Am 4. Mai 2003 starb im Alter von 77 Jahren der Politikwissenschaftler Johannes Agnoli. Seit 1968 hatte er u.a. als Lehrender an der Freien Universität Berlin und als Autor großen Einfluß auf die Theoriebildungsprozesse der sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik. Wolf-Dieter Narr erinnert sich für uns auch an die libertären Seiten seines Freundes. (GWR-Red.)
„Darin sehe ich überhaupt das Geschäft, auf das ich mich schon seit längerer Zeit einlasse, und mit dem die ganze Linke sich befassen sollte: Die Politik theoretisch und soweit wie möglich auch praktisch zu kritisieren“ (Agnoli 1990, 164)
Eine Tragödie. Fast im griechischen Sinn. Von quantitativ ungleich größerem Gewicht. Tote tatsächlich massenhaft. Nach langen Vorläufen punktueller, abgebrochener, historisch kontextuell anderer Art kamen im 19. Jahrhundert fast überall in Festland- und Inseleuropa zwei unterschiedlich umfangreiche und nachhaltige soziale Bewegungen in Gang, die ersten der Moderne: Kommunismus/Sozialismus als programmatische Häute der Hauptgestalten der Arbeiterbewegung. Darin und früh nur am Rande, an einzelnen Orten und zu machen Zeiten von erheblicher Bedeutung: anarchistische Strömungen. Beide schwabbten an und über die Grenzen der etablierten Gesellschaften. Letztere entfeudalisierten sich. Sie wurden zu Gesellschaften kapitalistischer und das heißt immer zugleich staatlicher Herrschaft. Kommunistisch/sozialistische und anarchistische Bewegungchen, eher vereinzelt noch und nicht stark wie ein sozialer Strom waren mehr willkürlich als durch ‚ordentlich‘ entsandte Mitglieder an der Ersten sozialistischen Internationale beteiligt. Ihr war Marx/Engels seinerzeit und heute noch ‚ungeheuerliches‘ Kommunistisches Manifest vorausgegangen. Dieses nahm die Öffentlichkeit einer machtvollen Arbeiterbewegung weithin – utopisch – vorweg, vom Wissen beflügelt, dass alle Prognosen von der kapitalistischen Entfesselung gesprengt werden würden, einschließlich des weltweit expansiven ‚globalen‘ Kapitalismus und seiner etatistischen Klammern selbst. Aus persönlichen und sachlichen Gründen früh im Gerangel drängte die kommunistisch, sozialistisch und sozialdemokratisch gewandete Arbeiterbewegung alle anarchischen Züge und alle anarchistischen Ideologeme früh beiseite. Ja, sie „säuberte“ sich allseits von ihnen. Darum gab es nur eine zeitweise gemeinsame Erste Internationale. Die verschiedenen Versionen der Arbeiterbewegungen – der Plural ist von Anfang an wichtig -, bedingt von der unterschiedlichen kapitalistischen Entwicklung und den diversen nationalstaatlichen Kontexten, treten vollends im Laufe des 1. Weltkriegs auseinander: Sozialdemokratie hier, bald (sowjet-)Kommunistischen Parteien dort. Die Einzelnen und Gruppen, die sich anarchistisch verstanden, bezogen sich ihrerseits auf die Arbeiterbewegung und Sozialismus. Sozialismus nahmen sie als geradezu unmittelbare, selbst assoziativ zu praktizierende Tagesaufgabe wahr. Anarchisten nicht einheitlich deklinierbarer Art spielten hintergründig, als Einschübsel und im Vordergrund ab und an eine gewichtige Rolle. Von den Luddites, den Webern und vielen anderen zu schweigen, der historisch tiefer sitzenden „Geschichte der Arbeiterbewegung“ (1), angefangen von der Pariser Kommune über die räterepublikanischen Versuche am Ende des 1. Weltkriegs bis zum Spanischen Bürgerkrieg. Indes im Kontext der Arbeiterbewegung blieben die ihrerseits zersplitterten Anarchisten eine Randerscheinung, die eher dem immer erneuten Bürgerschreck diente. Bis heute: stellt euch vor, ein bürgerlicher Schrecken, eine menschliche Hoffnung, es gäbe keinen sterblichen Gott, keinen STAAT mehr.
Die Tragödie hebt früh an. Im Umkreis der 1. Internationale. Sie ereignet sich darin, dass sich beide, ungleich gewichtigen Strömungen der Arbeiterbewegung katastrophisch verfehlen. Sie äußerte sich in Missverständnissen, Ausschlüssen, Feindschaften und bald auch in politischen Morden. Sie tritt jedoch vor allem programmatisch und praktisch zu Tage. Hierbei versteht sich von selbst, was an dieser Stelle in seinen historischen Bedingungen nicht weiter ausgeführt werden kann, dass die kommunistisch-anarchistische Uneinigkeit, ja Feindschaft ihre materiellen, interessen- und herrschaftsspezifischen, auch ihre personellen Gründe hat, die sich nicht durch eine wohlgesinnte kommunistisch-anarchistische „Ökumene“ hätte ‚versöhnen‘ lassen. Dem Mangel aller sozialdemokratischen und kommunistischen Strömungen, die Formfrage gerade auch für die Zeiten des Übergangs zu einer anderen Vergesellschaftungsform radikal ernst zu nehmen, gebührt der erste Rang.
Das, was in Sachen Kapitalismus-Analyse noch geschah, im Sinne einer von Marx geleisteten und informierten Formkritik kapitalistischer Vergesellschaftung, wurde in Sachen Staatsanalyse versäumt. Die versäumte Kritik wurde stattdessen geradezu (selbst-)herrschaftsnaiv auf die Zeiten des staatlichen Absterbens verschoben. Wenn der Tau des sozialistischen Sonnenaufgangs alle Graswurzeln wachsen, grünen und gedeihen macht. Wenngleich sehr verschieden begründet und praktiziert meinten die kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien, sie könnten, müssten und dürften sich der herrschenden politischen Institutionen rund um das staatliche Gewaltmonopol instrumentell bedienen. Mit ihnen bewehrt vermein-ten sie, einen qualitativ anderen Kapitalismus (Sozialdemokratie) oder eine andere befreite Gesellschaft erkämpfen zu können. Der später studentenbewegt so genannte Marsch durch die Institutionen mit seiner grotesken Unterschätzung der Definitionsmacht etablierter Institutionen bis in die Habitus und ins Bewusstsein gerade der Stärksten hinein, stellt das erklärbare Herrschaftsopfer aller Sozialdemokratien von Anfang an da.
Bestenfalls schafften sie es darum, selbst zu Teilen längst nicht mehr von ihnen bestimmter oder bestimmbarer (neoliberaler) Herrschaft zu werden. Die Kommunisten waren nur einen formbornierten Wachstumsring weiter. Sie nahmen an, sich des Staates als zentralen, vor allem ökonomischen Steuerungs- und Durchsetzungsmittel in kommunistischer Absicht bedienen zu können. Sie endeten darum rasch im geradezu selbstmauernden Gemäuer eines herrschaftsemphatischen STAATS-Kapitalismus.
Den anarchistischen Gruppen fehlte im Gegenzug dazu eine zureichende Analyse kapitalistischer Vergesellschaftung. Mittelbewusst, und auf die aktuelle Verwirklichung sozialistischer Forderungen bezogen, versäumten sie es, die kapitalistische Vergesellschaftung in ihrer Dynamik zureichend zu verstehen. An ihrer Staatskritik und insoweit an der Kritik, herrschende Formen zu übernehmen, ließen sie freilich keinen Zweifel aufkommen. Sympathisch und sozialistischer ‚Logik‘ gemäß drängten sie darauf, dass andere Vergesellschaftungsformen hier und heute bis in den eigenen Lebensstil zu praktizieren seien. Sie verließen sich jedoch zu sehr, evolutionsgläubig wie fast alle „revolutionären“ Vertreter und Vertreterinnen der typischerweise im 19. Jahrhundert verankerten Bewegungen, auf direkte Aktionen. Nicht wenige vergaßen darob, dass Gewalteinsatz dem anarchischen Ziel unvermeidlich widersprechen muss, so verständlich ein solcher gegen übermächtige herrschende Gewalten sein mag. An der „Gewaltfrage“ im staatlichen und nicht-staatlichen Sinne, an der Gewalt als Herrschaftsmittel und als Mittel der Emanzipation im Sinne der Zerstörung bestehender Herrschaft scheiterten beide Bewegungen in all ihren Unterschieden gleichermaßen.
Die frühen, auch persönlichen Querellen zwischen Marx und Bakunin etwa, beide nicht gerade anti-autoritär im eigenen Verhalten, können außer Betracht bleiben. Das nicht zureichend korrespondierende Verhältnis beider stellt freilich ein Symptom der Tragödie dar. Besäße man die literarischen Mittel, es lohnte heute noch, beider Konfrontation und Exklusion dramatisch zuzuspitzen (beide haben übrigens den je anderen vor allem in ihren Briefwechseln des öfteren erwähnt, ohne die Sache, um die es hätte gehen können, wenn nicht müssen, zu begreifen). Wie wenig produktive Auseinandersetzungen es gegeben hat, zeigt Rosa Luxemburg, eine der wenigen Kommunistinnen/Sozialistinnen, die die Formfrage auch und vor allem als organisatorisches Eigenproblem begriffen. Trefflich ihre Kritik an Lenin schon am Anfang des neuen Jahrhunderts in den „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“. Trefflich ihre Kritik an Lenin und Trotzki. Diese erachteten „bürgerliche Freiheitsrechte“ nicht nur und dies wohlbegründet als systematisch unzureichend, klassenspezifisch borniert wie sie waren (und immer noch zu großen Teilen sind). Trotzki und Lenin missachteten diese Rechte und ihre institutionellen Sicherungen vielmehr als revolutionär störenden Tand. Damit riefen sie Rosa Luxemburg auf den Plan. Sie belegt die „offenkundig unbestreitbare Tatsache, dass ohne eine freie, ungehemmte Presse, ohne ungehindertes Vereins- und Versammlungsleben gerade die Herrschaft breiter Volksmassen völlig undenkbar ist.“ In diesem Zusammenhang findet sich auch die zurecht berühmte, meist nur halb zitierte Freiheitsäußerung: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ‚Gerechtigkeit‘, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ‚Freiheit‘ zum Privilegium wird“ (R.L. 1979, 358 f.).
Die Konsequenzen des sozialistisch kommunistischen Mangels, die Hauptmerkmale anarchistischer Sorte aufzuheben waren schrecklich. Sie begründeten die geschichtsmächtige, aber kommunistisch tödliche Kombination von „Humanismus und Terror“ (Merleau-Ponty), den Versuch durch „Sonnenfinsternis“ (so Koestlers Romantitel über die Moskauer Prozesse) zum Sonnenaufgang zu gelangen. Sie machten den stalinistischen Zentralismus möglich – ganz und gar gegen die Konzeption der Sowjets; sie schufen dessen schlimmste Auswüchse im Gulag, im Spanischen Bürgerkrieg und in der Ermordung x-Tausender von Kommunisten im Rahmen des tödlichen Kampfes mit dem deutschen Nationalsozialismus. Der Kollaps 1989/91 ist darum nicht zuletzt der eigenen restlosen Auszehrung aller irgend emanzipativen Legitimationsquellen geschuldet.
Die anarchistischen Gruppen scheiterten früher und anders. Sie scheiterten zu allererst an den überall präsenten Herrschaften und ihren Repressionsapparaten. Sie scheiterten jedoch auch daran, dass sie, sympathisch anti-institutionell, selten über eine längere und ausgegorenere organisatorische Fähigkeit und Perspektive verfügten – vom Mangel zureichender Kapitalanalyse, den ich schon erwähnt habe, zu schweigen (2).
Darum ist Johannes Agnoli so wichtig. Er war, so man die Etiketten liebt, Marxist, Kommunist und Anarchist in einem. Er wehrte sich nicht, politisch und theoretisch Position zu beziehen. Das tat er kompromissloser als die meisten. Indes, er wehrte sich aus gutem Grund über irgendwelche abstrakte Begriffsleisten geschlagen zu werden. Das, was ich oben zu Kommunismus und Anarchismus angedeutet habe, peinigt nicht nur als historische Erinnerung. Es kann, es sollte, es müsste daraus für das eigene Verhalten in gleichen und sehr verschiedenen Umfeldern gelernt werden. Heute mehr denn je. Dass eine fortentwickelte, bei Marx in die Schule gegangene Kritik der politischen Ökonomie notwendig ergänzt werden muss, von einer Kritik der Politik wie Johannes Agnoli sie ansatzweise begründet und betrieben hat – und nicht im Sinne einer „Ableitung“ des politischen „Überbaus“ aus dem ökonomischen „Unterbau“. Betrachtet man, wie analytisch krallenarm ein Gutteil der glücklicherweise endlich vermehrten Globalisierungskritikerinnen und -kritiker erscheint, wie sehr Vorstellungen qualitativer anderer Politik als einer solchen im Umkreis des Staates fehlen, dann ist zu erkennen, wie dringend es Agnolischer Fermente und Triebkräfte bedarf. Die gründen letztlich in seinem immer vorhandenen, immer spaßvollen Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Aller Herrschaft abhold. Auf andere, auf alle anderen bezogen.
Johannes Agnoli, im Februar 1925 in Italien geboren ist ebendort am 4. Mai dieses Jahres gestorben (3). Das, was Johannes Agnoli ausmachte, so man das knapp nicht auf einen Nenner bringen will, war sein dauernder intellektueller Witz, der sich nicht durch irgendwelche Institutionen und serviettenweiße Gepflogenheiten einzwirnen ließ. Dieser intellektuelle, unablässig Herrschaftslöcher bohrende, also im besten Sinne anarchische Witz, die das Kind, den Mann oder die Frau, die Alte oder den Alten am besten lebendig verbinden und erhalten, will ich in einigen Facetten apostrophieren. Für diejenigen, die Johannes Agnoli kannten, seinen sprachlich humorigen Säureguss, zur fröhlich bewahrenden Erinnerung in dürrer, fast witzloser Zeit. Für diejenigen, die ihn nicht kannten, zur Anregung, Johannes Agnoli zu lesen und vor allem von diesem scharfen, nie Säbel schlagenden Verstand in seiner radikal aufklärerischen Vernunft für sich selbst zu lernen, indem sie besten Johannes Agnoli eingemeinden.
Ein antilehrerhafter Lehrer!
Einige Maßkriterien der Agnolischen Kritik der Politik:
- Sie setzt selbstredend die Kritik der Politischen Ökonomie voraus. Marx vor allem. Indes Marx entwickelnd gesehen, von Hegel, vom Deutschen Idealismus her, von Smith und vor allem Ricardo aus und so, dass das Kapitalverhältnis immer als dominantes soziales Verhältnis begriffen wird. Ausschlaggebend aber ist, dass der moderne Staat von den funktionalen Imperativen der kapitalistischen Entwicklung nie platt „abgeleitet“ wird. Vielmehr sind die politischen Formen und Funktionen, ihrer engen Koppelung nicht entgegen, ihrer Gleichzeitigkeit mit den kapitalistischen Erfordernissen, in ihren eigenen Institutionen und Leistungen zu begreifen. Sonst wären sie auch kapitalistisch nicht funktional. Dauernde Zusammensicht ist das Gegenteil schlechten, ableitnerischen, alle Besonderheiten tilgenden Reduktionismus.
- Die anarchische Prämisse gilt rundum und dauernd. Nichts Staatliches ist zu bewundern als die bald kunstvolle, bald brutale Erhaltung staatlich, kapitalistisch grundierter Herrschaft qua vielfältiger Einsatzformen der Gewalt. Staatlicher Herrschaft fehlt prinzipiell das legitimatorische Fundament. Vielmehr wird rasch erkenntlich, dass die kapitalistische Ersatzlegitimation nicht trägt. Dann wird entsprechend einsichtig, wie das Gewaltmonopol nach innen und außen, Klassen erhaltend eingesetzt wird. Mit vielfältigen symbolischen Maßnahmen und institutionellen Vorkehrungen wird vor allem die systemisch pazifizierende Funktion ausgeübt.
Repressionen und Kriege einerseits, positive, beispielsweise sozialpolitische Sanktionen andererseits. Die anarchische Prämisse besagt bis in die Erkenntnistheorie hinein frei nach den ersten Sätzen von Rousseaus Contrat Social, dem Johannes Agnoli ansonsten nur zum Teil und allenfalls radikaldemokratisch folgte: alle Menschen sind frei geboren. Es ist nie und nirgendwo einzusehen, dass sie in herrschaftlich einengenden Ketten leben.
- Die Wirkungsgrade und -grenzen des modernen Staates als der Herrschaftsform schlechthin kehren in den Staaten wieder, die liberaldemokratisch verfasst sind. In seiner „Transformation der Demokratie“, 1967 erstmals erschienen, und anderwärts, hat J. A. geradezu sintemal deutlich gemacht: was immer die liberal repräsentative Demokratie in früheren Umständen bedeutete, sie war allenfalls liberal im Sinne der Befreiung kapitalistischer Interessen, sie war nie demokratisch im Sinne der Beteiligung aller oder auch nur ihrer angemessenen und verlässlichen Repräsentation. Viele falsche Selbstverständlichkeiten liberaler Demokratie und ihrer ‚demokratietheoretischen‘ Immunisierung durch politikwissenschaftliche und juristische Normkostüme werden von Johannes Agnoli mit spitzem Gedankenfinger aufgenestelt. Sie erweisen sich prompt als ideologische, sprich Herrschaft schützende Verkleidungen. Als herrsche in repräsentativer, gar in parlamentarischer Demokratie das Parlament. Als stecke in ersten Satz des zweiten Absatzes von Art.20 GG, exemplarisch für ähnliche andere Verfassungen, auch nur ein Körnchen Wahrheit außer der Wahrheit wohlgefälliger Täuschung: „Alle Gewalt geht vom Volke aus.“ Als schritte die ihrerseits abhängige Politik der Exekutive „verantwortlich“ einher im Sinne eigener, irgend demokratischer politischer Gestaltung und auch nur parlamentarischer Kontrolle. „‚Mehr Markt‘: Kein Flug ins Autonome also, sondern Rückbesinnung der politischen Klasse (eine Gesinnungsinvolution) auf das eigene Geschäft, für die Identität von bonum commune und Gewinnspanne zuständig zu sein und nicht für die Identifikation des bonum commune mit der salus populi“ (4). Demgemäss gilt analytisch allgemein: „Die geschichtliche Funktion des bürgerlichen Staats vorausgesetzt (und nicht erst ‚abgeleitet‘), die Reproduktion einer kapitalistisch produzierenden, bürgerlich bestimmten Gesellschaft zu garantieren, galt es zu untersuchen, wie diese allgemeinen Funktion im Einzelnen, in ihren Einrichtungen und durch ihre Organe funktionierte: Wie werden staatliche Institutionen genutzt und transformiert, um als Instrumente der Friedensstiftung in einer konfliktual strukturierten Gesellschaft zu dienen, um mögliche Einbrüche unbotmäßiger (akkumulationswidriger) Impulse oder Bewegungen einzudämmen?“ (Agnoli 1990 171 f.). Methodisch am wichtigsten ist in diesem Zusammenhang, dass es nicht ausreicht, ‚verfassungsbrav‘ auf einen Norm-Wirklichkeitsvergleich abzuheben (Verfassungsrecht vs Verfassungswirklichkeit). Vielmehr kommt es darauf an, in eine Kritik allzu prämissenreicher Normen selbst einzutreten. An den Begriffen der Menschenrechte und der Demokratie kann man dieses Erfordernis am besten illustrieren gerade, weil die meisten von uns (mich, WDN, eingeschlossen) diese Normen ernst nehmen. Welches fortdauernde Schindluder wird mit diesen Normen betrieben. Sie muss man erst putzen und in ihren materiellen Voraussetzungen und Folgen klären, bevor man sich in ihnen blauäugig spiegelt.
Dann erkennt man: keine, noch so schöne Norm (kein Ziel) taugt etwas, ohne dass sie sogleich in ihre materiellen Bedingungen, in ihre Formen, in denen sie wirklich (oder verfehlt) werden, zu übersetzen. Umgekehrt gilt Gleiches: alle Formen sind daran zu messen, in welcher Weise sie dazu beitragen, die behaupteten Ziele zu verwirklichen.
- Wem Herrschaft überall in all ihren Proteusgestalten und aller ihrer chamäleonfarbigen Mimikri zuwider ist, der muss die Kunst des Nein-Sagens üben.
Täglich, stündlich. Die Stunde schlägt anhaltend. Darum hat Johannes Agnoli in seiner letzten, gedruckt vorliegenden Vorlesung, der Subversion, genauer: dem subversiven Denken und Denken als andauernde Subversion eine in die Gegenwart rückblickende Vorlesung gewidmet. Solche Subversion geschieht nicht in ‚postmoderner‘ Beliebigkeit und egobefliessener Nörgelei. Sie ist ausgerichtet am veri criterium, am Kriterium der Wahrheit. Dieses hat Johannes Agnoli mit Karl Marx und vielen anderen, die das Staffelholz der Subversion leuchtend in der geschichtlichen Kette in die Gegenwart weitertrugen, an den Geschlagenen, den Unterdrückten, den Beleidigten, den Ausgebeuteten, den Opfern der (kapitalistischen) Herrschaftswelt und ihrem schier unaufhaltsamen Expansionismus festgemacht. Dort leuchtet das humane veri criterium. Es orientiert ohne Schwanken und Schlingungen.
- Nicht selten, in späteren Jahren mehr als zuvor, sinnt Johannes Agnoli der unübersehbaren, jede und jeden umtreibenden Attraktivität des (gesellschaftlichen) Erfolgs nach. Wie könnte ein kommunistischer Anarchist und ein anarchischer Kommunist, den die Fülle historisch gegenwärtigen Beleidigungen von Menschen durch Menschen in allen Herrschafts- und Ausbeutungsvarianten jammert, wie könnte ein solcher nicht Erfolg haben wollen? Sehen, dass die finsteren Zeiten sich aufhellen, sehen, dass die Leute rundum in der Welt abnehmen, denen es kapital- und staatsexistentiell und weil die Oberen oben bleiben wollen, schlecht geht bis zum Verrecken. Gerade darum aber muss eine oder einer, so Johannes Agnoli, geradezu zum Asket, wenn nicht zum Hungerkünstler in Sachen „Erfolg“ sich erzogen haben. Die meisten Erfolge mitten in herrschaftsvollen Zeiten bestehen nicht in substantiell garantierter Gleichheit und Freiheit aller. „Erfolge“ können meist nur durch herrschende Anerkennungen verbucht werden. Materiell und positionell. Dann aber müssen die substantiellen Ziele geopfert werden. Noch und noch. Wie viele „Linke“ haben Johannes Agnoli und altersnah ich allein in unseren Lebzeiten ein Gepäckstück nach dem anderen abwerfen sehen, um mobil und flexibel den ‚Trends‘ der Zeit zu folgen und möglichst von – leerer – Regierungsverantwortung überzuquellen. Wer da nicht gut trainiert ist und trainiert, wird rasch erfolgreich erfolglos sein. Auf der Spitze der herrschaftsvollen Berge sind die mitgeschleppten Ziele gründlich ausgeschwitzt. Die Freiheit des Blicks befreit nichts und niemanden mehr. Darum ist alles dafür zu tun, den Erfolg zu fördern, scharfäugig und scharfgefühlig jedoch gewahr, den schalen Geschmack herrschender Erfolgserlebnisse, subversiv auch hier, rechtzeitig zu ahnen.
- Damit man dies vermag, wenn es denn ein Leben lang von jungen, nicht vertuschten oder rationalisierend verdrehten faschistischen Anfängen aus wie Johannes Agnoli gelingt, dann ist die habituell gewordene, zur Urteilsbasis geronnene Orientierung an konkreter Utopie notwendig. In ihr kommen das Kriterium der Wahrheit mit der Wirklichkeit zur Deckung. Sie ist subversiv als real möglich in der Menschengeschichte getestet. Dass einem die Kraft nicht ausgehe, einem Weg mit mal mehr, mal weniger Weggenossinnen und -genossen zu folgen, den die herrschende Meinung und Mehrheit als „Geisterweg“ diskriminiert. Und dies obwohl alle wissen könnten, es ist d e r Weg, immer mühsam zu gehen und nie ohne Konflikte, der dennoch und dauernd in die human angemessene Richtung führt.
„Die Orientierung an der Utopie und am Prinzip Hoffnung ergänzt durch ein anderes Prinzip, das jeden Neubeginn kennzeichnet und aus dem alles Leben entsteht: das Prinzip Negation. Es wäre schlimm, die radikale Form der Verweigerung ohne utopischen Hintergrund als Rückzug aus der Gesellschaft zu verstehen, als Einkehr in die Geborgenheit des individuellen Gewissens, das sich im Lamentieren beruhigt. Die Verweigerung soll vielmehr in die gesellschaftliche Wirklichkeit eintreten, dort als das klare, bewusste, aber allemal wirksame Nein gegen die falsche Entwicklung handeln.
Maulwurfsarbeit ist das genaue Gegenteil der Privatisierung des Protests. Was soll Utopie in der Aporie? Die Orientierung an der Utopie ist der einzig reale Ausweg aus der Inhumanität, in der sich die Weltgesellschaft befindet“ (so endet einer der letzten größeren Artikel in „Die ZEIT“ vom 17.2.2000 mit dem Titel: Die Transformation der Linken).
Johannes Agnoli – ein besonderer Mensch, wenn es denn einen solchen gegeben hat und gibt. Gerade darum kann er geradezu allgemein als Vorbild des Abweichens um aller menschlichen Vernunft willen wach gehalten werden. Unverbiestert, gedanken-, wein-, olivenlustig und was es sonst an Gespässigem gibt. Allen zu gönnen, allen zu erkämpfen. Darum wollte Johannes Agnoli an Herrschendem nie mitmachen. Das ist ein kostbarer Preis.
(1) vgl. zur britischen E.P. Thompsen
(2) vgl. auch die Besprechung von Kropotkins Memoiren in: graswurzelrevolution Nr. 280 und 281, Juni und Juli 2003
(3) vgl. meinen kurzen Nachruf in der FR vom 6.5.2003. Dort sind mir zwei ärgerliche Fehler unterlaufen, die angesichts der ungleich wichtigeren Erinnerung an J.A. und seine Kritik der Politik verschmerzt werden können. Sie bleiben jedoch ärgerlich. Zum einen habe ich in der Eile seinen Geburtsort ins italienische Südtirol verlegt; zum anderen habe ich, wie er griechisch geschult, jedoch nicht wie er auf der Höhe der Auto-Zeit, seine Liebe zum Alfa Romeo halbgebildet mit einem "ph" versehen: Alpha Romeo. Darob lachen die Göttinnen und Götter alle, hieße es bei Homer; so auch bei den Freunden Agnoli und Narr. Vgl. auch etwas werkbezogener meine J.A.-Skizze in: Prokla Juni 2003
(4) Geschrieben 1985 liest sich nicht nur dieser Satz wie gestern formuliert, s. Agnoli 1990, 167
Veranstaltungshinweis
Wolf-Dieter Narr war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2002 Professor für Politikwissenschaft an der FU Berlin. Er ist Gründungsmitglied des Komitees für Grundrechte und Demokratie.
Auf Einladung u.a. der Graswurzelrevolution-Redaktion referiert er am 16.7.2003, 16 Uhr, über "Das nicht so neue Tandem: Globalisierung und Gewalt".
Ort: SCH 5, IfS, Scharnhorststr. 121, Münster
Anmerkungen
Vieles von dem, was Johannes Agnoli geschrieben hat, ist vom ca ira-Verlag in Freiburg i. Br. neuerdings wieder veröffentlicht worden. Ich habe hier nur aus zweien der dort erschienenen Werke zitiert:
Die Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik, 1990.
Subversive Theorie. "Die Sache selbst" und ihre Geschichte, 1996.
Außerdem:
Luxemburg, Rosa, 1979: Zur russischen Revolution, in: Dies.: Gesammelte Werke Bd.4, S.332-373, Berlin.