2004 bekam sie für „Mur“ den Großen Preis des Dokumentarfilm-Festivals in Marseille. Die israelische Pazifistin und Dokumentarfilmerin Simone Bitton verzweifelt nicht, sie kämpft mit ihren Mitteln, den Mitteln des Films, und für ihre Überzeugungen, die denen von GraswurzelrevolutionärInnen, was Israel/Palästina angeht, sehr nahe stehen. In einem früheren Film mit dem Titel „L’Attentat“ (Das Attentat) kritisierte sie die gewaltsamen Kampfformen des palästinensischen Widerstands. Nun ist mit „Mur“ die israelische Politik des Mauerbaus zwischen Israel und den besetzten Gebieten Thema ihrer Kritik. Der Film ist beeindruckend und aussagekräftig, eine politische Denunziation und ein Aufruf, Mauern und Grenzen nicht zu akzeptieren. Es ist zu hoffen, dass er baldmöglichst auch den Weg in deutsche Kinos findet, nachdem er nun seit einiger Zeit in Frankreich gezeigt wird.
Simone Bitton bezeichnet sich als arabische Jüdin und wurde in Marokko geboren. Mit ihrer Familie zog sie 1966 nach Israel. Als Soldatin der israelischen Armee beteiligte sie sich am Yom-Kippur-Krieg 1973. Nach dieser Erfahrung kehrte sie dem israelischen Militarismus den Rücken und wurde als pazifistische Filmemacherin zu einer wichtigen Stimme der israelischen Friedensbewegung. Sie entwickelte eine besondere Abscheu vor Grenzen, auch kultureller Art, und will alle drei Kulturen miteinander vermischen, die jüdische, die arabische und die pazifistische.
Bei ihrem bisherigen Meisterwerk, „Mur“, bleibt Simone Bitton dem Genre des Dokumentarfilms wohltuend eng verhaftet. Sie dokumentiert in Wort und Bild Beginn und Entwicklung der Arbeiten an der Mauer zwischen Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten. Im Gegensatz etwa zu Michael Moore gibt es keine kommentierende Stimme aus dem Off, die Aufnahmen von den Bauarbeiten und Interviews sowohl mit palästinensischen wie israelischen Anrainern der Mauer, mit Betroffenen ebenso wie israelischen Ministern (und deren haarsträubenden Begründungsversuchen) sprechen für sich.
Wir sehen, wie verarmte palästinensische Arbeiter aus Nachbardörfern ihre eigene Mauer bauen; wir sehen Militärkontrollen, Stacheldraht und immer wieder Menschen, die die Mauer passieren, um zu ihrer Arbeitsstelle auf der anderen Seite zu gelangen. Am Ende des Films hatte ich den Eindruck, die ganze Welt bestehe aus Mauern.
Der Mauerbau ist das Ende einer langen Geschichte verpasster Möglichkeiten. Besonders deutlich wird das an einer Stelle im Film, als ein israelischer Siedler eines Dorfes im Angesicht der entstehenden Mauer auf sein palästinensisches Nachbardorf blickt, das alsbald hinter Beton verschwinden wird. Er erzählt eine wahre Geschichte: Ein Palästinenser aus dem Nachbardorf hat zwei jüdische Kinder aus der Siedler-Gemeinde beim Baden im nahegelegenen See beobachtet, als diese fast ertrunken wären. Geistesgegenwärtig hat er sie gerettet, ist aber bei der Rettung selbst ertrunken. Der interviewte Siedler dachte sich, nun müsse endlich etwas geschehen, eine Kontaktaufnahme; es müsse endlich damit begonnen werden, gutnachbarliche Beziehungen zum palästinensischen Dorf aufzubauen, endlich begonnen werden, das Schweigen, die gegenseitige Unkenntnis und das daraus entstandene Misstrauen zu brechen. Er erreichte, dass der Gemeinderat eine Abordnung ins palästinensische Dorf sandte, um sich dort für die selbstlose Rettungstat zu bedanken und gemeinsam um den Toten zu trauern. Erste persönliche Kontakte wurden geknüpft. Nur so könnte sich zum Beispiel ein palästinensisches Gemeinwesen entwickeln, das jüdischen SiedlerInnen Minderheitenrechte einräumt (Voraussetzung für jegliches Bleiben unter palästinensischer Vorherrschaft) und andererseits sich bei den SiedlerInnen Respekt vor und für die palästinensischen BewohnerInnen und ihre lange Geschichte permanenter Demütigungen entwickelt. Im vorliegenden Fall gab es erste Gespräche, Einladungen für Gegenbesuche wurden ausgetauscht. Doch das war sechs Tage, bevor Ariel Sharon auf dem Gelände der Al-Aksa-Moschee herumtrampelte und die zweite Intifada begann. Alle Kontakte zwischen den beiden Dörfern brachen zusammen und wurden nie wieder aufgenommen.
Simone Bitton nimmt über Internet Kontakt zu einem Gesprächspartner in Gaza auf, einem Psychologen. Der Psychologe erklärt, dass heute 24 Prozent aller Jugendlichen in Gaza zu Selbstmordattentaten gegenüber israelischen BürgerInnen bereit seien, eine Rekordchiffre, die weiter ansteige. Er erklärt, dass in Gaza das beständige Gefühl eines Gefängnisses unter freiem Himmel, des permanenten Eingesperrt Seins herrsche, das die Menschen verrückt mache. Simone Bitton fragt ihn, ob sie denn auch als verrückt gelte, wenn sie für Frieden kämpfe. Antwort des Psychologen: Nein, für Frieden zu sein, ist für ihn als Psychologen normal.
Doch hier in Gaza sei kaum jemand „normal“, die Verrückten seien in der Mehrheit, das Unnormale werde zur Normalität erklärt.
Mich als gewaltfreien Revolutionär lässt dieser Film ans Exil denken, obwohl das Exil im Film gar nicht vorkommt. In einer Situation, in welcher die Bedingungen für gewaltfreien Widerstand nicht mehr gegeben sind, ist das Exil eine Möglichkeit, diese Bedingungen überhaupt erst wieder herzustellen. Der Film zeigt ein Leben, dessen Alltag derart von Grenzen und Mauern bestimmt wird, dass es einfach nicht auszuhalten ist. Und noch etwas zeigt mir der Film, was im Film selbst nicht vorkommt: dass es nämlich verdammt gut ist, dass die Berliner Mauer weg ist, was auch immer danach kam! Mauern und Grenzen töten humane Gefühle, machen die Menschen im wahrsten Sinne des Wortes wahnsinnig, verbreiten ein Gefühl des Gefängnisses unter freiem Himmel, und deshalb ist der Aufschrei am Ende der Pink-Floyd-Oper „The Wall“ noch immer aktuell: „Tear down the wall!“
Anmerkungen
Simone Bitton: Mur (Israel/Frankreich), Dokumentarfilm, 100 Min.