Stell dir vor, es ist Krieg, alle gehen hin, massakrieren sich fünf Monate lang gegenseitig, "Hurra" brüllend… und klettern plötzlich aus ihren Schützengräben, treffen sich im Niemandsland, tauschen Geschenke aus und spielen Fußball, ungeachtet des Krakeelens ihrer Offiziere von hinten. Klingt nicht besonders gut erfunden; ist auch nicht erfunden. Genau das passierte zu Weihnachten 1914 an der Westfront des Ersten Weltkriegs, nicht einmal, sondern massenhaft, auf hunderten von Kilometern der Frontlinie.
Es ist einer der größten und erstaunlichsten Triumphe des Prinzips der Anarchie, der Selbstorganisation, über Befehl und Gehorsam im 20. Jahrhundert. An manchen Frontabschnitten konnten die Soldaten bis weit ins Jahr 1915 hinein von ihren Offizieren nicht dazu veranlasst werden, wieder auf ihre Feinde zu schießen – trotz Drohung mit dem Kriegsgericht, trotz intensivster Hasspropaganda.
Zu den Eigentümlichkeiten dieser Geschichte zählt, wie sorgfältig sie in Deutschland (und wohl auch in Frankreich) aus dem kollektiven Gedächtnis ausradiert wurde. Während in Großbritannien Zeitungen mit großformatigen Fotos und Augenzeugenberichten aufmachten, die die Fraternisierungen an der Front dokumentierten, war auf dem Kontinent die Zensur hellwach. Und auch die geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung war lange eine rein angelsächsische Angelegenheit.
Erst 2003 erschien hierzulande ein Buch, das sich mit diesem … ja: Ruhmesblatt der europäischen und deutschen Geschichte befasst. Und soeben lief in den Kinos ein Film an, der den Christmas Truce zum Thema hat: „Merry Christmas“.
Christian Carion hat das Drehbuch zu dieser französisch-deutsch-britisch-belgisch-rumänischen Koproduktion geschrieben und Regie geführt; bereits im Mai wurde der Streifen außer Konkurrenz in Cannes vorgestellt. Was man nun im spärlich gefüllten Kinosaal zu sehen bekommt, ist eine rührende pazifistische Geschichte; aber die Pointen, die in dem historischen Ereignis liegen, wurden weitgehend verfehlt.
Das fängt bereits damit an, dass Carion einen Film vorlegt, der von der FSK die Altersfreigabe ab 12 bekam, und dementsprechend kommt der Stellungskrieg von 1914 denn auch daher. Freilich: man will das Splattermäßige dieses Krieges nicht in allen Details serviert bekommen, die zerstückelten Leichen, das stundenlange Schreien, Röcheln und Sterben im Niemandsland. In „Merry Christmas“ aber fehlt eigentlich alles, was dem Krieg ein hässliches Gesicht geben könnte: die Ratten, die so prächtig gediehen, dass sie groß wie Katzen waren, der Schlamm, in dem man oft wochenlang knietief stehen musste. Auf der Leinwand ist alles adrett, es wird auch vor Weihnachten so wenig geschossen und so dezent gelitten, dass man sich fragt, warum dann eine Sehnsucht nach Frieden überhaupt entstehen konnte.
Wichtiger ist, dass die politische Dimension des Ereignisses nicht erfasst wurde. Im Kino sind es die Offiziere, die die Initiative für einen Waffenstillstand ergreifen. So etwas hat es 1914 zwar gegeben, Frontoffiziere haben mitgemacht bei den Fraternisierungen; aber die Pointe war eben, dass Selbstorganisation (in dieser Befehl-Gehorsams-Sphäre par excellence!) zum Geschichtsprinzip wurde. Schrifttafeln mit Weihnachtsgrüßen wurden hochgehalten, Tannenbäume auf die Brustwehr gestellt, Zigarettenpackungen in den ‚feindlichen‘ Schützengraben geworfen. Eine Geste gab die andere, bis man sich zum großen Potlatch im Niemandsland traf.
Das Kommunikationsmedium, das dabei alle Sprachbarrieren überwand, war (neben, jawohl, dem gemeinsamen religiösen Horizont) die Musik. Sängerwettstreite über die Gräben hinweg schufen 1914 vielfach den gemeinsamen Resonanzraum, die gemeinsame Sprache als Basis des Vertrauens, mit dem Leute, die sich vorgestern noch gegenseitig abzuschlachten trachteten, sich plötzlich als Gleiche begegnen konnten. Hierin steckt eine wichtige Lehre für alles Nachdenken über herrschaftsfreie Vergesellschaftungen. Und es waren keine revolutionären Arbeiterlieder, die da gesungen wurden, sondern sentimentale Weihnachts- und Heimatmelodien. Weihnachten 1914 in Flandern machte „Stille Nacht“ in Großbritannien allererst populär, und deutsche Landser sangen inbrünstig „Auld Lang Syne“. Der Film „Merry Christmas“ verpasst auch hier das Wichtigste, wenn er die Musik, welche die Feinde anrührt, nicht von einer Kompanie, sondern von einem solistischen Opernbuffo intonieren lässt (der auch noch seine hübsche blonde Kollegin vom Sopran, die zufällig auch seine Geliebte ist, mit an die Front gebracht hat – es ist unglaublich!). „Merry Christmas“ kann auch sonst die entscheidende Rolle der Musik nicht plausibel machen, da es keine Sprachprobleme gibt: Alle sprechen in diesem Film fließend Deutsch.
Wer die atemberaubende Geschichte vom Weihnachtsfrieden an der Westfront kennen lernen will, nehme dafür lieber das Sachbuch von Michael Jürgs in die Hand. Es wurde 2003 zuerst veröffentlicht und ist soeben in einer wohlfeilen Taschenbuchausgabe erschienen. Der Text Jürgs‘ ist auch nicht frei von Mängeln: sehr sprunghaft, etwas zu feuilletonistisch, etwas zu distanzlos durch Sätze, so kurz, als habe sie ein Maschinengewehr abgefeuert. Aber Jürgs wird seinem reichhaltigen Quellenmaterial im Ganzen gerecht, und seine Schützengräben wirken nicht wie ein militärisches Legoland.
Stell dir vor, es ist Krieg, keiner ging hin, aber nach zwei Tagen oder zwei Wochen geht die Knochenmühle weiter, als wäre nichts geschehen. Wieso wurde aus dem kleinen Frieden von unten kein großer? Hierauf geben weder Jürgs noch Carion eine befriedigende Antwort. Im Film werden die Fraternisierer aller Nationen einfach an andere Frontabschnitte versetzt. Als in der Schlussszene die deutschen Soldaten im Reichsbahn-Waggon auf ihren Verschub nach der Ostfront warten, stimmen sie, einer nach dem anderen, trotzig ein vorher von ihren schottischen Feind-Freunden gelerntes Heimweh-Lied an.
Wenigstens hier kommt die musikalisch induzierte Selbstorganisation zum Zuge, und sie hat im Film, anders als in der Wirklichkeit, das letzte, wenn auch bescheidene, Wort. Immerhin.
Kinofilm
Merry Christmas (Joyeux Noël). F/D/GB/B/RU 2005, 115 min. Regie: Christian Carion. Darsteller: Diane Krüger, Benno Fürmann, Guillaume Canet, Daniel Brühl, Gary Lewis u.a.
Buch
Michael Jürgs: Der kleine Frieden im Großen Krieg. Westfront 1914: Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten. München: Goldmann 2005. 352 S., 9,95 Euro.