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„Das A im strahlenden Kreis“

Von linkeck zu Bakunin - 35 Jahre Karin Kramer Verlag. Ein Interview mit Karin und Bernd Kramer

| Interview: Bernd Drücke, September 2005

(GWR-Red.) Seit 1970 gibt es in Berlin den Karin Kramer Verlag. Er gibt Bücher zum Anarchismus, zur Anarchie und zu Utopien heraus. Libertäre Spuren findet er in der Philosophie, Ethnologie, im Surrealismus, in Politik, Literatur und Kunst. In seinem Programm versammeln sich Emma Goldman, Michail Bakunin, Louise Michel, Pjotr Kropotkin, Erich Mühsam, Errico Malatesta, Rudolf Rocker und viele andere anarchistische Klassiker. Wir gratulieren zum 35sten Verlagsgeburtstag und präsentieren unseren LeserInnen ein Interview mit Karin und Bernd Kramer, beide inzwischen über 60 und begeisterte Großeltern von Ben, anderthalb.

Graswurzelrevolution (GWR): „Was ist eigentlich Anarchie?“, „Leben ohne Chef und Staat“, „Unter der schwarzen Fahne“ … Viele Bücher Eures Verlags sind geeignet, Menschen mit dem „anarchistischen Virus“ zu infizieren. Gab es Schlüsselerlebnisse, die dazu beigetragen haben, dass Ihr Euch selbst auf die anarchistische Reise begeben habt?

Karin Kramer: Also gut: Virus. Viren sind überall. Aber eine rechtzeitige Schutzimpfung garantiert lebenslängliche Immunität.

Hat man also bei uns diese Impfung versäumt, bedurfte es deshalb keines Schlüsselerlebnisses, um sich für Anarchismus zu interessieren?

Das hat sich so ergeben, aus der eigenen sozialen Entwicklung, den Zeitumständen und der Beschäftigung mit Schriften, z.B. von B. Traven, Jack London, Tucholsky.

Zu Jack London fällt mir ein: Meine Mutter ging mit mir und meiner Schwester einmal in der Woche in eine Neuköllner Leihbibliothek. Dort „entdeckte“ ich Jack Londons zweibändiges Werk „Martin Eden“. Die Beschreibung des sozialen Elends, die Darstellung, wie Martin Eden, fast ein Analphabet, mit Hilfe einer gebildeten Frau (wo und wie sie sich kennen und lieben lernten, habe ich vergessen) langsam einer Welt zugeführt wird, die ihm bis dahin verschlossen war, was ihn aus seiner fatalistischen, gottgegebenen miesen Lebenssituation herausholt, nach und nach zum rebellischen Denken und Handeln treibt, das faszinierte mich ungeheuerlich. Raus aus dem Proleten-Ghetto. Lange verband die Liebe beide nicht, die Klassenunterschiede waren dann doch zu groß.

Manches treibt einen zum Nonkonformismus.

In unserer Familie gab es übrigens ein ganz frühes Berufsverbot. Mein Großvater, der in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, muss man heute wohl sagen, illegal SPD-Flugblätter in Hausbriefkästen verteilte, wurde denunziert und verlor seine Arbeit als Gärtner bei der Stadt Berlin.

Bernd Kramer: Es mag katholische, basis-grüne, kommunistische, faschistische Viren geben, aber anarchistische auf keinen Fall, denn das Virus ist ein giftiger Saft, und soweit ich informiert bin, gibt es noch kein anarchistisches Getränk. Um bei der biologischen Metapher „Viren“ zu bleiben: Das Virus ernährt, vermehrt sich auf Kosten eines Lebewesens, und da kommen wir von der Krankheit zur Politik: Das Virus ist ein Parasit, und alle erwähnten Gruppierungen sind Schmarotzer.

Ich hatte kein „Schlüsselerlebnis“. Die Hinwendung zu einem bestimmten Denken geschieht meist langsam, fast evolutionär. Nicht ruckartig: abends verfassungstreu ins Bett, morgens Anarchist.

Ich hatte kein „Damaskus“-Erlebnis wie der Judenjäger und Schlächter Saulus, der, auf dem Weg gen Damaskus, plötzlich von seinem Vorgesetzten – Gott – mit bissig-grellem Licht geblendet wurde und die drohende Chefansage vernahm: „Saulus, Saulus, wandle dich, lass ab von deinem frevelhaften Tun!“ Saulus vernahm es, besserte sich umgehend, wurde zum Paulus – und erfand das Christentum.

GWR: Soll das hier eine Religionsstunde werden?

Bernd Kramer: Warum nicht?!? Bleiben wir mal bei der Religion, bzw. beim irdischen Personal. Ich nehme an, die wenigsten werden den französischen Schriftsteller Gilbert Cesbron kennen. Habe alle auf Deutsch übersetzten Bücher gelesen. Am eindrucksvollsten finde ich sein „Die Heiligen gehen in die Hölle“. Die Hauptfigur, der Priester Pierre, geht in die verrotteten Vorstädte von Paris, sieht das verdammte Elend; schuftet als Arbeiter in den Bergwerken und erfährt dort am eigenen Leib, was brutalste Ausbeutung bedeutet. Nach und nach wird ihm klar, hier hilft kein „Gotteswort“, Bekehrung und Missionieren sind hier fehl am Platz. Beten beruhigt ihn zwar zeitweilig, ändert aber das soziale und auch mentale Elend der Kumpels nicht. Der erbarmungslose Verschleiß menschlicher Arbeit und Lebenskraft empört ihn mehr und mehr, entfremdet ihn von seiner vorgesetzten Behörde, der katholischen Kirche. Er beteiligt sich an kommunistischen Streiks und wird exkommuniziert.

Rebellion an allen „Fronten“: Ignazio Silone. „Fantomara“. Partisanen in der Auseinandersetzung mit dem Absolutheitsanspruch der Kommunistischen Partei Italiens. „Die Abenteuer eines armen Christen“. Christen ohne Kirche kämpfen gegen die Macht der römischen Kirche.

Wie wir wissen, manchmal kommt es auch auf die Bewohner des Elternhauses an. Ein Haus hatten wir zwar nicht, aber wer einen Vater als Mitbewohner in einer Drei-Zimmer-Wohnung hat, der aus der Kommunistischen Partei wegen des Hitler-Stalin-Paktes austrat und seinem Sprössling u.a. B. Travens Buch „Ein General kommt aus dem Dschungel“ in die Hand drückt, der hat einen guten Vater. Im Buch wird erstmals die Taktik des Guerillakampfes südamerikanischer Indios gegen die Großgrundbesitzer und das Militär beschrieben.

Ja, wer liest, entdeckt, und wenn einer auf seiner Lesereise Texte von Albert Camus, Ignazio Silone, Jack London, Graham Greene, Jaroslav Hašek, Arthur Koestler, Vera Figner usw. usf. mitnimmt, dem begegnet irgendwann das A im strahlenden Kreis.

GWR: Ihr habt im Februar 1968 zusammen mit anderen Mitgliedern der gleichnamigen Berliner Kommune die Linkeck als „erste antiautoritäre Zeitung“ gegründet. Ein neoanarchistisches Blatt, das sich mit antiklerikalen, staats- und SDS-feindlichen Collagen und Cartoons, zum Teil pornographischen Fotos, sowie Texten z.B. von Bakunin und den Linkeck-KommunardInnen sehr von den marxistisch geprägten Organen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) der damaligen Zeit absetzte.

Wie waren die Reaktionen inner- und außerhalb der Außerparlamentarischen Opposition?

Karin: Große Korrektur: linkeck wird klein geschrieben.

Bernd: Könnt Ihr mal das Binnen-I weglassen?!? Mich wundert, dass nicht gefragt wird: Wieso linkeck? Ein politisches Blatt müsste doch zum Beispiel heißen: Revolutionärer Sturm, Klassenkampf, Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft. – Beantworte die nicht gestellte Frage also selbst. Wir wollten, wir mussten eine Zeitung machen, mit einer Zeitung beginnt alle politische Arbeit. Wie sollte unser Blatt nun heißen? Wir hechelten verschiedene radikale Namen durch, bis einer von uns ein Rechteck zeichnete. Da sollte der Name rein. Aber dann die Erleuchtung: Wenn es ein Rechteck gibt, dann muss es auch ein linkeck geben.

Nicht nur die Politische Polizei war von linkeck „begeistert“, was sich in emsigen Beschlagnahmungen ausdrückte, auch liebe Genossen verschiedener Fraktionen übten sich in bigotten Reaktionen, fleißiger Denunziation und riefen zum Kaufboykott auf. – Ein Beispiel dafür, wie kleinbürgerlich ein Teil der Szene war. In linkeck (Nummer habe ich vergessen) druckten wir einige brave „Pornos“ ab.

Karin: Die waren so was von liederlich: Staatsanwalt treibt’s – und hat noch Söckchen an!

Bernd: Ein Aufschrei: frauenverachtend, menschenunwürdig, eklig. – Nur seltsam: Diese Ausgabe verkaufte sich blendend.

Noch ein Beispiel für den damaligen „Common-sense“ (übersetzt: gewöhnliche Sense): irgendein 1. Mai. Auf rotem Grund im weißen Kreis sollte ein Hakenkreuz auf die Titelseite von linkeck. (Der schusselige Drucker hatte aber eine Druckplatte falsch eingerichtet, und so landete das schwarze Hakenkreuz nicht im weißen Kreis, sondern darunter. Gefiel uns auch ganz gut.)

Karin: Wir wollten unser Blatt bei einer Veranstaltung in der Hasenheide, Berlin-Neukölln, auf der u.a. auch Rudi Dutschke, Bernd Rabehl vom SDS und der „linke“ SPD-Mann Harry Ristock sprachen, verkaufen. Tumult. Einige Genossen versuchten uns daran zu hindern. Ziemliches Gerangel. „Linke verkaufen eine Zeitung mit Hakenkreuz!!!“ – Die hatten die Ironie gar nicht kapiert: Die Nazis hatten den 1. Mai zum gesetzlichen Feiertag erklärt. – Das war unsere politisch-provokative Botschaft.

Fast vergessen: Zwei, drei Genossen von der linkeck-Redaktion waren zur Druckerei marschiert und klauten die Hakenkreuz-Druckplatten. Zum Glück hatten wir aber noch die Negativfilme und konnten so einen Nachdruck machen. – Die drei haben wir dann rausgeschmissen. Sie gründeten das Blatt CharlieKaputt. Nach drei Ausgaben gab’s Charlie nicht mehr. (Was uns freute.)

GWR: Das dadaistisch inspirierte Schnibbellayout und der schrill-provokative Stil von linkeck waren 1968 ein Novum und für viele danach herausgekommene Anarchoblätter eine Inspirationsquelle. Vor linkeck publizierte anarchistische Zeitschriften waren eher „seriös“ bzw. bleiwüstig aufgemacht. Kanntet Ihr andere anarchistische Periodika wie z.B. die von 1965 bis 1966 erschienene Direkte Aktion – Blätter für Gewaltfreiheit und Anarchismus aus Hannover? Gab es Kontakte zu Alt-AnarchistInnen?

Karin: Ja, das war das Schöne, viele Zeitungen und Zeitschriften kopierten linkeck; so auch eine Schüler-Zeitung aus Berlin-Spandau: Radikalinski. Einen riesigen Wirbel verursachten damit die Schüler, weil sie u.a. ihren Direktor, mit Wohnanschrift, sehr robust angriffen. – Sicher, die Direkte Aktion kannten wir, war uns jedoch zu brav.

Bernd: Das war das Wunderbare, viele alte Genossen kamen zu uns, wir gingen zu ihnen. Auf Anhieb fallen mir ein: Cajo Brendel aus Holland, Daniel Guérin aus Frankreich, Martha Wüstemann, lebte in München, hatte am Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen, Fritz Scherer aus Berlin, war in der „Kundenbewegung“ (vgl. GWR 295), Augustin Souchy, Willy Huhn, Johannes Agnoli, Georg Hepp, Rudolf de Jong, Willy Hupperts, Reinhold Ellenrieder, Maria Hunnink und Arthur Lehning vom Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam, Rob van Gennep, Buchhändler in Amsterdam (er unterstützte uns bei der Herausgabe der drei Bakunin-Bände). – Cajo Brendel, Daniel Guérin und Johannes Agnoli hatten wir zum Kronstadt-Kongreß in Berlin eingeladen.

GWR: Was waren Eure Inspirationsquellen?

Die Amsterdamer Provos?

Karin: Inspirationsquellen? Da floss vieles zusammen. Wir hatten Kontakte mit den Leuten von den „Situationisten“ in Frankreich, mit den „Umherschweifenden Haschrebellen“ in Berlin, Georg von Rauch, Tommy Weißbecker, Bodo Saggel, Günter Langer, Shorty usw. Von den Provo-Leuten kannten wir nur deren Pamphlete und Schriften.

Bernd: Wilhelm Reich wurde entdeckt. „Der sexuelle Kampf der Jugend“. (Später wurden sogenannte Raubdrucke seiner Schriften, die nicht im Handel, also nicht zugänglich waren, gedruckt.)

Und dann eben Bakunin! Auf ihn sind wir letztlich gekommen durch den dümmlichen Satz von Ernst Bloch: „Bakunin lehrte eine gefährlich leere Leidenschaft.“ Da musste aber mal nachgelesen werden!!! Resultat: „Staatlichkeit und Anarchie“ war fällig. Damals tricksten wir: Nicht aus dem Russischen, konnte ja niemand von uns, sondern aus dem Französischen wurde das Buch von Hansjörg Viesel übersetzt. Betreibt heute zusammen mit seiner Frau Karin das wunderbare Antiquariat Magister Tinius in Falkensee. Dann die drei Bände von Bakunins Gesammelten Schriften.

GWR: Vier angebliche linkeck-MitarbeiterInnen wurden wegen „Beleidigung“ und „Verbreitung unzüchtiger Schriften“ verurteilt. BILD machte eine Hetzkampagne gegen das „linke Terrorblatt“.

War die Repression der Grund dafür, dass linkeck 1969, nach Erscheinen der Nr. 9, beerdigt wurde?

Karin: Nicht „angebliche“ linkeck-Herausgeber, sondern wahrhaftige Blattmacher mussten die Staatskasse füttern. Um den Überblick über die diversen Verfahren und Strafgeldzahlungen nicht zu verlieren, wurden Listen angelegt; die Geldstrafen (bisweilen 800 DM) stotterten wir, schon allein um die Staatsdiener zu ärgern, in 5-, mal in 10-Mark-Raten ab.

Der uns aufgedrängte, überdurchschnittlich emsige Schriftverkehr mit Polizei- und Gerichtsbehörden hatte eine grandiose „Erfindung“ zur Folge. Alle Brieftexte unserseits an diese Dienststellen schrieben wir so eng an den linken Rand, dass ein normales Lochen geschweige denn ordentliches Abheften in die staatlichen Aktenordner unmöglich war. Die Kommune 1 hat unsere „Erfindung“ freudig übernommen.

Bernd: Einer unserer „Lieblingsfeinde“ war Hans-Joachim Stenzel, ein Springer-Karikaturist schlimmster Sorte. Schmierte für die B.Z. Absoluter Stürmer-Stil. Wir hatten ihn „Faschisten-Stenzel“ genannt, das kostete 800 DM Strafe wegen Beleidigung.

linkeck unterstütze damals die Kampagne Enteignet Springer mit Stenzel-Karikaturen, die wir auf Postkarten mit der Parole „Enteignet Springer“ druckten und verkauften.

Ein anderer Springer-Karikaturist, er war für DIE WELT zuständig, zeichnete Rudi Dutschke nach dem Attentat als angeschossenen Depp.

Heute kaum noch in Erinnerung, wie die Springer-Schmeißblätter damals gegen die Linke hetzten, und da entblödet sich im September 2005 der Europa-Abgeordnete der Grünen, Michael Cramer, nicht, im Hinblick auf die Umwidmung einer Straße in Berlin in Rudi-Dutschke-Straße, kundzutun: „Sowohl Dutschke als auch Springer hätten sich niemals mit der deutschen Teilung abgefunden“, das seien ihre Gemeinsamkeiten gewesen.

Schwachsinn. (Pikant ist ja, dass die Dutschke-Straße am Gelände des Axel-Springer-Verlages sein wird.) – Rudi, Rudi, bitte kehr‘ zurück und stell diesen Grünen an die Wand – und lass ihn stehen.

In unserem Buch „Gefundene Fragmente“ wird ausführlich auf die damalige Kampagne gegen Springer hingewiesen: Altvater / Blanke / Dutschke / Krahl / Schauer: „Die demokratische Öffentlichkeit ist zerstört“.

Natürlich war es auch die polizei-staatliche Fürsorge, die lästig und lästiger wurde, und die Geldstrafen trafen uns empfindlich. Letztendlich jedoch waren dann persönliche Reibereien für die Einstellung des Blattes und Auflösung der Wohngemeinschaft ausschlaggebend. (Der Irrsinn kannte ja keine Grenzen: Eine von der Kommune 1 in die linkeck-8-Zimmer-Wohngemeinschaft eingezogene Genossin bestand darauf, dass alle Zimmertüren ausgehangen werden sollten, sogar die Lokustür, damit wir unsere kleinbürgerlichen, verspießten Verhaltensweisen abbauen, und um der reinen Lehre Willen: Auflösung der Zweierbeziehungen.)

GWR: Mit welcher Motivation habt Ihr 1970 den Karin Kramer Verlag gegründet?

Karin: Die Umstände hatten sich geändert. Waren wir früher mit einem Stapel Bücher im ersten politischen Buchladen in Berlin bei Karin Röhrbein aufgekreuzt und hatten gleich kassiert, war das irgendwann nicht mehr möglich (wir hatten unter „Verlag für sozial-revolutionäre Schriften“, „Kollektiv-Verlag“, „underground-press (l)“ Bücher herausgegeben).

Die Bücherproduktion hatte erheblich zugenommen, es musste ein Gewerbe angemeldet werden. Aus mir unbekannten Gründen konnten wir keinen der drei Verlagsnamen nehmen, dann eben: Karin Kramer Verlag.

Bernd: Na, und KKV hörte sich doch gut an.

GWR: Könnt Ihr von Eurer Verlagsarbeit leben?

Karin: Ich werde das oft gefragt und antworte dann immer: „Es kommt auf die Bedürfnisse an.“

Bernd: Was posaunt der Pausenclown La-Springbrunnen? „Linke müssen nicht arm sein, aber gegen die Armut kämpfen!“ – Oskar, bitte notieren: Karin Kramer Verlag, Berliner Sparkasse, Konto-Nummer 141 000 4658 / BLZ 100 500 00.

GWR: Das wohl umstrittenste Buch, das bei Euch erschienen ist, ist „Silvio Gesell – der Marx der Anarchisten“, in dem der Freiwirtschaftler und Sozialdarwinist Gesell wenig reflektiert abgefeiert wird.

Bernd: Allmächtiger: Nicht schon wieder. Man lese meinen Brief an Frau Ditfurth in der ÖkoLinks. – Das Einzige, was man Gesell hätte vorwerfen können, dass er während der Münchner Räterepublik nicht die Banken besetzen ließ, sondern aus der deutschen Währung austrat.

GWR: Gibt es „Lieblingsbücher“, auf die Ihr besonders „stolz“ seid, dass sie bei Euch erschienen sind?

Karin: Jedes Kind ist mir das liebste. Mal eine schwere Geburt, mal eine leichte.

Bernd: Bevorzuge ich ein Buch, vernachlässige ich seine Brüder und Schwestern. Nun denn: Uli Bohnen/Dirk Backes: „Der Schritt, der einmal getan wurde, wird nicht zurückgenommen“ (über die Rheinischen Konstruktivisten); „Vom Wesen der Anarchie und Verwesen der Wirklichkeit“; Harry Pross „Lob der Anarchie“; „Der Heilige Berg Athos im Wandel der Zeit“; und der Katalog zur Bakunin-Ausstellung.

Karin: „Staatlichkeit und Anarchie“; Emma Goldman „Gelebtes Leben“; „Was ist eigentlich Anarchie?“; „Revolutionärer oder restaurativer Bildersturm?“.

GWR: Mal angenommen, alle AnarchistInnen würden auf eine „einsame“ Insel oder auf den unwirtlichen Planeten Anarres verbannt. Welche Bücher würdet Ihr mitnehmen?

Karin: Auf jeden Fall die alten Russen, hängt aber auch vom Zeitpunkt und der eigenen Verfassung ab.

Bernd: Ich mag keine „einsamen“ Inseln und Verbannung sowieso nicht. Ich bleibe in Berlin-Neukölln, Braunschweiger Straße 22, 2. Stock links, und Niemetzstraße 19, parterre. Gelesen werden mal wieder Schriften von E. M. Cioran, Kropotkin und Herzen und ein paar alte Griechen.

GWR: Attac-Sprecher Sven Giegold hat in der taz vom 20.9.02 in einem Gespräch mit dem Ex-Anarchisten Daniel Cohn-Bendit auf die Frage, ob er „auch mal Rätekommunist gewesen“ sei, geantwortet: „Ja, aber nicht Jahre, sondern viel kürzer. Im ersten Semester Politik habe ich begriffen, dass Anarchismus Unsinn ist und dass Selbstverwaltung eine gute Idee für Leute ist, die so leben wollen – aber keine Vision für die ganze Gesellschaft.“ Giegold ist keine Ausnahme. Viele tummeln sich nur ein, zwei Jahre in der anarchistischen Szene und ziehen sich dann zurück. Was meint Ihr, woran das liegt?

Bernd: Mon dieu, diese Schwatzbacke Cohn-Wende-it. Ein salbadernder Schwadroneur. Woher sollte ich wissen, weshalb etliche Zeitgenossen die „Seiten“ wechselten?

GWR: Wie erklärt Ihr Euch, dass Ihr nun schon so lange der anarchistischen Idee, dem Traum von einer herrschaftslosen Gesellschaft, treu geblieben seid und nicht die Seite gewechselt habt?

Karin: Es hat sich nichts Besseres angeboten.

Bernd: Wohin sollte ich denken, wenn rechts und links, oben und unten, vorne und hinten nichts zu erblicken ist, was das bisherige Denken zu einem „Seitenwechsel“ animieren könnte?!? Ich bin konservativ: erhalten, was sich bewährt hat. Neues gibt es genug. Weiter suchen, nicht in saturierter Unbeweglichkeit erstarren.

GWR: Was ist Eure Lebensphilosophie?

Karin: Nicht unbedingt: Tages Arbeit, abends Gäste, saure Woche, frohe Feste – eher: … denn die Freude, die wir geben, kehrt ins eigene Herz zurück.

Bernd: „Lebensphilosophie“? – Leben. Miete zahlen. Die hedonistischen Antriebskräfte nicht versiegen lassen.

GWR: Was plant Ihr zukünftig, und welche Perspektiven seht Ihr, als Verlag, persönlich und als Teil der anarchistischen Bewegung?

Bernd: Was sagte der olle Brecht? „Mach nur einen Plan…“ – Ein satter Lottogewinn muss her, um u.a. endlich Max Nettlaus beide voluminösen, handschriftlichen Bände zu transkribieren und zu drucken. – Die anarchistischen Bewegungen mögen weiterhin so rege und phantasievoll bleiben.

GWR: Habt Ihr Ratschläge, die Ihr jungen Menschen mit auf den Weg geben möchtet?

Karin: Eher nicht.

Rat und Schlag! Wichtig: immer neugierig bleiben.

Bernd: Mein Gott, was soll ich darauf antworten?!?

Bin kein Pädagoge, habe keine Richtlinienkompetenzen.

Vielleicht das: Da sprach der Herr zum Knecht: mir geht es aber schlecht. Da sprach der Knecht zum Herren: das hört man aber gern.

Kontakt

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12055 Berlin (Neukölln)
Tel.: 030/6845055
Fax: 030/6858577
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Der Karin Kramer Verlag auf der Frankfurter Buchmesse (19. - 23.10.2005): Halle 3, 1. Stock, Gang B, Stand-Nr. 165