die StudentInnen-Bewegung geprägt war von einer Mischung aus Marxismus und Anarchismus, war in den Niederlanden eine Zusammenarbeit zwischen der StudentInnen-Bewegung und der Provo-Bewegung kaum möglich. Weil die Provos in den linken Kreisen im Ausland ziemlich populär waren, schrieben Ton Regtien und Konrad Boehmer für die deutsche linke Zeitschrift Kursbuch einen Artikel, worin sie die Provos als eine Gefahr für die Revolution schilderten.

Fröhlicher Protest gegen Autoritäten und Monarchie

Mit viel Humor und (Spaß-) Guerilla-Taktiken leisteten die Provos Widerstand gegen die „Regenten-Mentalität“, gegen den noch immer herrschenden Untertanengeist. Die Monarchie war für die Provos das extremste Beispiel autoritärer und faschistischer Staatsgewalt. Als die damalige Prinzessin Beatrix am 10. März 1966 in Amsterdam Claus von Amsberg heiratete, proklamierten die Provos ihren „Tag des Anarchismus“. Sie demonstrierten gegen die Monarchie. Sie riefen „Es lebe die Republik!“ und warfen Rauchbomben vor die Goldene Kutsche mit dem königlichen Brautpaar. Die Polzei schlug mit Knüppeln und Säbel hart auf die Provos los. Aber die in ganz Europa ausgestrahlten Fernsehbilder dieser ‚Rauchbomben-Hochzeit‘ machte die Provo-Bewegung weltberühmt. Die Provos verstanden es, die Medien für ihre Ziele zu benutzen und erlebten viel Spaß dabei. Ihr Protest wurde durch die starke Publizität buchstäblich ein Bild, ein Image oder auf französisch ausgesprochen: ein ‚Imaazje‘. ‚Imaazje‘ war das Zauberwort der Provos.

Die Provos propagierten die ‚Lieberevolution‘, nach Belieben zu interpretieren als ‚liebe Revolution‘ oder als ‚lieber Evolution‘. Mit spielerischen Pieksern forderten sie die Autoritäten heraus, ihr wahres Gesicht zu zeigen. Die Polizei und die Justiz reagierten mit überproportionierter Gewalt und mit äußerst strengen Strafen. So wurde das Provo-Mädchen Koosje Koster beim Lieverdje wegen „öffentlicher Schaustellung ohne Genehmigung“ verhaftet, weil sie dort an PassantInnen Korinthen verteilte. Die Korinthen symbolisierten die Nächstenliebe nach dem Bibelbuch Korinther. Hans Tuynman, 1942 in Indonesien geboren und einer der bekanntesten Provos, wurde zu drei Monaten Haft verurteilt, weil er beim Lieverdje leise das Wort „Imaazje“ murmelte. Die Justiz machte sich selber auf diese Weise völlig lächerlich. Je mehr Gewalt die Autoritäten anwendeten, desto mehr Publizität und Sympathie bekam die Provo-Bewegung.

Durch die Eskalation von Polizei-Gewalt gegen die Provos entstand in Amsterdam eine äußerst angespannte Atmosphäre, die während des Bauarbeiter-Aufruhrs am 13. und 14. Juni 1966 explodierte. Es kam zu riesigen Straßenschlachten zwischen den streikenden Bauarbeitern und der Polizei, die zum ersten Mal nach dem Krieg mit Tränengas und scharfer Munition schoß. Es gab viele Verletzte. Die Provos und die StudentInnen solidarisierten sich mit den Bauarbeitern, aber für Roel van Duijn war das kein Anlaß, seine Klootjesvolk-Theorie zu widerrufen.

Die ‚Weißen Pläne‘

Die Provo-Bewegung machte Geschichte, nicht nur mit Happenings und Rauchbomben, sondern auch mit ihren ‚Weißen Plänen‘. Weiß ist die Farbe der Unschuld und Gewaltlosigkeit. Diese Pläne konnten einerseits betrachtet werden als ernst gemeinte Fingerzeige auf die erwünschte zukünftige Gesellschaft. Andererseits konnten sie auch als eine Satire, als eine Parodie auf gesellschaftliche Mißstände betrachtet werden. Kennzeichnend für den Provo-Stil des Agierens war immer diese Mischung von Spaß und Ernst. Als Beispiele nenne ich drei ‚weiße Pläne‘: den Weißen Fahrräder-Plan, den Weiße Hennen-Plan und den Weißen Kinder-Plan.

Nach dem Weißen Fahrräder-Plan von Provo und Erfinder Luud Schimmelpennink (geboren 1936) sollte die historische Innenstadt von Amsterdam für Autos gesperrt werden. Auch sollte die Gemeindeverwaltung als Alternative umsonst 20.000 weiße Fahrräder zur Verfügung stellen. Später wurde der Weiße Fahrräder-Plan von Luud Schimmelpennink umgearbeitet zu einem „Weiße Karren-Plan“: kleine elektrische Autos statt Fahrräder. Seit einigen Jahren wird in Amsterdam schon wieder mit einem neuen und besseren Modell des weißen Fahrrads experimentiert. Im Nationalpark ‚De Hoge Veluwe‘ bei Arnheim ist der Weiße Fahrräder-Plan übrigens schon längst realisiert.

Der Weiße Hennen-Plan vom Provo Auke Boersma zielte auf ein besseres Verhältnis zwischen Bürger und Polizei. Das Wort ‚Henne‘ oder ‚Huhn‘ ist Amsterdamer Platt für Polizist, wie in Deutschland das Wort ‚Bulle‘. Polizisten sollten sich in unbewaffnete und weiß gekleidete Sozialarbeiter verwandeln. Sie sollten auch den BürgerInnen mit allerhand praktischen Sachen behilflich sein: Streichhölzer, Verhütungsmittel, Heilpflaster, Äpfel und Hähnchenkeulen. Statt in Autos sollten sie auf weißen Fahrrädern durch die Stadt fahren. Seit den neunziger Jahren ist schon Vieles von diesem Plan realisiert. Jeder Bezirk in Amsterdam hat jetzt seinen ‚Bezirks-Bullen‘, der Sprechstunde hält im Stadtteilzentrum oder Jugendzentrum, der bei Konflikten in der Nachbarschaft vermittelt, der Menschen den Weg weist, Menschen auf der Straße zur Rede stellt bei unsozialem Verhalten und der tatsächlich auf seinem Fahrrad durch die Gegend fährt.

Der Weiße Kinder-Plan stand im Zeichen der Frauen-Emanzipation. Die Provos Anna Dijkstra und Tony Briggs hatten In einem israelischen Kibbuts erfahren, wie man Kinder auf kollektive Weise erziehen kann. Im Herbst 1966 gründeten sie in ihrer Wohnung mit anderen Eltern eine anti-autoritäre Kinderkrippe. Jede Woche war ein Elternpaar an der Reihe, um die Kinder zu betreuen. Ihre Initiative diente ein Jahr später als Vorbild für die anti-autoritären Kinderläden in West-Berlin und anderen westdeutschen StudentInnenstädten.

Provo im Stadtrat

Die Amsterdamer Provos beteiligten sich an den Kommunalwahlen am 1. Juni 1966. Das war bemerkenswert für eine anarchistische Bewegung. Der Spitzenkandidat Bernard de Vries (geboren 1941) verteidigte die Teilnahme mit dem Argument, daß der Anarchismus von Provo keine Ideologie sei, sondern eine Inspirationsquelle. Und Roel van Duijn behauptete, daß Provo für kommunale Selbstverwaltung war. Deshalb akzeptierte seine Bewegung einen Stadtrat, ein Stadtparlament, aber kein nationales Parlament. Einige Jahre später, in der Kabouterzeit, hat er diese Auffassung übrigens widerrufen. Einmal in den Stadtrat gewählt, könnten die Provos die Autoritäten besser kontrollieren und würden sie geheime Aktenstücke und Dokumente ohne Rücksichtnahme veröffentlichen, so meinten sie. Um Einkapselung im autoritären System vorzubeugen, wurde das Rotationsprinzip beschlossen: die gewählten Provos sollten alle nach einem Jahr Platz machen für ihre NachfolgerInnen. Provo führte eine Wahlkampagne mit originellen Wahlplakaten und unter dem Motto „Mit Provo kann man lachen!“. Die Provo-Partei erhielt 13.105 Stimmen: mehr als genug für eins von den 45 Mandaten. Bernard de Vries zog als erster Provo in das Amsterdamer Stadtparlament ein. Nach ihm folgten Luud Schimmelpennink, Irene van de Weetering und Roel van Duijn.

Das Internationale Provo-Konzil

Die spielerische Rebellion des Amsterdamer Provotariats schlug, auch durch die viele Publizität in den Medien, auf andere Städte in den Niederlanden über. In Den Haag, Rotterdam, Maastricht, Groningen und Leeuwarden entstanden Provo-Gruppen. Auch im Ausland entstanden Provo-Gruppierungen: in Belgien (Antwerpen, Brussel und Gent) und in Schweden. Es gab auch Kontakte mit Geistverwandten in London, Prag und in West-Deutschland, unter anderem in Frankfurt am Main (April 1967). Der Westberliner Studentenführer Rudi Dutschke erklärte im Dezember 1966, vieles von dem fröhlichen Provozieren der Autoritäten der Amsterdamer Provos gelernt zu haben. Berlins damaliger Oberbürgermeister Heinrich Albertz reagierte: „Berlin braucht keine Provos!“. Und die Rauchbomben, womit die Westberliner ‚Kommune I‘ von Dieter Kunzelmann, Fritz Teufel und Rainer Langhans April 1967 ein Pseudo-Attentat auf den amerikanischen Vize-Präsidenten Hubert Humphrey vorbereitete (das ‚Pudding-Attentat‘), wurden von Amsterdamer Provos geliefert. Am Wochenende vom 12. bis 14. November 1966 fand im Schloß Borgharen bei Maastricht das ‚Internationale Provo-Konzil‘ statt. Es versammelten sich dort nicht nur Provos aus Amsterdam und anderen Städten in den Niederlanden. Es gab da auch Provos aus Belgien und Geistverwandte aus Frankreich. Kennzeichnend für die Atmosphäre war das hin und her schwanken zwischen Angst vor einem bald erwarteten Dritten Weltkrieg infolge des Vietnam-Krieges und einem optimistischen Vertrauen in die Kraft der spielerischen Kreativität.

Die Auflösung von Provo

Die Provos hatten Einiges dazu beigetragen, daß der Amsterdamer Bürgermeister Gijs van Hall und der Polizei-Präsident H.J. van der Molen entlassen wurden, weil sie Fehler gemacht hatten während des Bauarbeiter-Aufstandes im Juni 1966. Aber Provo war Anfang 1967 schon sowas wie eine feste Einrichtung geworden, die ernst genommen wurde. Dadurch drohte die Provo-Bewegung zu viel ein Teil des Establishments zu werden. Ein Public-Relation-Bureau organisierte zum Beispiel schon ein ‚Treffen mit berühmten Provos‘ für TouristInnen. Provo wurde ein Exportartikel für Holland. Immer mehr Provos waren der Meinung, daß es darum besser wäre, die Bewegung aufzulösen. Und das geschah am 13. Mai 1967 während einer Zusammenkunft mit Ansprachen im Vondelpark. Das führte zu einer schönen Karikatur des Zeichners Willem (Pseudonym für Bernard Holtrop), der viele Karikaturen in der Zeitschrift Provo gezeichnet hatte.

Anmerkungen

Verlage, die Interesse haben, eine deutschsprachige Version von Coen Tasmans "Louter Kabouter"-Buch zu veröffentlichen, können sich an die GWR-Redaktion Münster wenden.