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Lesebewegungen

Ein aktuelles Verzeichnis deutschsprachiger alternativer Printmedien ist erschienen

| Edo Schmidt

Bernd Hüttner (Hg.): Verzeichnis der Alternativmedien 2006/2007. Zeitungen und Zeitschriften, AG SPAK Bücher, Neu-Ulm 2006, ISBN 3-930830-77-9, 220 Seiten, 18 Euro

In Anlehnung an einen Witz über vereinsmeiernde Deutsche konnte man in den bewegten Jahren zwischen 1967 und 1989 fragen: „Was machen zwei Linke, wenn sie sich treffen?“ – Antwort: „Sie gründen ein Zeitungsprojekt!“

Heute wäre sicherlich Weblog, Wiki, Mailinglist oder ähnliches hinzuzufügen.

Dennoch meint Bernd Hüttner, Herausgeber des 2006 erschienenen „Verzeichnis der Alternativmedien“: „Die Szene der alternativen Stadtzeitungen, die als die klassischen alternativen Medien gelten, ist tot.“ (S. 17) Sie seien entweder eingestellt oder hätten sich dermaßen kommerzialisiert, dass ihr alternativer Charakter verlorengegangen sei.

Dies gelte für das gesamte Spektrum alternativer Medien, die sich „zu Tode gesiegt“ hätten: „Ihre Anliegen und Praxisformen wurden selektiv in den postfordistischen Kapitalismus integriert. Dies ist nicht negativ, denn niemand kann heute ernsthaft in die bleierne Zeit der 1960er Jahre in Ost und West zurück wollen.“ (S. 19)

Heute, da das Blei längst durch Coltan ersetzt worden ist, finden sich im Verzeichnis dennoch immerhin 452 Adressen alternativer Printmedien, die einen interessanten Überblick über die deutschsprachige alternative Szene vermitteln, ohne dabei den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Sie sind sowohl nach Erscheinungsort als auch thematisch geordnet, wobei sich die Publikationen nicht immer eindeutig einem Thema zuordnen lassen.

Die thematische Vielfalt hat sich über die vergangenen Jahrzehnte erhalten, nur quantitativ ist ein Rückgang alternativer Printmedien zu verzeichnen. Zu fragen wäre, ob sich mit der Einstellung oder der Kommerzialisierung und Integration von Einzelprojekten tatsächlich bestimmte Themen erledigt hätten, wie z.B. „die Frauenfrage“. Die Unterdrückung von Frauen ist durch die moderne, staatliche „Gleichstellungspolitik“ sicher nicht beendet, sondern nur subtiler geworden. Es lässt sich allein an der Anzahl von Printmedien eben nicht alles ablesen!

Ausgewählte Beispiele alternativer Printmedien

Eingeleitet wird das Verzeichnis von Artikeln aus der (alten) Szene alternativer Printmedien. So schreibt Burghard Flieger über die drei Großprojekte WOZ (Wochenzeitung, Zürich), taz (Tageszeitung, Berlin und weitere Lokalredaktionen) und junge Welt (Berlin). Sein Beitrag gewährt Einblicke in die Geschichte dieser drei Projekte und zeigt auf, wie sie mittels genossenschaftlicher Strukturen – im Falle der taz aber auch mittels Einwerbung kommerzieller Anzeigen z.B. der Bundeswehr -, am Leben gehalten werden konnten. Deutlich wird, dass auch erfolgreiche Großprojekte wie die WOZ kollektiv strukturiert sein können und nicht zwangsläufig Zentralisierung und Machtkonzentration erfordern.

Gottfried Oy widmet sich in seinem Beitrag den theoretischen Bedingungen, unter denen Alternativmedien produziert wurden (und werden). Die „Masse“ sollte nicht einseitig agitiert werden, sondern als „Lebenswelt war Gegenöffentlichkeit auch immer dadurch geprägt, Medienkompetenz vermitteln zu wollen, sich selbst zu Medienproduzenten zu machen und dadurch letztlich auch das eig(e)ne Rezeptionsverhalten radikal zu verändern.“ (S. 40)

Sinnbild für diese Entwicklung ist ein radikal offenes Redaktionskonzept, wie es die in Berlin von 1969 bis 1972 erscheinende linksradikale Agit 883 hatte: „883 wird genossenschaftlich geführt [Offene Finanzdarlegung] Das Blatt wird nicht allein von denen getragen, die es technisch zuwege bringen. 883 hat nur Bestand, wenn jeder mitarbeitet; als Informant, Anzeigengeber, Rechercheur, Diskutant, Kritiker + Zahler. Genossen! Schickt Beiträge, Nachrichten, Pornos, Bilder, Ideen, Vorschläge, Kritik, Infos, Karikaturen, Agit-Prop, Anregungen, Anzeigen etc.“

Die Redaktionssitzungen dieser weit über die Grenzen Westberlins ausstrahlenden Zeitung glichen zumindest zeitweise öffentlichen Szenetreffen, auf denen sich die verschiedenen Fraktionen der Linksradikalen Westberlins heftige Wortgefechte lieferten, so der Beitrag von Knud Andresen, Hartmut Rübner und Markus Mohr.

Einer der am interessantesten und besten geschriebenen Beiträge ist der von Gisela Notz über die Anfänge der Neuen Frauenbewegung, über Frauenprojekte und Printmedien. Angesichts des Stellenwerts, den heute die Emma als „Frauenzeitschrift“ in der bundesdeutschen Öffentlichkeit innehat, und wie sie gleichzeitig die interessanteren, weil radikaleren Ansätze, wie z.B. die Frauenzeitschrift Courage, überdeckt(e), kann man nur froh über die Veröffentlichung dieses Artikels sowie dieses Buches sein. Es erhellt den Blick auf Bewegungen jenseits des Mainstreams.

Sehr gut zu lesen ist auch der einzige Beitrag über eine ostdeutsche Zeitschrift, nämlich der von Dieter Moldt über die Geschichte des mOAning star, einer „Zeitschrift der Offenen Arbeit und der Kirche von unten“. Moldt beschreibt humorvoll und lebendig, wie in der DDR gegen den Staat und im Schutz der Kirche Öffentlichkeit hergestellt wurde. Diese nicht ganz ungefährliche Arbeit ließ den politischen Gegner oft sehr alt aussehen, was in dem Beitrag sehr sympathisch beschrieben wird.

Aufschlussreich ist der Artikel von Andi Kuttner über „Fanzines und die Geschichte ihrer Entstehung“. Angefangen bei ersten Versuchen von Science Fiction-Fans in den USA in den 1950er Jahren über Fanzines aus der Rock- und später der Punk-Bewegung bis zur heutigen Entwicklung von Weblogs und ähnlichem im Internet vollzieht Kuttner quasi nebenbei die Entstehungsgeschichte des DIY-Prinzips (Do it yourself) nach.

Die Beiträge von Lena Laps über eine weitere feministische Zeitung (IHRSINN) und ein Interview mit dem Redakteur Bernd Drücke über die anarchistische Monatszeitung Graswurzelrevolution runden den redaktionellen Teil des Verzeichnisses ab.

Insgesamt lässt sich sagen, dass die Texte im Verzeichnis der Alternativmedien sehr informativ, zum Teil hervorragend geschrieben und damit gut zu lesen sind. Darum kann ich dieses Buch jeder und jedem wärmstens empfehlen.

Auch aufgrund des gründlich recherchierten Adressenverzeichnisses sollte es einen Stammplatz in allen linken Archiven, Infoläden und Zentren haben.