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Der Große Stowasser

Latein studieren wollen sie? Wir wollen Anarchie!

| Bernd Drücke

„Lebendige Anarchie ist kein neues Regelwerk, sondern eine Idee, das Leben freier zu gestalten. Leben aber ist nicht etwa nur Essen, Schlafen, Wohnen, Arbeit oder soziale Organisation. Leben ist allumfassend, bunt, vielfältig, kreativ…“

In den letzten 100 Jahren wurden Millionen Schülerinnen und Schüler in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz mit dem „Kleinen Stowasser“ gequält.

Das ist nun vorbei! Denn jetzt gibt es den „Großen Stowasser“. Und in diesem 512 Seiten dicken, schwarz-roten Wälzer findet sich im Gegensatz zum verhassten, in vielen Farben erhältlichen „Kleinen Stowasser“ keine einzige Lateinvokabel.

Und kein Mensch, der den „Großen Stowasser“ aufschlägt, hört nach wenigen Seiten auf zu lesen. Dieser Stowasser ist so fesselnd, dass unsereins die Stunden, in denen er Latein büffeln musste, getrost vergessen kann.

Dieses Buch ist der Hammer!

Anarchie pur! Oder, so hieß das 1995 erschienene 400 Seiten dicke Buch von Horst Stowasser: „Freiheit pur“.

Aus „Freiheit pur. Die Idee der Anarchie, Geschichte und Zukunft“ wurde „Anarchie! Idee – Geschichte – Perspektiven“.

Einen großen Teil hat der Kommunikator aus seinem längst vergriffenen opus magnum übernommen. Er hat sein Werk behutsam überarbeitet, aktualisiert und um weitere Kapitel und einen schönen Bildteil ergänzt. Herausgekommen ist ein neues Buch, das auch für Menschen interessant ist, die schon „Freiheit pur“ eingeatmet haben.

Im deutschsprachigen Raum gibt es wohl kaum einen anarchistischen Autor, der es so versteht Menschen mitzureißen.

Von Stowassers Schreibe mitgerissen wurde in den achtziger Jahren auch der Autor dieser Rezension. Das leicht verständliche „Was ist eigentlich Anarchie?“-Bändchen aus dem Karin Kramer Verlag – in gewisser Weise ein früher, noch unausgereifter Vorgänger von „Anarchie!“ – und Stowassers mittlerweile in der 14. Auflage vorliegender Bestseller „Leben ohne Chef und Staat. Träume und Wirklichkeit der Anarchisten“ hatten und haben immer wieder ihre Wirkung, die zum Selbstverständnis – „Ich bin Anarchist!“ – beitragen kann.

Die Graswurzelrevolution bejubelte im Oktober 1995 das Erscheinen des neuen Stowasserbandes: „‚Freiheit pur‘ ist eine großartige Darstellung des Anarchismus und sein Verfasser der große gegenwärtige Popularisierer der anarchistischen Idee, quasi ein deutschsprachiger George Woodcock.“

Daran hat sich nichts geändert. Stowasser war allerdings ein Jahrzehnt lang in der „Versenkung“ verschwunden, genervt von den Szenequerelen um das von ihm mitinitiierte Projekt A.

Im Dezember 1995 erschien dann ein Interview mit ihm in der Graswurzelrevolution Nr. 304. Es folgten neue Stowasser-Artikel in der GWR und Ende 2006 im Verlag Edition AV in Lich seine 180 Seiten umfassende Reportage über das libertäre Barcelona und seine anarchistischen Gewerkschaften 70 Jahre nach der Spanischen Revolution: „Anti-Aging für die Anarchie“.

Und nun? Stowasser ist wieder da!

„Das Leben selbst würde zu einem Kunstwerk: Kunst, Alltag, Freude, Protest, Genuß, Provokation, Spontaneität, Kreation und Kommunikation – all das ginge eine kaum noch entwirrbare Verbindung ein, die in der Lage wäre, Grenzen zu sprengen. Die Natur kennt all das: Kooperation und Konkurrenz, Tausch, Diebstahl und Geschenk, Verdrängungskampf und gegenseitige Hilfe, Hierarchie, Solidarität und Freiräume. Die Natur regelt sich selbst, und zwar mit großem Erfolg“, so heißt es in „Anarchie!“

Die erste Auflage (2.500 Stück) erschien im März 2007 und ist schon vergriffen. Die zweite erscheint im Oktober 2007 zur Frankfurter Buchmesse.

Das ist gut für die libertäre Bewegung, für alle, die am Ziel Anarchie festhalten und sich eine Verbreitung freiheitlich-sozialistischer Ideen wünschen.

„Anarchie ist nicht Chaos, sondern Ordnung ohne Herrschaft.

Sie will etwas ganz Neues schaffen: ein Leben, in dem die Freiheit der Menschen obenan steht und nicht die Wirtschaft oder die Arbeit an sich. Das Dasein soll auch Spaß machen. Alles, was getan und geändert werden muss, sollen die Menschen – und zwar alle Menschen! – selbst organisieren. Das, was sie für ein anständiges Leben brauchen, wissen sie selbst am besten und können es auch sehr gut selbst entscheiden. Nicht der Herr, nicht die Wissenschaft oder die Wirtschaft dürfen ihnen ihr Leben vorschreiben. Sie selbst sollen es bestimmen“, so der Schriftsteller.

Stowasser ist kein Kopfrocker, er schreibt mit schwarz-roter Zaubertinte, er schreibt so lebendig wie er spricht. Und er spricht wie ihm der Schnabel gewachsen ist, einfach, für jeden verständlich, ohne soziologenchinesische Angeber-Vokabeln. Das alles ohne dabei allzu platt oder langweilig rüber zu kommen.

Vielleicht ist das ein Grund, warum sein neues Manifest im Juni zum Sachbuch des Monats gewählt wurde. Von einer Jury, die – wohlgemerkt – nicht im Verdacht steht anarchistisch zu sein:

Prof. Dr. Rainer Blasius, FAZ, Dr. Eike Gebhardt, Fritz Göttler, Süddeutsche Zeitung, Dr. Wolfgang Hagen, DeutschlandRadio Kultur, Daniel Haufler, TAZ, Dr. Otto Kallscheuer, Dr. Matthias Kamann, Die Welt, Petra Kammann, Guido Kalberer, Tages Anzeiger, Dr. Volker Ullrich, DIE ZEIT, Dr. Andreas Wang, NDR Kultur, Dr. Uwe Justus Wenzel, Neue Zürcher Zeitung, und, und, und…

Und die Begründung dieser Eliteschreiber ist erstaunlich:

„Es sind die Fragen, die das Buch so wertvoll machen, es ist das Einfach-Mal-Drüber-Nachdenken: Mit welchem Recht erheben sich Menschen über andere, um ihnen zu befehlen? Mit welchem Recht denken Menschen an den schnellen Euro von heute und verhöhnen das Leben von morgen? Mit welchem Recht zerstören Menschen die Erde? Der Anarchist schlägt vor: die Hierarchien werden abgeschafft, die Menschen versuchen, in kleinen Gruppen, vernetzt, nach ihrer Fasson, miteinander zu leben, nicht fremdbestimmt, sondern nach dem Prinzip der freien Vereinbarung. (…) Schafft das auch der Mensch? Horst Stowasser kann es nicht beweisen – aber er macht Lust auf den Gedanken, dass wir noch nicht alle Möglichkeiten der Freiheit ausgeschöpft haben.

Die ‚anarchistischen Essentials‘ sind schließlich nicht in einer Studierstube entstanden, sondern entspringen dem realen Leben – und das seit Tausenden von Jahren. Vor allem aber bleibt das Experiment. Vermutlich werden wir erst dann wissen, ob der Mensch in Freiheit leben will und kann, wenn man ihn lässt.“

Natürlich sollte mensch nicht alles, was Stowasser sagt und schreibt, gut und richtig finden. Selbstverständlich finden sich auch in „Anarchie!“ Oberflächliches, Plattitüden, bisweilen ärgerlicher Quark.

Und Fehler!

So ist auf Seite 297 folgendes zu lesen:

„Die Graswurzel-Revolution, Deutschlands größte Anarcho-Zeitung, erscheint seit 1971 und wird auch außerhalb libertärer Kreise viel gelesen.“

Horst, keine lässt sich gerne älter machen als sie ist. Und die Graswurzelrevolution erscheint erst seit Sommer 1972.

Fazit

Neben dem soeben im Verlag Graswurzelrevolution nach 37 Jahren neu aufgelegten Sammelband „Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie“ (siehe Rezension in dieser GWR) ist „Anarchie! Idee – Geschichte – Perspektiven“ das wohl herausragendste anarchistische Buch des Jahres.

Ein schwarz-roter Ziegelstein als Beitrag zum Aufbau einer gewaltfreien, herrschaftslosen Gesellschaft.

Horst Stowasser: Anarchie! Idee - Geschichte - Perspektiven, Edition Nautilus, Hamburg 2007, 512 Seiten, 24,90 Euro, ISBN 978-3-89401-537-4