schwerpunkt: anarchie und musik

Bakunistischer Sound

"Nur die halbe Welt ist Teflon und Asbest" - Einstürzende Neubauten

| Bernd Drücke

Der zu Lebzeiten in ganz Europa aktive russische Sozialrevolutionär Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814-1876) ist bis heute als Theoretiker des kollektivistischen Anarchismus einer der einflussreichsten Denker der anarchistischen Bewegung weltweit.

Für Bakunin waren Freiheit, libertärer Sozialismus und Föderalismus die Ideale und Prinzipien einer neuen Gesellschaftsordnung, die soziale Revolution und die freie Wissenschaft in der Bevölkerung der Weg, diese Prinzipien durchzusetzen. Und aus der Gültigkeit der Prinzipien ergab sich für ihn eine Ablehnung der Religion, der Theologie und des Autoritarismus.

Als Feind der Herrschaft des Menschen über den Menschen war der Staat in seinen Augen „die schreiendste Verneinung des Menschentums“. (1)

Bakunin war sowohl ein glühender Staatsfeind, als auch ein Liebhaber vorzüglichen Essens und guter Musik.

Eine schöne Anekdote diesbezüglich beschreibt Madeleine Grawitz in ihrem Prachtband „Bakunin. Ein Leben für die Freiheit“ (2):

Am Palmsonntag 1849 hatte Bakunin ein Konzert in Dresden besucht. Gespielt wurde Beethovens Neunte Symphonie.

Und die begeisterte den polizeilich Gesuchten so sehr, dass er anschließend vor das Orchester trat, um zu erklären, „dass, wenn alle Musik bei dem erwarteten großen Weltenbrande verloren gehen sollte, wir für die Erhaltung dieser Symphonie mit Gefahr unseres Lebens einzustehen uns verbinden wollten“.

„Höre mit Schmerzen“

Wir wissen nicht, ob Bakunin auch die Musik der Einstürzenden Neubauten gefallen hätte. In den frühen 1980er Jahren hat der bombastische „Krach“ dieser experimentierfreudigen Kapelle schließlich das ein oder andere Trommelfell zum Reißen gebracht. Vielleicht hätte Bakunin diesen „Lärm“ mit Schmerzen gehört?

Was womöglich im Sinne der Neubauten gewesen wäre?

Wir wissen es nicht. Was wir aber sagen können, ist, dass diese 1980 von Blixa Bargeld, NU Unruh, Gudrun Gut und Beate Bartel in Berlin gegründete, dadaistisch und „anarchistisch geprägte“ (3) Band offensichtlich von den Ideen Bakunins beeinflusst wurde. Nicht umsonst steht ihre 1983 erschienene LP „Zeichnungen des Patienten O.T.“ unter einem bakunistischen Slogan: „Destruction is not negative, you must destroy to build“.

Die Anti-Pop-Band kommt aus der Punk- beziehungsweise Post-Industrial-Bewegung. Um ein apokalyptisches Klanggewitter zu inszenieren, das die eindringlichen Blixa Bargeld-Schreie und seinen Gesang untermalt, benutzt sie ein schrilles Instrumentarium aus (oft verstimmten) E-Gitarren, Bass, Megaphon, Alltagsgegenständen und Schrott: elektrisch verstärkte Stahlspulen, Fässer, Bohrmaschinen, Hämmer, Sägen, Rasierapparate, ausrangierte Flugzeugtriebwerke, …

Das Bakunin-Motto „Die Zerstörung ist eine schaffende Kraft“ zieht sich dabei als schwarz-roter Leitfaden durch die außergewöhnliche „Noise-Music“ der Combo. Während in den frühen 1980er Jahren die Grenzen zwischen Musik und Lärm ausgelotet wurden, sind die Stücke seitdem allerdings melodiöser geworden.

„Spätestens seit 1985 jedoch, als Depeche Mode sie für ‚People are People‘ sampelten, waren die Neubauten berechenbar geworden: Sie poltern auf der documenta und der XII. Biennale 1982 in Paris herum. Feuilleton und Boulevardpresse entdecken die Band; das Goethe-Institut schickt sie 1986 zur Expo nach Vancouver. Die Einstürzenden Neubauten werden deutsches Kulturgut“, konstatiert Ronald Galenza auf der Internetseite des Goethe-Instituts. (4)

Auch der Autor dieser Zeilen konnte sich am 18. Mai 2008 im Kölner E-Werk davon überzeugen, dass mensch heute ruhigen Gewissens ein Konzert der Rockband besuchen kann, ohne auf Ohropax angewiesen zu sein. Ihr im Oktober 2007 erschienenes „Alles Wieder Offen“-Album klingt bisweilen eher nach Rio Reiser und Ton Steine Scherben und nur noch selten nach den „alten“ Neubauten. Das ist – auch aus libertärer Sicht – keineswegs verwerflich. Ton Steine Scherben sind schließlich seit den frühen 1970er Jahren aus gutem Grund die wohl einflussreichste anarchistische Rockband in Deutschland. Und sie waren ein Vorbild auch für die Neubauten, wie Blixa Bargeld zum Beispiel Ende August 1996 in seinem, im SPIEGEL veröffentlichten, sensiblen Nachruf auf Rio Reiser (1950-1996) bekannt hatte. „Die Scherben waren die ganze Zeit über ein großer Einfluss“, bestätigt Alexander Hacke, der seit 1980 Neubauten-Mixer, Gitarrist und Bassist ist. (5)

„Die Neubauten sind, natürlich inspiriert durch Blixa und freudig aufgenommen von den anderen Bandmitgliedern, Anarchisten. Blixa ist durch und durch ein Anarchist. Es geht ihm um eine radikale Freiheit, um ein radikales Zerstören, es geht ihm radikal darum, neue Dinge zu erschaffen“ (6), so Fritz Brinckmann, Fotograf und Grafiker, der u.a. die Cover zu den Neubauten-Alben „Fünf auf der nach oben offenen Richterskala“, „Haus der Lüge“, „Tabula Rasa“ und „Ende Neu“ gestaltet hat.

Anders als einst der christliche Anarchist Rio Reiser, neigt Blixa Bargeld zur Blasphemie, zur Beschimpfung von „Gottes unendlichem Hoden“ (7).

Auch darin ist er dem libertären Atheisten Michail Bakunin näher als z.B. dem christlichen Anarchopazifisten Leo Tolstoi (1828-1910), für den die Bergpredigt ein Grundpfeiler seiner gewaltfrei-libertären Ethik war.

In seinem in den 1870er Jahren entstandenen Standardwerk „Gott und der Staat“ stellte Bakunin dagegen fest: „Die Gottesidee enthält die Abdankung der menschlichen Vernunft und Gerechtigkeit in sich, sie ist die entschiedenste Verneinung der menschlichen Freiheit und führt notwendigerweise zur Versklavung der Menschen, in Theorie und Praxis. (…) Wenn Gott existiert, ist der Mensch ein Sklave; der Mensch kann und soll aber frei sein: Folglich existiert Gott nicht. Ich fordere jeden auf, diesem Kreis zu entgehen, und nun mag man wählen.“ (8)

Offensichtlich haben die Einstürzenden Neubauten gewählt. Ihr 1989 entstandenes „Haus der Lüge“-Album gehört vielleicht zu den musikalisch interessantesten Werken, die nach Beethovens Neunter in diesem Lande entstanden sind. Anders als gelegentlich beim grandiosen Hofmusiker Beethoven fehlt bei den Werken von Blixa Bargeld und Co. das religiöse Pathos. Stattdessen finden wir eine ebenfalls oft pathetische, aber explizit atheistische und herrschaftsfeindliche Metaphorik, an der Genosse Bakunin zweifellos seinen Spaß gehabt hätte.

Haus der Lüge

Erstes Geschoss:
Hier leben die Blinden
die glauben was sie sehen
und die Tauben
die glauben was sie hören
festgebunden auf einem Küchenhocker
sitzt ein Irrer, der glaubt
alles was er anfassen kann
(seine Hände liegen im Schoss)

Zweites Geschoss:
Rolle für Rolle
Bahn für Bahn
Rauhfaser tapeziert
in den Gängen stehen Mieter herum
Betrachten die Wände aufmerksam
suchen darauf Bahn um Bahn
nach Druck- und Rechtschreibfehlern
könnten nicht mal ihren Namen entziffern

Auf ins nächste Geschoss:
Welches, oh Wunder! nie fertiggestellt
nur über die Treppe erreicht werden kann







hier lagern Irrtümer, die gehören der Firma
damit kacheln sie die Böden
an die darf keiner ran

Viertes Geschoss:
Hier wohnt der Architekt
er geht auf in seinem Plan
dieses Gebäude steckt voller Ideen
es reicht von Funda- bis Firmament
und vom Fundament bis zur Firma

Im Erdgeschoss:
Befinden sich vier Türen
die führen
direkt ins Freie
oder besser gesagt in den Grundstein
da kann warten wer will
um zwölf kommt Beton
Grundsteinlegung!
Lüge! Lüge! Lüge!

Gedankengänge sind gestrichen
in Kopfhöhe braun
infam oder katholisch violett
zur besseren Orientierung

Dachgeschoss:
Es hat einen Schaden
im Dachstuhl sitzt ein alter Mann
auf dem Boden tote Engel verstreut
(deren Gesichter sehen ihm ähnlich)
zwischen den Knien hält er ein Gewehr
er zielt auf seinen Mund
und in den Schädel
durch den Schädel
und aus dem Schädel heraus
in den Dachfirst
dringt das Geschoss

Gott hat sich erschossen
ein Dachgeschoss wird ausgebaut
Gott hat sich erschossen
Ein Dachgeschoss wird ausgebaut
Lüge! Lüge! Lüge!
Ein Dachgeschoss wird ausgebaut

Epilog

Untergeschoss:
Dies ist ein Keller
Hier lebe ich
Dies hier ist dunkel
feucht und angenehm
Hier lebe ich
Dies ist ein Keller
Dies hier ist ein Schoss

Text: Bargeld, Musik: Bargeld / Einheit / Unruh / Chung / Hacke

(1) Michail Bakunin: Gott und der Staat, impuls Verlag, Bremen 1977, S. 114

(2) Edition Nautilus, Hamburg 1999, S. 148

(3) Gudrun Gut in: Max Dax/Robert Defcon: Einstürzende Neubauten. Nur was nicht ist, ist möglich, Bremen 2005, S. 9

(4) www.goethe.de/ins/prj/life/september/de877323.htm

(5) In: Dax/Defcon, a.a.O., S. 33

(6) Ebd., S. 36

(7) Einstürzende Neubauten: Engel der Vernichtung, 1983

(8) Bakunin, a.a.O., S. 57