Auch wenn sich Ursachen und Beweggründe seit den siebziger Jahren angehäuft haben und kleinere Eruptionen oder größere Revolten (1) in den französischen Banlieues (Vorstädten) immer wieder ausbrachen, so hat doch die Revolte vom November 2005 ihre konkreten Anlässe:
Am 27. Oktober 2005 wurden in der nordöstlichen Vorstadt von Paris, Clichy-sous-Bois, Ziad Benn (17 Jahre alt) und Banou Traoré (15) getötet und Metin (21) schwer verletzt, als sie sich vor Polizeiverfolgung in einem Stromtransformatoren-Gelände versteckten. Regierungschef de Villepin und sein Innenminister Nicolas Sarkozy sprachen von „Einbrechern“ und bestritten die Tatsache einer Polizeiverfolgung. Schnell wurde klar, dass es an diesem Tag keinen Einbruchsversuch gegeben und die Regierung gelogen hatte. (2)
Am Sonntag, 30.10.2005, nach einem friedlich verlaufenen Schweigemarsch vieler BewohnerInnen von Clichy-sous-Bois, hatte die über Nacht zusammengezogene Bereitschaftspolizei von CRS und Gendarmerie mit rassistischen Parolen und dem Wurf einer Tränengasgranate in den Frauengebetsraum der Moschee von Chêne Pointu, einem Stadtteil von Clichy, das Fass zum Überlaufen gebracht. (3)
Doch zu dieser Zeit war die eigentliche Provokation, auf welche die Jugendlichen in den Vorstädten in den folgenden Nächten immer wieder Bezug nahmen, bereits geschehen. Am 25.10.2005 hatte Innenminister Sarkozy bei einem Besuch unter Polizeischutz in der Vorstadt Argenteuil einigen BewohnerInnen zugerufen, er werde die Vorstädte mit einem „Kärcher“ (deutscher Hochdruckreiniger) von diesem „racaille“ (Gesindel/Abschaum) „nettoyer“ (säubern). Der konservative Bürgermeister von Argenteuil, Mothron, dem tags darauf sein Auto abgefackelt wurde, kritisierte diese Ausfälle Sarkozys, zusammen mit anderen Bürgermeistern der Vorstädte. Auch Staatspräsident Chirac und Regierungschef de Villepin versuchten nach den ersten Tagen der Aufstände, die verbalen Provokationen von Sarkozy aufzuhalten – vergeblich. Sarkozy wiederholte seine „Brandreden“ im Verlauf der Auseinandersetzung mehrfach. Zuletzt sagte er bei einer Rede am 19.11.2005, als die Zahl der niedergebrannten Autos, Geschäfte, Firmen und sozialen Einrichtungen deutlich zurück gegangen war, der Ausdruck „racaille“ sei wohl noch zu gemäßigt gewesen. (4)
Sarkozy: Typus des omnipotenten Macho
In Frankreich ist nicht nur die Arbeiterklasse noch kämpferisch. Auch die herrschende, bürgerliche Klasse bringt immer wieder Personen hervor, die offensiv den Klassenkampf von oben betreiben. Das herrschende System benötigt solche Repräsentanten à la Franz-Josef Strauß nicht notwendiger Weise, doch von Zeit zu Zeit macht der Typus des biederen Parteibürokraten dem Typus des sich omnipotent gerierenden Machos Platz. Nicolas Sarkozy, derzeitiger Chef der Regierungspartei UMP (Union pour une Majorité présidentielle) und Innenminister, will Chirac beerben und Präsident werden. Vor der französischen Öffentlichkeit präsentiert er sich als populistischer Macher, dem diplomatisches Herumgerede missfällt.
Sarkozy ist ein Hans-Dampf in allen Gassen, brüstete sich etwa damit, während der Aufstände in den Vorstädten 14mal das Kampfterrain vor Ort besucht zu haben – natürlich tagsüber und unter dem Schutz der Polizei, die er selbst befehligt und in Ansprachen vor Polizeieinheiten scharf macht. (5) Über die praktischen Auswirkungen seiner Polizeistrategie berichtet ein Lehrer aus Clichy von dem Abend des Tränengaseinsatzes in der Moschee: „Viele Augenzeugen und Videos bezeugen klar und deutlich, dass die Polizei die Auseinandersetzung mit den Jugendlichen suchte: Sie schrieen ihnen rassistische Beschimpfungen zu, forderten sie auf zu kämpfen.“ (6)
Für Nicolas Sarkozy ist die polizeistaatliche Niederschlagung des Aufstands eine persönliche Angelegenheit, eine Frage der Ehre. Er hat die Sozialmaßnahmen für die Vorstädte gekürzt und das sozialdemokratische – die Revolte sowieso nur aufschiebende und das Elend verwaltende – Konzept einer Nachbarschaftspolizei der Regierung Jospin (Partie Socialiste, PS) beendet. Er setzt ganz auf Repression; die jetzt verkündeten Projekte und Integrationsversprechen der Regierung de Villepin sind alle langfristig angelegt und nicht das Papier wert, auf das sie geschrieben wurden.
Sarkozy hat mit seinen Äußerungen in Argenteuil einen Maßstab vorgelegt, dessen Rücknahme oder Abschwächung er als männliche Schwäche betrachten würde, von einer öffentlichen Entschuldigung ganz zu schweigen. Deswegen gelten die Regeln der politischen Klasse, nach denen ein individueller Rücktritt manchmal der Durchsetzung der Staatsraison dient, für ihn, den omnipotenten Macho, nicht. Denn er kann nicht irren oder auch nur einmal die falsche Wortwahl treffen. Er muss als Person ganz siegen oder ganz untergehen.
Nur ganz kurz, als die von den Medien wie ein innenpolitischer Wasserstand vermeldete Zahl der brennenden Autos noch täglich anstieg (bis auf über 1.400 in der Nacht auf Montag, 7.11.), schien er umstritten und war einige Tage öffentlicher Kritik ausgesetzt; inzwischen aber rühmt er sich, nach jüngsten Popularitätsumfragen um 11 Prozentpunkte zugelegt zu haben. (7)
Sarkozy sieht seine Provokations- und Repressionsstrategie als ersten Akt der Präsidentschaftswahlen 2007. Dafür fischt er Stimmen bei den Rechtsextremen.
Der Begriff „racaille“ hat eine lange Geschichte. Das mit den Nazis kollaborierende Vichy-Regime benutzte ihn zur Denunziation seiner GegnerInnen.
Heute wird der Begriff von einem anderen Propagandisten männlicher Omnipotenz, Jean-Marie Le Pen, dem Chef des Front National (FN), der während der Aufstände in den Vorstädten den Einsatz der Armee und ein unbefristetes Notstandsregime forderte, zur Stigmatisierung „der massiven und unkontrollierten Immigration“ benutzt. (8) Auffälliger Weise sparte Le Pen in seiner öffentlichen Kritik am angeblich zu laschen Vorgehen der Regierung gegen die Vorstadtrevolte gerade Sarkozy aus. Hier stehen sich zwei von sich selbst überzeugte Kampfhähne gegenüber. Während Le Pen glaubt: „Was Nicolas Sarkozy sagt und tut, bringt die Leute dazu, zu glauben, dass Le Pen Recht hat“, denn die „ziehen immer das Original der Kopie vor“, (9) ist Sarkozy davon überzeugt, mit seiner Strategie Le Pen das Wasser abzugraben und mit Stimmen aus dem Lager der FN Präsident zu werden.
Sarkozys Strategie baut auf die Tendenz, dass die verarmten Weißen in den Vorstädten, die ihre Kinder aus finanziellen Gründen nicht in Privatschulen schicken und die im Gegensatz zum gehobenen Mittelstand die Vorstadtsilos aufgrund andernorts teurer Mietpreise nicht verließen, als die Familien aus der Immigration einzogen, und die seither FN wählen, nun ihn als den starken Mann unterstützen. Dazu muss mann/frau wissen, dass die Vorstädte keine geschlossene Einheit der Bevölkerungsgruppen bilden.
Viele Vorstädte im Nordosten von Paris hatten oder haben noch kommunistische Bürgermeister, wie etwa Michel Beaumale in Stains. Doch dessen Schäfchen, die inzwischen verarmten ArbeiterInnenfamilien der Vorstädte, waren bereits bei der Präsidentschaftswahl 2002 in Scharen zum FN übergelaufen, auch aus Motiven eines stillen Rassismus gegen die direkt neben ihnen wohnenden Menschen aus Immigrantenfamilien. In Stains haben der FN und seine Abspaltung MNR bei den Wahlen 2002 zusammen 21,88 Prozent der Stimmen erhalten, während der KP-Kandidat Robert Hue nur 10,29 Prozent erhielt. Stains hat eine Arbeitslosenzahl von 20 Prozent. (10)
Statt dass sich verarmte Weiße mit den Familien aus der Immigration verbündeten, konkurrierten sie und drifteten nach rechts. Während der Aufstände hat es in manchen Vierteln Ansätze zur Selbstjustiz weißer Franzosen gegeben, und die Polizei musste mitten in ihren Repressionseinsätzen dazu aufrufen, dass nur PolizistInnen, nicht auch ZivilistInnen Menschen festnehmen dürfen. Ein französischer Anarchist beschreibt die Strategie von Sarkozy, diese weißen Rassisten dem FN abspenstig zu machen, so: „Die lokale Miliz ist nicht mehr undenkbar. (…) Je tiefer die Scheiße, desto mehr kann er (Sarkozy; d.A.) Gefühle der Unsicherheit instrumentalisieren.“ (11)
Es sind die stillen RassistInnen, die weißen BewohnerInnen der Vorstädte, denen Sarkozy in Argenteuil versprach, ihre Viertel vom „Gesindel zu säubern“.
Ehrenkodex der Jugendgruppen
„Als der Minister die Jugendlichen ‚racaille‘ genannt hat, hat sich diese Nachricht schnell in den Häusern verbreitet. Das haben Alte und Junge gehört. Und die Antwort, vor allem der Jugendlichen, lautete: Er will Krieg? Den kann er haben!“ (12) So Omeyya Seddik, Sprecher des Mouvement de l’immigration et des banlieues (MB).
Immer wieder gaben die Jugendlichen zur Legitimierung ihrer Aktionen die Provokationen von Sarkozy an. Dabei kommt die berechtigte Forderung nach Respektierung ihrer Menschenwürde ebenso wie die Wut über die alltäglichen Personenkontrollen der Polizei zum Ausdruck.
Die Fixierung der Aufständischen auf Sarkozy hat allerdings noch andere Gründe, und der Bedeutungsgehalt dessen, was die Jugendlichen unter Respekt verstehen, variiert. In diesem Zusammenhang haben die mir bekannten Analysen französischer AnarchistInnen bisher einen Aspekt zu sehr ausgeklammert, den der geschlechtlichen Separation, d.h. die Tatsache, dass die nächtlich revoltierenden Jugendlichen zu nahezu hundert Prozent Männer sind. Wenn der französische Libertäre Laurent (siehe seinen Text „Kurzgespräch am Tresen“ in dieser GWR) die Schäden bei Streikaktionen mit den Schäden der Brandaktionen bei den Vorstadt-Aufständen gleich bewertet, vergisst er, dass sowohl bei den von ihm genannten LehrerInnenstreiks wie auch bei den in Frankreich immer wieder vorkommenden SchülerInnenstreiks Frauen und Schülerinnen gleichberechtigt beteiligt waren und aktiv werden konnten. Das Schulsystem war durch diese Aktionsformen zeitweise ebenfalls monatelang außer Kraft gesetzt worden.
Weder die „Alten“ noch die „grands frères“, die großen Brüder (die sich nach dem Scheitern staatlicher MediatorInnen während der Revolte eher als Schlichter betätigten), noch gar die Schwestern der Jugendlichen in den Vorstädten gehen nachts mit ihnen zusammen auf die Straße. Es ist eine aus Männern und männlichen Jugendlichen bestehende soziale Bewegung, die sich von Sarkozy in ihrem Ehrenkodex angegriffen fühlt und seine Kriegsrhetorik aufgreift. Die in der Revolte aktiven Männergruppen entstanden in einer Situation permanenter Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Langeweile oder auch weit verbreitetem Schulversagen. Die männlichen Jugendlichen finden sich außerhalb ihrer Familien zusammen und bilden informelle Cliquen. Der französische Schriftsteller Jean-Claude Izzo nennt in seinen Romanen diesen Sozialisationsprozess „Chourmo“ (sich mit befreundeten Jungs treffen, um was zu unternehmen). (13)
Werden Frauen oder Mädchen aus Vorstadtfamilien nach ihren Brüdern befragt, ergibt sich ein Bild der geschlechtlichen Separation. Entweder bleiben die Schwestern zuhause und müssen im Haushalt helfen, oder sie gehen tagsüber mit Freundinnen aus. Zur geschlechtlichen Arbeitsteilung in den Familien der Vorstädte sagen sie: „Wir werden nicht gleich erzogen. Die Eltern sind strenger mit uns“, so eine Achtzehnjährige aus einer Einwandererfamilie. (14)
„Unsere Brüder sind Chamäleons: zuhause freundlich, draußen schrecklich. Sie können gut zu den Eltern sein. Aber wenn sie draußen sind, sind sie nicht wieder zu erkennen“, so eine weitere Achtzehnjährige. (15) „Wenn er mit seiner Clique zusammen ist, macht ein Junge alles mit, wie auch das Werfen eines Molotow-Cocktails. Allein würde er das niemals machen.“ (16)
Zur Herausforderung durch Sarkozy auf dem Feld der Ehre: „Ihr Ruf steht auf dem Spiel, das ist ihr Stolz.“ Wer aus ihrer Sicht als Junge bei Aktionen nicht mitmacht oder gar Kritik üben würde, schließt sich selbst aus der Clique aus: „Dann bist du bouffon (Witzfigur, d.A.), un canard (übertragen: feucht, durchweicht, Weichling; d.A.).“ (17) „Es wäre der Gipfel der Scham. Selbst Mädchen könnten dich herumstoßen“, so eine Siebzehnjährige. (18) Und eine Fünfzehnjährige: „In einer Gruppe reicht es, wenn einer sagt: ‚Stell‘ dich nicht so an‘! Dann muss er mitmachen, wenn nicht, ist er ein bouffon. Und in der cité bedeutet das den Tod.“ (19)
In diesen Gruppen männlicher Jugendlicher wird also nicht Individualität, sondern Konformitätsdruck erzeugt. Der linke Journalist Bernhard Schmid weist in seinen Analysen ebenfalls auf die problematische Wertehierarchie der informellen Gruppen in den Vorstädten hin: „Einer verbreiteten Mentalität zufolge hat ‚der Stärkere oder jedenfalls der Rücksichtslosere‘ zu überleben, die Gewalt gegen Frauen erreicht hohe Werte, und Markenartikel – jedenfalls bei Sportklamotten – sorgen für Faszination, da sie es scheinbar ermöglichen, auch ‚jemand zu sein‘ und ‚respektiert zu werden‘.“ (20)
In die Kameras oder Mikrophone der ein Vokabular der Kriegsberichterstattung ebenso gierig wie verantwortungslos aufgreifenden bürgerlichen Medien rufen die Jungs aus solchen Gruppen heraus dann sich überschlagende Gewaltphantasien wie: „Wenn wir uns eines Tages organisieren, werden wir Granaten, Sprengstoff und Kalaschnikows haben … Wir sehen uns dann auf der Bastille, und es wird Krieg herrschen.“ (21)
Am 7. November 2005, auf dem Höhepunkt der Revolte, starb ein Bewohner von Stains, der 61-Jährige J.-J. Le Chenavier. Er hatte mit einem Nachbarn um 21.15 Uhr eine brennende Abfalltonne gelöscht. Sie drehten eine Runde und stießen auf eine Gruppe Jugendlicher, denen sie Vorhaltungen machten. Als sie blieben, um Autos zu beobachten, warfen Jugendliche Steine nach ihnen. Beide wurden dann von einem Jugendlichen, der sich aus einer 15-köpfigen Gruppe gelöst hatte, durch Faustschläge getroffen und stürzten zu Boden.
Obwohl vorsichtige BeobachterInnen sowie der kommunistische Bürgermeister von Stains davor warnten, sofort einen Zusammenhang mit den Aufständen herzustellen, und erst das Ende einer Untersuchung abwarten wollten, griffen die bürgerlichen Medien, das Fernsehen und Sarkozy den Vorfall effekthascherisch auf. Sarkozy empfing demonstrativ die Witwe des Toten. (22)
Unter diesen Bedingungen – und das war das Ziel der Strategie Sarkozys – gab es kaum Solidarisierungswellen unter der weißen Bevölkerung mit den revoltierenden jugendlichen Männern in den Vorstädten. Lediglich ein Zusammenschluss aus Menschenrechtsgruppen, linken Gewerkschaften und Gruppierungen aus der Bewegung für eine andere Globalisierung sprach sich publizistisch am 14.11.05 gegen die Notstandsgesetze aus. (23) Doch Solidaritätsdemonstrationen im Pariser Zentrum kamen während der Hochphase der Revolte im Gegensatz zu anderen Mobilisierungen über vergleichsweise wenige TeilnehmerInnen nicht hinaus. Das kann auch ein Beleg dafür sein, dass sich mit willkürlicher Gewaltrhetorik und -praxis zumindest mancher revoltierender Gruppen keine BündnispartnerInnen außerhalb der Vorstädte gewinnen lassen und somit kein Spaltpilz in die weiße Mehrheitsbevölkerung getrieben werden kann, was nötig wäre, wenn der Aufstand einer Minderheit nicht ein solcher bleiben soll. So ist in Frankreich heute die Zustimmung zu den Notstandsgesetzen der Regierung Villepin erschreckend hoch.
Wohlwissend, dass Ausgangssperren und Haussuchungen keineswegs flächendeckend umgesetzt werden oder gar die von immer mehr sicherheitstechnischen Anlagen und Wachdiensten geschützten Viertel der Reichen betreffen, sondern differenziert und gezielt auf einige Vorstädte und ihre BewohnerInnen mit dunkler Hautfarbe angewandt werden, haben sich nach einer aktuellen Umfrage vom 9.11.2005 73 (!) Prozent der BürgerInnen für die Ausnahmegesetze aus dem Jahre 1955 ausgesprochen. (24)
Wäre eine andere Verlaufsform der Revolte denkbar gewesen, welche die Wut gegen Sarkozy ebenso entschlossen zum Ausdruck gebracht und gleichzeitig Breschen in die Mehrheitsbevölkerung geschlagen hätte?
Wohl kaum. Chourmo-Gruppen bilden sich über Jahre hinweg und strukturieren Verhaltensnormen (bis hinein in die Slang/Rap-Sprache), Ehrenkodex und Ausdrucksformen. Trotzdem gab es einen kurzen Augenblick, das Aufflackern einer Möglichkeit, als nämlich am Samstag, 29.10.2005, jener Schweigemarsch von 1.000 BewohnerInnen aus Clichy-sous-Bois für Ziad und Banou stattfand, auf dem DemonstrantInnen T-Shirts mit mort pour rien (tot für nichts) trugen, lückenlose Aufklärung forderten, und der in der Moschee von Chêne Pointu endete. Wenn es hier einen Gedankenblitz, Geistesgegenwart oder eine Aktionsstrategie für einen Treck, für einen Marsch etwa ins Herz von Paris, auf die Champs-Elysées, unter den Eiffelturm, vor den Elysée-Palast oder in Reichenviertel gegeben hätte, der in eine Belagerung mit Zeltcamps usw. übergegangen wäre, hätten vielleicht breitere Solidarisierungswellen und eine aktive Frauenbeteiligung ermöglicht werden können.
„Raus aus den Vorstädten – Die Gesamtgesellschaft konfrontieren!“, wäre die Parole. Martin Luther King organisierte 1966 beim Chicago Freedom Movement einen Marsch der Schwarzen aus ihren eigenen Vierteln in Stadtviertel reicher Weißer. Sie wurden angriffen. Daraufhin kam es zu Spaltungen und Solidarisierungseffekten in der weißen US-amerikanischen Öffentlichkeit, die schnell zur Bereitstellung von Jobs und Wohnungen für Schwarze führten. (25)
Nur so eine Utopie …
(1) Allein in den ersten sieben Monaten des Jahres 2005 wurden in ganz Frankreich 21.900 Autos in Brand gesteckt, ohne dass das von der internationalen Presse aufgegriffen worden ist; vgl. Bernhard Schmid: Aufruhr in den Städten, 5.11.2005, www.heise.de/tp/artikel/21/21282/1.html
(2) Vgl. Didier Hassoux: Les dérapages de Villepin et Sarkozy, in: Libération, 31.10.05, S. 4.
(3) IMC Global: Revolte in Frankreich, in: Indymedia, 5.11.2005.
(4) Vgl. Jean-Baptiste de Montvalon, Sylvia Zappi: Les maires de banlieu critiquent Nicolas Sarkozy, in: Le Monde, 3.11.2005, S. 12; Eric Aeschimann, Antoine Guiral: Villepin et Sarkozy sur des charbons ardents, in: Libération, 3.11.2005, S. 8; Nachrichtensendung über Sarkozys Rede vor der UMP, LCI, 19.11.2005.
(5) Vgl. Philippe Ridet: M. Sarkozy juge son bilan "plutôt positif" et ne se sent pas "politiquement affaibli", in: Le Monde, 15.11.2005, S. 12.
(6) Antoine Germa: Staatsterror in Clichy. Paris brennt. Ein Augenzeugenbericht. In: linkezeitung.de/Ausland/Frankreich/StaatsterrorinClichy.htm
(7) Vgl. Philippe Ridet, siehe Anm. 5, a.a.O.
(8) Le Pen, zit. nach Christiane Chombeau: Jean-Marie Le Pen critique Jacques Chirac et épagne le ministre de l'intérieur.
(9) Le Pen, zit. nach Chombeau, ebenda, a.a.O.
(10) Alain Abellard: Michel Beaumale, la solitude du maire de Stains, in: Le Monde, 11.11.05, S. 20.
(11) Jacques Langlois: Hipponyme et copronyme en banlieu, in: Le Monde libertaire, Nr. 1416, 17.11.2005, S. 15.
(12) Interview mit Omeyya Seddik, Sprecher von MB, in: il manifesto, 4.11.2005.
(13) Vgl. z.B. Jean-Claude Izzo: Chourmo, Unionsverlag, Zürich 2000; oder ders.: Total Cheops, Unionsverlag, Zürich 2000.
(14) Grace, 18 Jahre, zit. nach Luc Bronner: "Nos frères, ce sont des caméléons: gentils à la maison, des terreurs dehors", in: Le Monde, 8.11.2005, S. 12.
(15) Misteek, 18, zit. nach Luc Bonner, ebenda.
(16) Grace, zit. nach Luc Bonner, ebenda.
(17) Grace, zit. nach Luc Bonner, ebenda.
(18) Audrey, 17, zit. nach Luc Bonner, ebenda.
(19) Habiba, 15, zit. nach Luc Bonner, ebenda.
(20) Bernhard Schmid: Aufruhr in den Städten. Hintergründe der Eskalation in den französischen Trabantenstädten, 5.11.2005, www.heise.de/tp/r4/artikel/21/21282/1.html
(21) Zit. nach einer Gruppe Jugendlicher (Abdel, Bilal, Youssef, Ousman, Nadir, Laurent) aus Aubervilliers; vgl. Yves Bordenave, Mustapha Kessous: Une nuit avec des "émeutiers" qui ont "la rage", in: Le Monde, 8.11.2005, S. 12.
(22) Patricia Tourancheau: A Stains, un retraité plongé dans le coma, in: Libération, 7.11.2005; vgl. auch Jean-Marc Ducos: Stains pleure Jean-Jacques, le retraité frappé à mort, in: Politique arabe de la France, blogspot, 8.11.2005; Eric Lecluyse: Un mort à Stains. Violences urbaines, in: Express, 7.11.2005.
(23) Sylvia Zappi: A gauche, un début de mobilisation, in: Le Monde, 15.11.2005, S. 12.
(24) Umfrage der Zeitung Le Parisien vom 9.11.05.
(25) Clayborne Carson et al. (Hg.): Civil Rights Chronicle, Lincolnwood 2003, S. 318; vgl. auch IMC Global: Revolte in Frankreich, siehe Anm. 3, a.a.O.