Gestern früh habe ich in der Warteschlange vor der Supermarktkasse schnell einen Blick in die Bild-Zeitung geworfen, um endlich einmal zu erfahren, was der Schwarze Block ist: Ein Handynetzwerk blutjunger Hooligans. Aha. Es hat keine 50 Sekunden gedauert, den ganzen Artikel zu lesen.
Wenig später sitze ich mit meinem Sohn beim Frühstück in einem Gartenlokal. Er hatte gerade per Handy die neuesten Nachrichten von seinem Kumpel Kai aus Heiligendamm bekommen. Kai ist zwanzig, macht beim AnArchiv mit und sitzt gerade am Sicherheitszaun fest: Sitzblockade und nichts zu essen… Am Tag zuvor, so berichtet Kai völlig konsterniert, stand er gerade in bester Proteststimmung mitten im bunten Gewimmel eines unglaublich riesigen, phantasievollen und gewaltfreien Demonstrationszuges, als sich urplötzlich, schwuppdiwupp, eine Kohorte von mehreren hundert schwarzgewandeten Kampfkadern an der Spitze aufbaute, einige Parolen von sich gab, und in perfekt eingeübter Routine begann, das Pflaster aufzubrechen.
Ein Stoßtrupp des „Schwarzen Blocks“ in einer manöverreifen Vorführung! Eine erste Salve von Steinen schoss durch die Luft, und reflexartig begann der Gegenangriff der ebenfalls vermummten Polizeistoßtrupps.
Nach kurzem und heftigem Schlagabtausch traten die Kämpfer des Schwarzen Blocks in bestaunenswert disziplinierter Form den taktischen Rückzug an und mischten sich unter die Demonstrantinnen und Demonstranten – nicht wenige, nachdem sie geschwind ihr Outfit gewechselt hatten und nunmehr als nette, bunte Demonstranten wieder auftauchten: Noch bevor den DemonstrantInnen so recht klar wurde wie ihnen geschah, war die Kacke auch schon am dampfen…
Erregt unterhalten wir uns über die Sinnhaftigkeit solcher Aktionen. Automatisch schießt mir das Bild der selbsternannten Kampfschwadrone vom „Fliegenden Suizidkommando“ aus Monty Pythons „Leben des Brian“ ins Hirn. Mein Sohn findet es unmöglich, andere so zu instrumentalisieren und will wissen, was das mit Anarchie zu tun habe. Der Mittfünfziger am Nebentisch faltet seine „Bild“ zusammen und mischt sich ins Gespräch: Er könne das alles nicht mehr begreifen und denke mittlerweile ans Auswandern in ein Land, in dem nicht alles so bescheuert sei.
Am Nachmittag ruft Genosse Drücke an und schildert mir seine frischen Eindrücke aus Heiligendamm. Er bestärkt meine Assoziation vom „Fliegenden Suizidkommando“ noch – durch eine ganz andere Spielart von „Schwarzem Block“:
Auch die Polizei, so Bernd, schicke jetzt schwarz vermummte Stoßtrupps rücksichtslos in die Reihen friedlicher DemonstrantInnen, wo die ebenfalls oft blutjungen Polizisten mit voller Brutalität drauflos prügelten, Leute herausgriffen, Gegengewalt provozierten. Was läuft da eigentlich ab, frage ich mich. Eine Art kampfsportliches Kräftemessen nach militärischen Ritualen? Ein Schaukampf zwischen linksradikalen und staatlichen Avantgardekämpfern um die Lufthoheit im TV-Nachrichtenmarkt…?
Während ich noch darüber sinniere, ruft der Südwestfunk an und will ein Interview. Der Moderator würde gerne wissen, ob die Autonomen Anarchisten seien, und ob man sich unter Anarchie das vorzustellen habe, was der Schwarze Block gerade vorführt.
Interessante Frage.
Vom Zorn…
Nun bilde ich mir ja nicht ein, ein Interpretationsmonopol in Sachen Anarchie zu besitzen und schon gar nicht, was die Autonomen betrifft, mit denen ich nie was am Hut hatte. Trotzdem stelle ich mich den Fragen und beantworte sie so gut ich eben kann.* Aber erst nach dem Gespräch kommt die Reflexion über das, was gestern an der Supermarktkasse begann und heute bei SWR 2 endete, so richtig in Gang.
Was ist der Schwarze Block? Eine Organisation? Ein Fun-Event für wütende Protest-Kids, die den ultimativen Kick suchen? Eine linke Wehrsportgruppe? Nein – vor allem ist er ein Mythos, der wie eine Wanderstafette von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. Ein Selbstläufer, der viel zu medienwirksam ist, als dass er in einer Mediengesellschaft jemals sterben dürfte.
Der Begriff tauchte vor über 20 Jahren im Umfeld von Startbahn West und Hafenstraße auf, verdichtete sich in Kreuzberg zu einer kalendarisch fixierbaren Dauerveranstaltung und ist inzwischen ein internationales Phänomen. Gespeist wurde er zunächst vom (überaus berechtigten) Zorn sowie dem (überaus frustrierenden) Gefühl der Ohnmacht einer Protest- und Widerstandsbewegung gegenüber der Brutalität der Staatsmacht.
Getragen wurde der Schwarze Block seinerzeit von einer Melange aus militanten Anarchos und Autonomen, und viele fanden diese Form, sich zu wehren, legitim. Auch ich. Und deshalb war ich gelegentlich auch genau dort zu finden. Bis mir die Beschränktheit des Ganzen aufging. Und zwar nicht erst, nachdem sich jener unsägliche Kampfheldenkult breit zu machen begann und in Frankfurt der erste Polizist erschossen wurde.
Das war zwar ein erschreckender Anlass, die militaristische Degenerierung des Ganzen zu erkennen und ein guter Grund, sich von solcher Art Gewalt abzuwenden. Aber die tieferen Gründe sind weitaus schlimmer:
Eine politische Bewegung, die sich auf das militärische Niveau ihrer Gegner begibt, kann nicht anarchistisch sein. Eine politische Kultur, deren Selbstzweck sich in militantem Protest erschöpft, muss gesellschaftlich steril bleiben.
Eine Szene, die sich in ihrer eigenen Beschränktheit abkapselt, verblödet irgendwann in der Liturgie ihrer militanten Rituale. All das wird auf Dauer einfach nur langweilig. Und genau dort dümpelte dann auch diese Szene um den Schwarzen Block – als überwiegend deutsches Phänomen – schließlich vor sich hin: als jederzeit kurzfristig mobilisierbares Reserveheer im linksautonomen Ghetto.
Bis 1999 mit der „Battle of Seattle“ das Phänomen des Schwarzen Block in einer Art Urknall plötzlich zu einem internationalen Begriff wurde. Die Medien waren entzückt und hatten fortan eine griffige optische Markenikone – samt passendem Outfit, Szenesprache und Straßenchoreographie. Hinter dem gefälligen Medienspektakel steckte indes ein neuer Kopf mit neuen Ideen: John Zerzan, der mit seiner Handvoll Junganarchos aus Portland, Oregon, in Seattle das zelebrierte, was er in seinen überaus klugen Essays eines neuen Anarcho-Primitivism entwickelte: Eine ethisch wohl begründete, technologie- und globalisierungsfeindliche Gesellschaftskritik, deren Stärke in der Analyse archaischer Agrargesellschaften liegt und deren Schwäche in der völlig fehlenden Perspektive eines gangbaren Weges zu einer libertären Gesellschaft. Seine Botschaft reduziert sich auf den militanten Frontalangriff: zerschlagen ja, aufbauen nein!
Konsequenterweise ist er ein offener Bewunderer des als „Unabomber“ bekannt gewordenen Mathematikprofessors Theodore Kaczynski. Zerzans Thesen erinnern frappant an die brillante Verteidigungsrede Émile Henrys, der vor seiner Guillotinierung 1894 in ergreifenden Worten seinen Hass auf die Gesellschaft zu schildern verstand. Und damit jene Bombe rechtfertigen wollte, die er in ein vollbesetztes Pariser Café geschleudert hatte.
…und von der Freiheit
Ich vermute, dass auch jene gegen den Gipfel demonstrierenden Menschen, die sich in einem Rostocker Café panisch vor den Glassplittern des Schaufensters zu schützen versuchten, welches sich der Schwarze Block zum Angriffsziel erkoren hatte, noch nie etwas von Émile Henry gehört haben.
Genau so, wie die meisten jener jungen Antifas, Autonomen und Anarchopunks wohl kaum je etwas von John Zerzan gehört haben dürften, die – voll von verständlicher Wut gegen dieses wahrhaft verbrecherische System – in Heiligendamm den militärischen Rammbock spielen. Und welchem jungen Autonomen ist wohl heute noch die eher bieder-theoretische Zeitschrift „Autonomie“ bekannt, mit der weiland alles begann…?
Nein, der Schwarze Block ist weder eine Organisation, noch eine Bewegung noch eine Idee. Er ist ein medienstarkes Phänomen mit einem Mythos, der von Generation zu Generation tradiert wird und ganz besonders immer wieder junge Menschen anspricht. Menschen, die in ihm ein Ventil für ihre Wut finden und in der Medienpräsenz eine Art Trophäe. Insofern ist er zu einer Tradition geworden, die es zu pflegen gilt, wobei immer wieder mal gerne auch mit anarchistischen Symbolen kokettiert wird. Eine Tradition, schwach an Inhalten und stark in ihren Formen, die vom internationalen Traditionspflegeverband „Schwarzer Block“ von Match zu Match wie ein Wanderpokal weitergereicht wird.
„Am Anfang war der Zorn…“ Es ist kein Zufall, dass mein letztes Buch** mit genau diesen Worten beginnt; ich habe sehr lange darüber nachgedacht.
In der Tat scheint mir die Schicksalsfrage des Anarchismus mehr denn je daran gekoppelt, ob es ihm gelingen wird, destruktiven Zorn in kreative Kraft, blinde Wut in subversive Energie, geistreiche Kritik in positive Utopie zu verwandeln. Man mag Verständnis für die Gründe aufbringen, die die Menschen im Schwarzen Block bewegen. Einer libertären Gesellschaft bringt uns all das, was er auf den Straßen veranstaltet, aber wohl keinen Schritt näher. „In Seattle, Göteborg, Genua und Rostock“, schreibt Andrian Kreye in der Süddeutschen Zeitung, „zählte die Praxis des Straßenkampfes und nicht die Denkschulen des Anarchismus.“
Weitere Infos
Link zum Interview: http://mp3.swr.de/swr2/journal/interviews/150656.6444m.mp3
Das Buch "Anarchie! Idee - Geschichte - Perspektiven" (511 S., Edition Nautilus) wird auf den Libertären Buchseiten in der Oktoberausgabe der GWR vorgestellt. Derzeit steht der Titel auf Platz 1 der "Sachbuchbestenliste", die gemeinsam vom Börsenblatt des Deutschen Buchhandels, dem Buchjournal, der Süddeutschen Zeitung und dem NDR erstellt wird.
Veranstaltungshinweis
Samstag, den 1. September 2007, 10 Uhr, 35 Jahre Graswurzelrevolution-Fest, Bahnhofstr. 6, Könnern:
Totgesagte leben länger!
Infoblock und Workshop zum Projekt A
Was sollte das Projekt A sein, was war es und was ist daraus geworden? Und vor allem: Was hat das hier und heute mit uns zu tun?
Die erste Frage wird Horst Stowasser, Autor des Buches "Das Projekt A" im ersten Teil mit einer Mischung aus Lesung und Plauderei zu beantworten versuchen. Die Antwort auf die zweite Frage sollte im zweiten Teil in Form eines Workshops zwischen allen Anwesenden gemeinsam erarbeitet werden.