Der Politologe und Publizist Dr. Wolfgang Hertle (*1946) war 1972 Gründungsmitglied und Redakteur der Graswurzelrevolution (GWR). (1) Heute arbeitet er im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung und betreut das Archiv Aktiv für gewaltfreie Bewegungen.
GWR: Wolfgang, wie hast Du Dich politisiert ?
Wolfgang Hertle: Die bayrisch-schwäbische Umgebung, in der ich aufwuchs, war konservativ katholisch, dominiert von der CSU. Mein erstes Engagement war im Bund Neudeutschland, heute Kath. Studierende Jugend. Es kam zu harten Konflikten, als ich anfing, aus der gepredigten Moral eigene Konsequenzen zu ziehen: meine damalige Umgebung gab mir deutlich zu verstehen, dass dies nicht erwünscht war. Sogar der Bischof von Augsburg bekundete mir Mitte der 60er Jahre schriftlich, dass meine Werbung für Kriegsdienstverweigerung nicht der Meinung der katholischen Kirche entspräche – mit Kopie an den Chef des Kreiswehrersatzamtes.
GWR: Was waren wichtige Ereignisse in Deinem politischen Leben ?
Wolfgang: Wenn mich irgend etwas zum gewaltfreien Engagement angestoßen hat, dann sicher keine positiven Anregungen aus diesem Umfeld, sondern mehr die Abscheu vor Gewalt, z.B. als ich die ersten Filme über Krieg und Konzentrationslager mit den Bildern von Leichenbergen sah und mich fragte: Wie kann es zu solchen Gräueltaten kommen, ohne dass sich die Menschen massenhaft verweigern? Von da an begann ich, in Geschichte und Gegenwart vielfältige Formen von Gewalt zu erkennen, auch solche in Zeiten, die gesellschaftlich als „normal“ gelten. Dass ich seit fast vierzig Jahren noch immer beim Thema Gewalt, d.h. viel mehr Befreiung von Gewalt geblieben bin, verdanke ich dem Kennen lernen der vielfältigen gewaltfreien Bewegungen. (2) Ich könnte so manche politische Ereignisse aufzählen, die ich mehr oder weniger aus der Nähe erlebt habe, aber wichtiger ist mir das Aufzeigen, dass und wie gewaltfreier und Gewalt abbauender Widerstand möglich ist, indem ich Wissen gerade auch über positive Beispiele verbreite.
Wie kamst Du zum gewaltfreien Anarchismus, und was bedeutet dieser für Dich ?
Ich entdeckte, dass es immer wieder Minderheiten gab, die versuchten, an die radikale Ausgangsbotschaft ihrer Gemeinschaften, ob Kirche, Partei oder Friedensorganisation anzuknüpfen. Oft war der Ausschluss der kritischen Minderheit durch die angepasste Mehrheit die Folge, und es faszinierte mich zu sehen, wie viele gemeinsame Überzeugungen es zwischen den an den Rand gedrängten Gruppen geben kann. Ich fand wesentliche Gemeinsamkeiten wie die prinzipielle Ablehnung von Gewalt bei Juden, Moslems, Buddhisten oder nicht kirchlich organisierten Menschen ebenso wie bei AnarchistInnen, ökologisch Motivierten oder HumanistInnen. Im Zentrum steht die Maxime, das Leben und seine Qualität zu schützen, von daher verbietet sich Gewalt gegen Menschen. Von der politischen Grundhaltung entspricht dem eine libertäre, Herrschaft und Gewalt ablehnende Einstellung, die Selbstorganisation auf allen Ebenen. Die abschreckenden Erfahrungen mit sozialdemokratischen oder kommunistischen Machterwerbsgruppen innerhalb der Friedensbewegung der 1960er Jahre sowie die positiven Erfahrungen mit Bürgerinitiativen und Basisgruppen brachten mich dazu, keine Energie mehr in parteipolitischen Streit zu setzen. Als die Gründung der Grünen auch innerhalb von Graswurzelgruppen diskutiert wurde, schien mir das Ergebnis von vorneherein klar. Nur, dass die Grundüberzeugungen so schnell dem Machterwerb geopfert werden würden, konnte ich mir nicht vorstellen.
Nach meinem persönlichen Verständnis ist Freiwilligkeit anstelle von Staatsgewalt logischer Bestandteil von Gewaltfreiheit. Eine herrschaftslose Gesellschaft kann nur durch Abschaffung und Überwindung von direkter und struktureller Gewalt erreicht werden. Wir müssen immer neu die Bedeutung von Begriffen klären. Unsere politische Gegner bemühen sich, die Begriffe, die uns wichtig sind, zu entwerten, verharmlosen oder zu verteufeln, in jedem Fall in ihrem Sinne umzudeuten.
Das verdient mindestens einen eigenen Artikel. Das verlangt, im konkreten Fall zu erklären, was gemeint ist. Meist ist eine eindeutige Praxis beredter und überzeugender als eine lange verbale Auseinandersetzung.
Anfang 1969 warst Du Mitbegründer der Gewaltfreien Aktion Augsburg (GAA). Was hat Euch damals zur Gründung dieser Graswurzelgruppe inspiriert ?
Weil damals pazifistische Gruppen in Augsburg wie die IDK – Internationale der Kriegsdienstgegner, der Internationale Versöhnungsbund und Pax Christi keine direkten gewaltfreien Aktionen organisierten, suchte ich bundesweit bzw. international. Im Sommer 1968 las ich mit Begeisterung Artikel von Theodor Ebert in ZEIT und Spiegel über die Widerstandsformen der tschechischen Bevölkerung gegen die Okkupation durch die Warschauer Pakt-Truppen, mit denen Ebert das Konzept von Sozialer Verteidigung illustrierte. Bald danach bekam ich erste Kontakte zu gewaltfreien Gruppen und Zeitschriften in Frankreich wie ‚Anarchisme et Nonviolence‘ und las Zeitschriften wie ‚Combat Non-Violent‘ und später ‚La Gueule Ouverte‘. Im englischsprachigen Raum beeindruckten mich ‚Peace News – for nonviolent revolution‘ aus London sowie ‚WIN Magazine‘ aus New York. Diese Zeitschriften mit Praxisberichten über Aktionen und Kampagnen in aller Welt eröffneten mir ein weites Feld inhaltlicher Zusammenhänge, dort las ich erstmals über politische Ökologie und gewaltfreie Revolution. Vor allem die Möglichkeit des Vergleichs machten den Mangel an radikaler Theorie und Praxis gewaltfreien Widerstands in Deutschland deutlich. (3)
Welche Aktionen sind Dir bis heute in Erinnerung geblieben?
Zum Beispiel die Beteiligung an einer internationalen Demonstration im Vatikan zugunsten der spanischen Kriegsdienstverweigerer. Die damalige DFG-IDK-Führung hatte ihre Mitglieder bewusst nicht informiert, da sie es nicht verantworten wollte, dass Mitglieder ihres Verbandes in die Folgen von Zivilen Ungehorsam verwickelt würden.
Die GA Augsburg ging allmählich von der Beratung von Kriegsdienstverweigerern über die Suche nach origineller Öffentlichkeitsarbeit zur direkten Aktion über. Wir traten z.B. als Songgruppe beim Ostermarsch auf, agitierten mit Flugblättern und Plakaten, die wir gelegentlich auch auf Windschutzscheiben von Bundeswehrfahrzeugen klebten. Wir verteilten z.B. Plastikbeutel als „Taschensärge“ und erklärten auf darin liegenden Flugblättern den verwunderten Passanten, dass dies im Falle eines Atombombenangriffs für ihre sterblichen Überreste ausreiche, da im nächsten Bunker nicht genügend Plätze vorhanden seien usw., falls man es bis dort überhaupt schaffe… (4) Ganz neues thematisches Terrain betraten wir 1969 mit der Aktion „Kritischer Konsum“, die auf die Verschleuderung von Ressourcen und Arbeitskraft durch geplanten Verschleiß, aber auch auf die Umweltbelastung hinwies.
Du warst 1972 Gründungsmitglied und Mitherausgeber der Graswurzelrevolution. Was hat Euch dazu bewogen, die GWR zu gründen?
1969 gründete Theodor Ebert die Zeitschrift ‚Gewaltfreie Aktion‘ (GA), von der ich einiges erhoffte. Bald wurde mir aber klar, dass dort inhaltlich von einem „gewaltfreien Aufstand“ (5) nicht ernsthaft die Rede sein konnte. Es fehlte eine sowohl praxisnahe als auch politisch radikalere Zeitschrift. Als ich erstmals den Gedanken äußerte, diesen Mangel mit einer neuen Zeitschrift für die gewaltfreie Bewegung zu beheben, vermutete Theodor Ebert, dass der Stoff für ein neues Blatt schon nach wenigen Nummern ausgehen werde. Gernot Jochheim schrieb im Editorial für das Heft 3 der ‚Gewaltfreien Aktion‘ (1. Quartal 1970) „Die Möglichkeit, eine Zeitschrift zum politischen Sammlungsorgan machen zu können, ist … passe´.“ So vermessen waren wir bei der Gründung der Graswurzelrevolution auch nicht, unsere Annahme bestätigte sich jedoch, dass es innerhalb bestehender Organisationen z.B. der Friedensbewegung viele Unzufriedene gab, sowie nicht oder nicht mehr Organisierte, die nach PartnerInnen für Diskussion und Aktion in einer eindeutig gewaltfrei aktiven Perspektive suchten. Daher starteten wir 1972 gleichzeitig mit der Vorbereitung der GWR-Nullnummer eine bundesweite Kampagne (die international bereits lief) zur Solidarität mit den spanischen Kriegsdienstverweigern. Über diese Kampagne kamen die ersten GraswurzlerInnen, bzw. Aktionsgruppen miteinander in Kontakt, ein Netz, das sich über LeserInnen- und Aktiventreffen in den Ferien um das Jahresende, um Ostern und im Sommer erweiterte. Daraus ergaben sich weitere Kampagnen, wie 1973 gegen die französischen Atomtests, andere unterstützten den Outspan-Boykott gegen die südafrikanische Apartheid oder den Streik kalifornischer Wanderarbeiter. Beim Ostertreffen 1974 in Bückeburg wurde die Graswurzelwerkstatt gegründet (siehe dazu die Interviews mit Helga und Wolfgang Weber-Zucht in GWR Nr. 284, 285, 286) Eine politische Strömung hatte sich in Bewegung gesetzt…
Wie seid Ihr auf den Namen „Graswurzelrevolution“ gekommen ?
Klar war die Grundausrichtung: Gewaltfreie Direkte Aktion, Antimilitarismus, freiheitlicher Sozialismus, Gesellschaftsveränderung von unten, Selbstorganisation, Ziviler Ungehorsam und Konstruktive Alternativen… es war nicht einfach, einen Namen zu finden, der nach Möglichkeit all das ausdrückt. Beim Aufschreiben von Adjektiven stand dann mal untereinander: Gewaltfrei, radikaldemokratisch, antiautoritär, sozialistisch: die Anfangsbuchstaben ergaben Gras, und ich erinnerte mich an einen noch nicht eindeutig besetzten Begriff, Graswurzel-Bewegung, die Übersetzung von grass roots movement – und so war der Name gefunden. Er entwickelte sich bald zu einem „Markenzeichen“. Falsch ist die Behauptung, der Name der Zeitung sei aus Prag gekommen, richtig dagegen, dass das lockere Original-Logo „graswurzelrevolution“, das von späteren Redakteuren begradigt wurde, von Ludwiga, entworfen wurde, die bis zum August 1968 in Prag bei der Zeitung ‚Rude Pravo‘ als Grafikerin gearbeitet hatte…
Hast Du noch Kontakte zu den ehemaligen MitarbeiterInnen der Augsburger Redaktion?
In der Augsburger Redaktion waren wir nie mehr als 3 Personen, die Idee und das Bedürfnis nach einer Zeitung, wie es dann die GWR wurde, war in meinem Kopf entstanden und bedeutete mir am meisten. Martin Scharr machte vor allem den Vertrieb. Wolfgang Kroner hatte nach seiner Zeit im Gefängnis von Barcelona (6) einiges im Studium nachzuholen. Ich habe seit langem keinen Kontakt mehr zu den beiden. 1973 zog ich zum Studium nach Berlin, nahm die Redaktion der Zeitung mit. Michael Schroeren kam aus Mönchengladbach dazu. Es gibt heute kaum noch Kontakte unter uns.
In den 1980er Jahren hast Du in der Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion in Wustrow gearbeitet. Heute betreust Du das Archiv Aktiv in Hamburg. Kannst Du die Geschichte von Kurve Wustrow und Archiv Aktiv skizzieren?
Seit dem Graswurzel-Sommerlager 1974 auf dem Kaiserstuhl, wo die GAF (Gewaltfreie Aktion Freiburg) uns mit den badisch-elsässischen Bürgerinitiativen bekannt machte, arbeiteten gewaltfreie Gruppen in der Anti-AKW-Bewegung. Nach Erfahrungen in Wyhl und Brokdorf bekam ich, ab der ersten Demo im Frühjahr 1977, Kontakt zum Gorleben-Widerstand. Berichte über das Life Center in Philadelphia, die Besetzungen des AKW-Bauplatzes Seabrook, New Hampshire und die Besuche im Zentrum für gewaltfreie Aktion Le Cun du Larzac in Südfrankreich brachten mich auf den Gedanken, dass in Deutschland etwas wie ein „ressource center for nonviolence“ notwendig sei. Wichtig war mir dabei die Praxisnähe, d.h. die Anbindung des Projektes an einen wichtigen gesellschaftlichen Konflikt, der vermutlich längere Zeit anhalten würde. Ohne den Gorleben-Konflikt in der Region wäre die Wahl nicht auf einen damals verkehrsmäßig sehr ungünstigen Ort nahe der DDR-Grenze wie Wustrow gefallen. Es war schade, dass damals in der Anfangsphase ab 1979/80 so wenige GraswurzlerInnen das Angebot annahmen, dieses Projekt zusammen mit anderen gewaltfreien Gruppen aufzubauen. Der Trägerverein wurde 1980 gegründet, die ersten Seminare fanden in gemieteten Räumen statt. 1981 begann die Renovierungsarbeit eines ehemaligen Gasthofes in Wustrow, im Volksmund „die Kurve“ genannt. (7) Als ich nach zehn Jahren Aufbauarbeit die Kurve schon wieder verlassen hatte, zog für ein paar Jahre die Redaktion der GWR mit Jochen Stay in die Kurve. Die Geschichte der Kurve muss erst noch geschrieben werden, Quellen über das erste Jahrzehnt liegen reichlich im Archiv Aktiv für gewaltfreie Bewegungen. Nur Mut!
Das heutige Archiv Aktiv – Anregungen und Auswertungen für gewaltfreie Bewegungen war 1987 als Archiv Ökologie und Frieden gegründet worden, als die Redaktion der graswurzelrevolution von Hamburg nach Heidelberg wechselte. Den Grundstock für das Archiv bildeten Austauschabonnements der GWR-Redaktion sowie der Nachlass von Gertrud Westhoff (1900-1987). Trude hatte seit den 50er Jahren Kontakte zu einem breiten Spektrum der Umweltschutz- und Friedensbewegung, von Frauen- und Dritte Welt-Gruppen und dabei viele Rundbriefe, Zeitschriften, Broschüren usw. gesammelt. Auf der langen Suche nach ihrer politischen Heimat fand sie diese gegen Ende ihres Lebens am ehesten bei den GraswurzlerInnen, welche sie nach ihren Kräften unterstützte. Später gingen weitere wichtige Sammlungen, wie die Unterlagen der Graswurzelwerkstatt aus Köln (vorher Kassel und Göttingen), des Koordinationsbüro Ziviler Ungehorsam Bremen zur Totalverweigerung an das Archiv an der Hamburger Sternschanze 1, einem ehemaligen Bahnhof. Von Zeitzeugen kamen Korrespondenzordner über ihre gewaltlose Arbeit in den 50er und 60er Jahren, manch fehlende Unterlagen ergänzte ich durch systematische Recherchen. Viel Material kommt von lokalen Gewaltfreien Aktionsgruppen oder bundesweiten Kampagnen wie dem Stromzahlungsboykott (Ende der 70er Jahre), x1000 mal quer, resist, von Standorten gewaltfreien Widerstands wie Mutlangen, Gorleben, usw.
Schwierig war ab 1984 der Übergang des Archivs von der Förderung über ABM-Stellen zum politischen Projekt, das sich aus Spenden finanziert und mit ausschließlich ehrenamtlicher Arbeit stets am Rande der Überlastung steht. Andererseits war diese Veränderung überlebensnotwendig für das Archiv. Ohne Verankerung in aktuellen Bewegungen bzw. ohne den Kontakt mit noch immer interessierten, aber nicht mehr aktiv an Aktionen Beteiligten wäre es weder möglich, den Nutzen für die gewaltfreie Bewegung zu beweisen, noch materiell zu überleben ohne jegliche institutionelle Förderung.
Es gibt leider eine Reihe von Beispielen, wie aus der Bewegung entstandene Einrichtungen irgendwann ganz aufgeben mussten oder ihre zentralen Inhalte bis zur Unkenntnis an die finanziell fördernden Instanzen anpassten, in sofern können wir mit der Aufbauarbeit der vergangenen zehn Jahre recht zufrieden sein – trotz der chronischen finanziellen Enge und personellen Unterbesetzung.
Ausdrücklich möchte ich alle, die in Gewaltfreien Aktionsgruppen mitgewirkt haben, aber auch diejenigen, die in aktuellen Kampagnen arbeiten, dazu einladen, sich am Schreiben der Geschichte(n) der gewaltfreien Bewegung zu beteiligen. Im Archiv Aktiv für gewaltfreie Bewegungen (u. a. auch Archiv der Kampagne X-tausendmal quer) lagert ein wertvoller Erfahrungsschatz aus gewaltfreien Kampagnen. Er sollte ausgewertet werden: von Aktiven aus Aktionsgruppen zur Anregung für weitere Praxis, von StudentInnen, die daraus Stoff für Seminar- oder Diplomarbeiten entnehmen, oder von JournalistInnen, um auch zwischen den heißen Phasen das (Selbst-)Bewusstsein der gewaltfreien Bewegung zu stärken. Aber wer ist kompetenter, „Geschichte zu schreiben“ als ZeitzeugInnen. Sie können am besten die verschiedenen schriftlichen Quellen mit ihren eigenen Erinnerungen, Aufzeichnungen und Schlussfolgerungen vergleichen und bearbeiten. Fragen von Forschern oder Jüngeren können dabei ebenso nützlich sein, wie der Austausch mit ehemaligen Aktiven.
Wie schätzt Du die heutige Situation der Linken und Libertären und die Bereitschaft der Leute zu politischer Aktivität ein?
In den letzten Jahren kamen einige Entwicklungen hinzu, die es schwerer machen als früher, Stärke von Bewegungen wahrzunehmen und zu messen. Deutlich ist der Trend, sich nicht mehr langfristig zu Engagement in Organisationen zu verpflichten, sondern sich lieber kurzfristig in Kampagnen einzuklinken. Der Sozialdemokratismus hat die Eigenschaft, Protestbewegungen zu integrieren oder zum resignierten Verstummen zu bringen, das war in Frankreich nach dem Wahlsieg Mitterands 1981 ähnlich. Die Medien tragen ihren Teil dazu bei, dass Bewegungen nur sporadisch und oberflächlich in der Öffentlichkeit vorkommen und dabei ihre Bedeutung eher kleingeschrieben als gewürdigt wird.
Der derzeitige Stil vieler Journalisten verlangt die Personalisierung, hebt lieber Einzelpersonen hervor, statt Gruppen und Kampagnen zu beschreiben. Langjähriger Widerstand mit unvermeidlichen Wiederholungen von Ereignissen wie der Protest gegen Castor-Transporte führen bei gelangweilten Medienvertretern zu Abwertungen wie „Museum des Widerstands“, wobei sie nicht in der Lage sind, die Kreativität und Lebendigkeit der oft sehr jungen DemonstrantInnen zu würdigen. Die Linke hat also die Aufgabe, die Realität von Bewegungen in der Öffentlichkeit deutlicher werden zu lassen.
Die größte Schwäche der Linken und der Libertären scheint mir die mangelnde Verwurzelung in relevanten Bevölkerungsgruppen. Wenn z.B. drängende Probleme wie Erwerbslosigkeit und Sozialabbau in der politischen Arbeit nicht ernst genommen werden (ich meine damit keine folgenlosen Verbalradikalismen), dann hat die Linke erst recht keine Chance, in der Bevölkerung die Hoffnung auf Gesellschaftsveränderung zu stärken und sich gemeinsam auf den Weg zu machen.
Wie siehst Du die Entwicklung der GWR? Was gefällt Dir?
Es ist schön und alles andere als selbstverständlich, dass es diese Zeitung nach 32 Jahren immer noch gibt und den Eindruck macht, dass sie noch eine Menge Zukunft vor sich hat. Schon weil es so wenige außerparlamentarische Gruppierungen und Zeitschriften gibt, die so lange und ohne Auszehrungserscheinungen bestehen, ist das eine beachtliche Leistung. Eine lebendige „Institution“, die für viele Menschen einen bleibenden Einfluss auf ihr politisches Denken und Verhalten ausübt.
Die Offenheit für die internationale Bewegung freut mich besonders.
Was fehlt oder missfällt Dir, wenn Du die letzten GWR-Jahrgänge betrachtest?
Manchmal sagen mir Menschen, die ich von ihrer früheren AktivistInnenzeit kenne, dass sie die GWR nicht mehr oder nur teilweise lesen. Das kommt nicht nur von oft sehr langen Artikeln. Die Überzeugung von Machbarkeit wie Gewaltfreiheit und Herrschaftslosigkeit kommt weniger aus radikalen Worten, als aus der Bewährung so großer Prinzipien in der ganz „normalen“ Welt. Den mangelnden Antworten auf zentrale Probleme der heutigen Gesellschaft entspricht das eigenartig verschwommene Bild der organisierten politischen Kraft der „GraswurzlerInnen“. Wenn der Verfassungsschutz über Jahre überdimensionierte Gruppen und Aktivenzahlen veröffentlicht, um die eigene Existenzberechtigung durch Aufbauschen der angeblich verfassungsgefährdenden Kräfte zu behaupten, ist das eine Sache. Wenn aber auch wohlgesonnene Menschen sich schwer tun, einigermaßen realistische Vorstellungen von der gesellschaftlichen Kraft zu gewinnen, bedeutet das zumindest Mängel ihrer Selbstdarstellung. Natürlich ist die GWR nur Teil des Ganzen, nur wo wird über diese Fragen sonst informiert und diskutiert? Weshalb bleibt z.B. die Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen (FÖGA) suspendiert, weshalb ist keine andere Organisationsform als Alternative in Sicht?
Welche Entwicklung der GWR wünscht Du Dir zukünftig ?
Mehr Verankerung in nicht-studentischen Milieus, mehr Entwicklung von Theorie und Praxis in Selbstorganisation, ob im produzierenden Bereich oder im Wohn- und Konsumbereich.
Protest und Widerstand sind notwendig, aber nicht ausreichend. Überzeugende Alternativen müssen entwickelt und als wirksam demonstriert werden. Klassiker-Texte können unterstützend wirken, aber die aktuellen Fragen verlangen angemessene Antworten für heute und morgen.
Was wünscht Du Dir für die Zukunft ?
Persönlich wünsche ich mir für die Zukunft mehr an gemeinschaftlicher Arbeit für eine gewaltfreiere Gesellschaft. Ich kenne viele beeindruckende und sympathische Menschen in der weltweiten Bewegung, aber mir fehlt zunehmend der Austausch und die Zusammenarbeit im Alltag.
Der Bewegung wünsche ich, dass sie selbstbewusster wird. Das heißt, nicht nur offensiv die Ziele vertreten, es bedeutet auch, die Vielfalt der Ansätze und Herkünfte in den Bewegungssträngen freundlich zu betrachten, sich klarer der Gemeinsamkeiten wie auch der Unterschiede bewusst zu werden. Dann erst können in bewusster Entscheidung für Zusammenarbeit die gesamten Ressourcen genutzt werden.
Wenn wir uns erfolgreiche gewaltfreie Kampagnen oder Gesellschaftsveränderungen anschauen, dann war immer der soziale Zusammenhalt wichtig. Egal ob die indische Unabhängigkeits- oder die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung, ob Larzac oder Wyhl. Stets entschlossen sich Menschen zum Widerstand zusammen aus gemeinsamer Betroffenheit über Zustände, die nicht mehr zu ertragen waren, oder über existenzielle Gefahren, die verhindert werden mussten. Sie kannten sich aus dem Alltagsleben, lebten in ähnlichen sozialen Verhältnissen, hatten gemeinsame kulturelle Wurzeln und weltanschauliche Vorstellungen. Diese sozialen Bindekräfte trugen zum Erfolg bei, wenn sie mit dem Willen zum gewaltfreien Widerstand verbunden wurden.
Beim Vergleich von Beispielen erfolgreichen gewaltfreien Widerstands gibt es zwei Muster:
- Vor Ort beschließt ein relevanter Teil der betroffenen Bevölkerung, sich zu wehren, einigt sich auf Ziele und Charakter des Widerstands und wird zum bestimmenden Kern der Aktionen, zu deren Unterstützung sie überregional aufrufen.
Oder:
- Der Widerstand vor Ort fehlt, ist uneins oder zu schwach: Überregional schließen sich Gruppen und Individuen zu einer Kampagne zusammen, die selbständig vor Ort Aktionen durchführt und / oder in einem dezentralen Konzept das Thema an möglichst vielen Orten verdeutlicht und dramatisiert. Nach dem Motto: Larzac / Wyhl / Gorleben… ist überall ! (8)
Die meisten Fälle sind Mischformen zwischen den beiden angedeuteten Modellen. Die Chance auf politischen Erfolg scheint dann am größten, wenn die Menschen vor Ort selbst das Handeln im Sinne gewaltfreien Widerstands bestimmen. Sie kennen am besten die örtlichen Bedingungen, können am ehesten den Widerstand in ihren Alltag einpassen. Wenn Junge wie Alte aus allen Berufen und Schichten mitmachen, vermitteln sie der Öffentlichkeit überzeugend Betroffenheit und moralisches Recht auf Widerstand. In lebenswichtigen Fragen wie Militär oder Atomindustrie sind natürlich auch entfernter Wohnende betroffen und haben das Recht, sich zu wehren und Aktionen notfalls auch ohne lokalen Widerstand zu organisieren.
Dennoch sollte nie die Stärkung des örtlichen Widerstandspotentials vernachlässigt werden.
Gewaltfreie Aktionsgruppen haben die besten Chancen, ihre Erfahrungen und ihre „Philosophie“ in die Diskussion vor Ort einfließen zu lassen. Wie weit Politisierung, Mobilisierung und Verankerung gelingt, hängt auch vom Verhalten der Auswärtigen gegenüber den Menschen vor Ort ab.
Wer in diesem Zusammenhang noch einmal den Artikel „Von Aktivisten und Reservisten -Anmerkungen zum Zustand der „gewaltfreien Bewegung“ in der Bundesrepublik“ in der ‚Gewaltfreien Aktion‘ Nr. 41/42, 3. und 4. Quartal 1979 liest, hat den Eindruck, dass sich seither der äußere Rahmen verändert hat, aber letztlich wenig am Zustand der gewaltfreien Bewegung.
Lieber Wolfgang, herzlichen Dank!
(1) Zur Geschichte u.a. der Graswurzelrevolution siehe: Bernd Drücke: Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland. Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998; sowie zahlreiche Texte auf www.graswurzel.net
(2) Siehe u.a. Matthew Lyons: The Grassroots Movements in Germany 1972-1985. In: Nonviolent social movements: a geographical perspective. Edited by Sephen Zunes, Lester R. Kurtz , Sarah B. Asher. 1999
(3) Wolfgang Hertle: Eine Quelle der Inspiration. Zur Bedeutung der WRI für die Entstehung der Graswurzelbewegung in der BRD. Graswurzelrevolution, 208/209, Mai 1996. Ab 1971 verfolgte ich den Widerstand auf dem Larzac. Vgl.: W. Hertle: Larzac 1971-1981. Der gewaltfreie Widerstand gegen die Erweiterung eines Truppenübungsplatzes in Südfrankreich. Weber, Zucht & Co. Viele Aktive haben mir erzählt, dass für sie entscheidende Anstöße aus dem Ausland kamen. In meiner Augsburg-Zeit habe ich nicht gewusst, dass es wenige Jahre zuvor bereits Ansätze zur Vernetzung gewaltfreier Gruppen samt Zeitschriften wie "direkte aktion" oder "konsequent" ("Gewaltfreie Zivilarmee") gegeben hatte.
(4) Gewaltfreie Aktion Nr. 13/14, 1972
(5) Theodor Ebert: Gewaltfreier Aufstand - Alternative zum Bürgerkrieg. Seit 1968 in mehreren Auflagen erschienene Dissertation
(6) Siehe Berichte über Wolfgang Kroners Solidaritätsaktion und die Kampagne zu seiner Freilassung in Nr. 1 und 2/3 der Graswurzelrevolution bzw. in: Gewaltfreie Aktion Nr. 13/14
(7) Vgl. Wolfgang Beer: Frieden - Ökologie - Gerechtigkeit. Selbstorganisierte Lernprojekte in der Friedens -und Ökologiebewegung. 1983. Kapitel: Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion, S. 39-53
(8) Vgl.: Wolfgang Hertle: Larzac, Wyhl, Brokdorf, Seabrook, Gorleben ... Grenzüberschreitende Lernprozesse Zivilen Ungehorsams. In: Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.): Reader Ziviler Ungehorsam. ISBN 3-88906-048-X
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