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Vom Nutzen der Regeln

| Leonie Felix

Manchmal offenbaren sich große Wahrheiten in kleinen Begebenheiten.

Neulich fuhr ich vom Einkaufen mit dem Fahrrad nach Hause. Auf einer Straße, deren Name „Friedrich-Engels-Allee“ noch immer keiner Säuberung zum Opfer gefallen ist, stand eine Ampel auf rot, und ich rollte vorsichtig rechts an der Autoschlange vorbei in Richtung der genannten Lichtzeichenanlage. Da ertönte plötzlich dicht hinter mir eine Stimme: „Verkehrsregeln gelten auch für Radfahrer!“ Ehe ich diesen Satz richtig in mich aufgenommen hatte, stand ich schon zwanzig Meter weiter an der Ampel; und als ich mich durchgerungen hatte zu fragen, an welche Verkehrsregel die Stimme wohl gedacht haben mochte, gab grünes Licht die Fahrt frei.

Gerade noch konnte ich die Urheberin des Merkspruches ausmachen. Durchs offene Fenster des Beifahrersitzes sah mich beim Überholen eine vielleicht sechzigjährige Dame mit strengem Blick an, die silbernen Haare aufwändig frisiert, die Jacke wahrscheinlich aus Cashmere – eine würdevolle Repräsentantin unserer Oberschicht. Vom männlichen Fahrer des Vehikels erkannte ich nicht viel, hatte aber das sichere Gefühl, es müsse sich um den Ehemann handeln. Das Fahrzeug war ein silberfarbener allradgetriebener „SUV“ der Firma BMW.

„Verkehrsregeln gelten auch für Radfahrer!“ Dieser Satz ließ mich nicht mehr los. Was wollte die Autorin mir damit sagen? Dass ich ihn überhaupt hören konnte, bewies, dass er ganz spontan, quasi als Reflex auf mein Vorbeirollen, geäußert worden war. (Oder deutete das heruntergekurbelte Fenster und die zeitliche Platzierung der Äußerung auf eine geplante Aktion, und mein Herannahen war bereits lange im Rückspiegel beobachtet worden?) Ich versuchte, mich der Analyse des Satzes durch die Frage nach der konkret gemeinten Verkehrsregel zu nähern. Rechtsfahrgebot, Beachten von Ampeln, Vorfahrtsregeln … all das hatte ich nicht missachtet. Schließlich landete ich beim Paragraph 1 der Straßenverkehrsordnung: „Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.“ Und: „Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.“

Diese Sätze gehören (abgesehen von der Gender-Frage) sprachlich wie moralisch zweifellos zum Besten, was in deutschen Gesetzen und Verordnungen überhaupt zu lesen ist. Nun hatte ich nach meiner Einschätzung in der inkriminierten Situation sowohl Vor- wie Rücksicht walten lassen und niemanden geschädigt, behindert, belästigt oder gefährdet. Hingegen hatte die beschwerdeführende Dame in einem SUV gesessen. Dieser Fahrzeugtyp hat zwei Eigenarten: Erstens verbraucht er ein Vielfaches der Treibstoffmenge, die andere Fahrzeuge zur Verrichtung desselben Zweckes (hier: Beförderung zweier Personen von einem Ort zu einem anderen Ort) benötigen. Er verunreinigt also überdurchschnittlich stark die Luft. Dies führt kurzfristig zu einer Beeinträchtigung des Wohlbefindens in der Nähe befindlicher Personen, und trägt langfristig zu den mit Schadstoffausstoß verbundenen globalen Problemen bei (Klimawandel etc.). Zweitens ist im Falle eines Unfalles durch die hohe Massenträgheit eines solchen Vehikels die Gefahr für andere Unfall-Beteiligte höher als bei normalen Autos; durch die hohe Front eines SUV erhöht sich insbesondere das Verletzungs- und Todesrisiko von Kindern. Man kann also mit den Worten der Straßenverkehrsordnung zusammenfassen, dass die klageführende Dame und ihr Ehemann/Chauffeur es durch das schiere Verwenden dieses Fahrzeugtyps an Vorsicht und Rücksichtnahme fehlen ließen, und dass sie andere Verkehrsteilnehmer schädigten, gefährdeten und, mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behinderten und belästigten.

Diese Einsicht lenkt nun das ganze Problem des Sprechakts unserer Dame auf das Wörtchen „auch“. Wenn schon die fundamentalste aller Verkehrsregeln für sie selbst nicht galt: In welches Kollektiv sollten die Radfahrer, für die die Verkehrsregeln „auch“ gelten, dann eingemeindet werden? Nun; alles am Auftritt der Dame war distinguierend: Das Fahrzeug, welches, obwohl in der Grundstruktur einem Auto ähnelnd, doch eher ein rollendes Verbrechen darstellte; das blauweiße Rautenlogo auf der Motorhaube, das wir nur zu gut von den Überholspuren aller Autobahnen kennen, wo es meist zwischen den vier aufgeblendeten Scheinwerfern der Lichthupe in unserem Rückspiegel erscheint, wenn wir wagen, mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit einen Lastwagen zu überholen; die vornehme Aufmachung der Dame; ihre Selbstgerechtigkeit. Hier wurde Klassenstolz zur Schau gestellt, und ein kleiner symbolischer Klassenkampf von oben ausgetragen: Einen BMW überholt man nicht, schon gar nicht von rechts, schon gar nicht mit einem Fahrrad!

Aber das Spannende an der geschilderten kleinen Szene ist, dass sich noch diese protzige Arroganz, mit ebenjenem Wörtchen „auch“, in eine egalitäre Verkleidung hüllt. Selbst in dieser Situation, wo der Habitus, etwas Besseres zu sein, derart zum Himmel schreit, muss der Schmerz, den das Prinzip „smaller can be faster“ an jener Ampel bei den Boliden-Insassen verursacht, in Wendungen der Gleichheit gekleidet werden. Beweist dies nicht, dass Gleichheit als ethisches Prinzip anthropologisch sehr tief verankert sein muss? Lohnt es sich dann nicht, mit der Gleichheit Ernst zu machen, den feinen Leuten ihre Allrad-Monster wegzunehmen, und den Blasierten überhaupt ein wenig Luft abzulassen? Können wir nicht den § 1 der Straßenverkehrsordnung nehmen und als komplett hinreichendes Regelwerk für unsere Gesellschaft verwenden, nur noch ergänzt um die Ermunterung, nach individuellem und kollektivem Glück zu streben? „Die Teilnahme an der Gesellschaft erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht. Wer an der Gesellschaft teilnimmt, hat sich so zu verhalten, dass niemand sonst geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.“

Wäre das nicht Anarchie? – Vielen Dank für diese Einsicht, zornige vornehme Dame!