Gastkommentar
Das kann nicht sein. Über 71 Prozent der staatsbürgerlichen Gesellschaft der BRD von 18 Jahren aufwärts wählten am 27. September. Wer dürfte diese Fülle von Personen wie du und ich nicht als selbst bestimmende BürgerInnen ernst nehmen. Was aber anders ist Demokratie?
An den Wahlen als solchen ist nicht viel zu kritisieren. Allgemein, gleich, geheim. Ja, aber nicht ganz. Seit einer Generation und mehr dürfen Millionen von Bürgerinnen und Bürger, nur weil sie nicht ahnentief deutschblütig sind, an Wahlen nicht teilnehmen. Eine drastisch beschnittene, nicht allgemeine, nicht gleiche Wahl!
Ansonsten alles in „deutscher“, vor allem demokratischer Ordnung? Sehen wir uns die Wahlen in aller gebotenen Kürze ein wenig genauer an.
1. „Alle Gewalt geht vom Volke aus“, heißt es eindrücklich in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Man stolpert ein wenig über den so oft missbrauchten Ausdruck „Volk“. Als sei das ein kollektives Subjekt von tendenziell 80 Millionen. Es sind aber viele Subjekte. Richtiger wäre es darum, von Bevölkerung zu reden. Sie besteht aus „Parallelpersonen“.
2. Den „Gewalt“-Ausschlag aber gibt, dass die BürgerInnen nur strikt vermittelt teilnehmen.
Zwischen so genannten Repräsentanten darf gewählt werden. Diese sollen dann fürs „Volk“, nirgendwo mit ihm oder durch es, als (Funktions-)Elite von Abgeordneten frei, ihrem Suchbild „Gewissen verantwortlich“, das vergegenwärtigen, was als demokratischer Schleier bleibt.
3. Anders sei Demokratie in einer Massengesellschaft großräumig nicht möglich. Das trifft zu. Direkte Demokratie von Millionen ist ein schon räumliches Unding. Das Internet verkürzte demokratische Beteiligung vollends auf den Tastendruck. Was aber wird getan, um die BürgerInnen wählend zu ermächtigen, sie nicht darauf zu beschränken, periodisch wahlspektakelunterbrochene Eliteherrschaften, abgehobene Herrschaften auf Zeit, zu etablieren?
Der demokratische Unterbau fehlt. Der wäre essentiell. Lokale Demokratie, die den Namen verdient. Das tut sie nicht. Die Gemeinden ebenfalls nach repräsentativem Prinzip organisiert, sind die Schau- und Putzlumpen oben abgehoben bestimmenden Staates unten. Demokratisierung aller bürgerlich wichtigen Bereiche wäre unabdingbar. Fehlt jedoch durchgehend. Ein demokratieloser Schrecken der Leere. Des Bildungssystems in all seinen als Einheit zu behandelnden, gleiche Chancen durchgehend gewährenden Stufen. Des riesig ausufernden Gesundheitssektors. BürgerInnen werden unmündig als PatientInnen oder als neuerliche KundInnen existentieller Selbst- und Mitbestimmung enteignet. Schon die Voraussetzungen, mitbestimmend zu verstehen und verstehend mit zu bestimmen, sind in diesem kapitalistisch-bürokratisch-wissenschaftlich-technologischen Komplex nicht gegeben.
Die BürgerInnen werden nur als Wahlvieh mit täuschungsgrünem Propagandafutter wie satt gefüttert. Sie leiden darum bis zur eingeflößten Selbsttäuschung an demokratischem Muskelschwund. Sie können nicht gehen.
4. Aber da gibt es doch die Abgeordneten, die vier Jahre tätig für uns wuseln. Darum lohnt sich zu wählen. Gewinnen mehr gute Leute von dieser oder jener Partei, dann wird endlich Hartz IV abgeschafft, die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik insgesamt uns, den Wählenden auf der Schattenseite des Habens und des Herrschens, angemessener gesetzentschieden werden. Ach wie könnte es repräsentativ entlastet schön sein.
5. Blickten wir genauer hin, sähen wir ins Loch unserer Täuschung. Die können es nicht. Und wollten sie. Das Parlament ist materiell nicht möglich, aber soziopolitisch ein kleines, mehr steril aufgeregt mitredendes, denn machtvolles, also Probleme anders machendes und gestaltendes Gremium inmitten eines „dynamischen betonharten Interessenkampfes“. Der Exekutive und ihres parlamentarisch nicht kontrollierbaren Gewaltmonopols. Das unterliegt allem. Ein vor- und nachdemokratisches Staatsfundament. Der global geokapitalistisch entgrenzten Ökonomie. Die definiert. Zuerst den gänzlich undemokratischen Arbeitsmarkt. Die kapitalistisch verbundenen und prokapitalistischen internationalen Regelungsinstanzen. Zuerst das bürokratische Monstrum mit dem Namen EU.
6. Ist es mit dem Parlament und den fast verstaatlichten, auf jeden Fall von oben wirkenden Parteien nichts gewesen, dann vielleicht mit den Regierungsspesen. Diese wären im global konkurrierenden Machtgeschiebe rundum überfordert, ginge es ihnen um irgend demokratisch menschenrechtlich gewandte Reformen. Das trifft auch und gerade für den im Hindukusch-Krieg weiter führenden Obama zu. Machtlos. Die Regierungen sind nur die andere, die abhängig sichernde Seite des Kapitals. National nützlich, aber nicht zu bändigen.
7. Nein, da bleibt kein Hauch von Demokratie. Die Wahlen sind allein erforderlich, um die miteinander widersprüchlich verhakten Herrschaftsinteressen zu legitimieren. Wer wählt, unterstützt, ohne es zu wollen, die Institutionen und ihre getäuscht täuschenden VertreterInnen. Diese sind notwendig, damit die Strukturen und Funktionen immer erneut hergestellter Ungleichheit unter den Menschen erhalten werden. Jüngster Testfall: die homöopathische „Lösung“ der finanzkapitalistischen Katastrophen. Die Ärmsten der Armen hier und vor allem anderwärts haben sie auszubaden. Die Sicherheitsstaaten ziehen indes ihre Schrauben fester.
Drum ist nichts mit den Wahlen. Drum radikaldemokratische Initiativen allerorten. Drum nicht innerstaatlich, sondern mittendrin und an den Rändern eine mitbestimmende, Grundrechte konkret verwirklichende „Logik“ versuchen. Gewaltfrei! Auch in dieser Hinsicht nicht staats- und das heißt staatsgewaltkonform.
Dr. Wolf-Dieter Narr (* 13. März 1937) lehrte von 1971 bis 2002 als Professor für empirische Theorie der Politik am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität Berlin. Er ist Mitgründer und Mitsprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie.