Christlicher Anarchismus ist spätestens seit Leo Tolstoi eine Strömung innerhalb der heterogenen anarchistischen Bewegung, die den meisten AnarchistInnen zumindest in Grundzügen bekannt ist. Die Catholic-Worker-Bewegung ist Teil dieses christlich-anarchistischen Spektrums. Basierend auf der neu aufgelegten Dorothy-Day-Biografie All Is Grace. A Biography of Dorothy Day von Jim Forest, versucht dieser Artikel, sowohl einen Einblick in die Welt der Catholic Workers (CW) als auch in Leben und Werk von Dorothy Day (1897-1980) - eine der GründerInnen der CW - zu geben, um sich anschließend mit den libertär-sozialistischen Aspekten dieser Bewegung und dieser Person zu beschäftigen.
In der christlich-anarchistischen Szene sind die CW etwas Besonderes, weil sie den Anarchismus nicht nur mit dem Christentum, sondern gar mit dem Katholizismus in Verbindung bringen.
Dass die CW aber trotz dieser Abweichung von üblichen christlich-anarchistischen Konzeptionen als wichtiger Teil dieser Szene gesehen werden, veranschaulicht u.a. ein Blick in einige anarchistische Standardwerke. So werden sie z.B. in Peter Marshalls Demanding the Impossible. A History of Anarchism als auch in George Woodcocks Anarchism. A History of Libertarian Ideas and Movements als anarchistische Bewegung erwähnt.
Kritische Positionen nicht-religiöser AnarchistInnen zu den CW sind nicht neu und auch verständlich, verstellen aber viel zu oft einen Blick auf diese Bewegung, ihre Aktivitäten und ihre AktivistInnen, der nicht von Beginn an von Vorurteilen begleitet ist.
Hier wird versucht, einen nüchternen Blick auf die CW und ihre libertären Aspekte zu werfen. Das Augenmerk soll bewusst nicht darauf gelegt werden, was man aus der Sicht des „anarchistischen Puristen“ an den CW kritisieren könnte.
Diese Übung ist schon oft – reichlich polemisch – gemacht worden, und diese Debatte bedarf keines weiteren Beitrags dieser Art. Hier wird der Tatsache Rechnung getragen, dass sich die CW – trotz ihres Katholizismus – offen zu libertären Ideen und zu dem Einfluss, den der Anarchismus auf ihre GründerInnen Dorothy Day und Peter Maurin hatte, bekennen. Ausgehend davon wird versucht, den libertären Charakter der CW und Dorothy Days zu ergründen und wie er mit ihrem Katholizismus interagierte, aber auch kollidierte.
Peter Maurin und Dorothy Day
Blickt man in die Geschichte der CW, so findet man einiges an libertärem Sozialismus. Formal begann alles 1933 mit einer Zeitung namens The Catholic Worker, die von dem gebürtigen Franzosen Peter Maurin und der US-Amerikanerin Dorothy Day in New York gegründet wurde.
Peter Maurin war ebenso wie Dorothy Day stark von Peter Kropotkin beeinflusst und vertrat vor allem zwei Ideen. Jene des „Personalismus“ und der „grünen Revolution“.
„Personalismus“ bezeichnet eine Idee, die besagt, dass die erste und fundamentalste Revolution, die stattzufinden habe, jene des „Ichs“ sein müsse. Man sollte selbst die revolutionären Maximen, die man vertritt, so weit wie möglich leben, also sich selbst, das Denken und Handeln, revolutionieren. Wenn diesen Schritt mehr und mehr Individuen machten, wäre man der tatsächlichen sozialen Revolution schon näher.
Der berühmte christliche Anarchist, spätere CW-Aktivist und Weggefährte Dorothy Days, Ammon Hennacy, sollte dies später mit seiner Theorie der One-Man Revolution erneut ausformulieren.
Unter der „grünen Revolution“ verstand Maurin eine Gesellschaft, die sich dezentralisiert und möglichst autark in ländlichen Gebieten egalitär organisieren sollte, um einen Gegenentwurf zur bestehenden Gesellschaft zu entwerfen – christlich-anarchistische Kommunen also. Diese Theorien entwickelte er nicht nur anhand sozialistischer und anarchistischer Literatur, sondern auch die Bibel und theologische Schriften hatten hier mindestens genau so starken Einfluss (Peter Maurin hatte stets eine lange Liste von Büchern parat, die er weiter empfahl und die man z.B. auf Wikipedia einsehen kann).
Dorothy Days politische Sozialisation war ebenfalls eine mit stark anarchistischer Ausrichtung. Früh bereits las sie die Schriften Kropotkins, wurde Wobbly – Mitglied der unionistischen Industrial Workers of the World (IWW) (1) – und engagierte sich für die Anarchisten Sacco und Vanzetti, als diese zum Tode verurteilt wurden.
Ihr Fokus war zumeist auf Arbeitskämpfe und Antimilitarismus gelegt. Sie hatte aber nicht nur zu dezidiert anarchistischen Kreisen Kontakt, sondern auch zu SozialistInnen anderer Strömungen.
Sie schrieb für diverse sozialistische Zeitschriften wie The Masses, The Call oder The Liberator, war sogar kurz Mitglied bei der Socialist Party of America sowie der Communist Party USA und hatte freundschaftliche Kontakte zu dem Kommunisten Mike Gold und der IWW-Aktivistin und späteren Kommunistin Elisabeth Gurley Flynn.
Aus diesen Aspekten ihres politischen Lebens ist erkennbar: Days Verständnis von Sozialismus hatte zwar stark libertäre Einflüsse, sie war gleichzeitig aber auch pluralistisch und offen für andere Strömungen und Personen, die sich im Spektrum des revolutionären Sozialismus finden ließen.
Religion und Politik
Nachdem für Day Religiosität in ihrer Kindheit eine gewisse Rolle spielte (ihre Eltern waren jedoch nicht religiös und erzogen sie nicht in diesem Sinne), in ihrer Jugend nicht wichtig war, aber auch nicht etwas, wogegen sie aktiv eintrat, fand sie sukzessive wieder zur Religion Vor allem nach einem Gefängnisaugenhalt aufgrund ihres Engagements für das Frauenwahlrecht, wobei sie nie wählen ging.
Die Konversion zum Katholizismus dürfte einerseits wohl auf persönliche Kontakte, zum größeren Teil aber auf die Tatsachen zurückgehen, dass die KatholikInnen in den USA damals die ärmeren Schichten ausmachten und sie sich schon seit ihrer Zeit in der revolutionär-sozialistischen Bewegung primär in derartigen „Slums“ bewegte und lebte. Ob als atheistische Anarchistin oder als libertäre Christin: Es war die verarmte ArbeiterInnenklasse, zu der sie gehörte und mit der sie gemeinsam kämpfte.
Bei ihrer erneuten Hinwendung zur Religion ist zu beachten: Ihr Aktivismus, ihr Widerstand und ihr Einsatz gegen Unrecht und Unterdrückung wurden nicht weniger – all das wurde anders kodiert. Was sich änderte, waren das Setting und die Terminologie.
Das Setting betreffend, war sie sich durchaus bewusst, dass sie durch ihre Hinwendung zum Katholizismus den Großteil ihres Freundes- und Bekanntenkreises vor den Kopf stieß. Selbst ihre Beziehung zu dem Anarchisten Forster Batterham, mit dem sie eine Tochter hatte, ging aufgrund dessen in die Brüche. Ihre neu gefundenen religiösen Überzeugungen ließen sie diesen schmerzhaften Schritt dennoch gehen, wobei der Kontakt zur anarchistischen/sozialistischen Bewegung nie abriss.
Zur Änderung der Terminologie ist zu sagen, dass die Dinge, für oder gegen die sie ihr gesamtes Leben hindurch eintrat, dieselben blieben. Nur wurden sie mit ihrer Konversion zunehmend anders benannt. Wenn Day von „Barmherzigkeit“ sprach, so war das inhaltlich identisch mit der „Solidarität“, von der sie als Wobbly sprach.
Wenn sie von „freiwilliger Armut“ sprach, die als bewusstes Statement gegen die kapitalistischen Verhältnisse und als Solidarisierung mit den Armen und Marginalisierten zu verstehen ist, so erinnert das stark an Paul Goodmans Idee einer „würdevollen Armut“. Auch die CW-Losung von einer „Revolution of the Heart“ klingt stark nach William Godwin oder Kropotkins „Reform des Bewusstseins“.
Man sieht also, die Terminologie, der sich Day bediente, hat sich möglicherweise nach ihrer Konversion zum Katholizismus geändert, ihre Motivation und ihr Denken dahinter sowie ihr konkretes Handeln aber wohl kaum. Das soll ihre tiefe Religiosität und ihren fundamentalen Lebenswandel nicht als bloße Änderung ihrer Terminologie hinstellen, es ist jedoch auffallend, dass sich ihr aktivistisches Betätigungsfeld kaum änderte. Nicht zuletzt deshalb erklärt sich auch, weshalb die CW stets ein Kooperationspartner für die nicht-religiöse anarchistische/sozialistische Bewegung war.
Days Versuch, ihre wieder gefundene Religiosität mit ihrem sozial-revolutionären Engagement zu vereinen, resultierte in einer Zeitschrift und einer Bewegung, die sich Catholic Worker nannte.
The Catholic Worker und Houses of Hospitality
1933 gründeten Dorothy Day und Peter Maurin die Zeitschrift The Catholic Worker und verteilten die erste Ausgabe bei der traditionellen 1. Mai Demo am Union Square in New York. Maurin wollte die Zeitschrift ursprünglich The Catholic Radical nennen, Day argumentierte aber, dass klar sein solle, dass sich die Zeitung an die kämpfende und ausgebeutete ArbeiterInnenklasse richte, weshalb auf ihre Initiative hin Radical zu Worker wurde.
Was als Zeitung begann, wurde bald zu einer Bewegung, in deren Mittelpunkt die sogenannten Houses of Hospitality (Häuser der Gastfreundschaft) standen. In diesen Häusern wurden neben diversen Veranstaltungen und Vorträgen auch Ausspeisungen und Unterkünfte für Bedürftige und Obdachlose geschaffen. Parallel zu den Houses of Hospitality in den urbanen Zentren wurden Farmen auf dem Land gegründet, die zeitweise die Häuser mit Lebensmittel versorgten, die somit mehr oder weniger autark waren. Houses of Hospitality und CW-Farmen gibt es bis heute.
Aktivismus
Damals wie heute bedeutet(e) der CW-Aktivismus auf der Straße kreativer gewaltfreier Widerstand und ziviler Ungehorsam. Die Unterstützung Streikender und Antimilitarismus waren dabei immer Hauptbetätigungsfelder.
Bereits in den 1930ern wurde gegen den Antisemitismus und die Judenverfolgung in Deutschland demonstriert. Damit stellten die CW-AktivistInnen sich nicht nur gegen einen damals breit akzeptierten Antisemitismus in der US-amerikanischen Gesellschaft, sondern auch gegen diverse antisemitische katholische Priester.
Weitere wichtige Betätigungsfelder waren die Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern – u.a. im Zweiten Weltkrieg.
Dorothy Day war aufgrund ihres unerschütterlichen Pazifismus gegen den Krieg und den Kriegseintritt der USA. Diese Frage war CW-intern umstritten und führte dazu, dass einige CW-AktivistInnen die Bewegung verließen. Auch waren die CW von Beginn an UnterstützerInnen der Bürgerrechtsbewegung. Schon lange bevor diese ihre Anfänge nahm, reichten sich auf dem Zeitungskopf von The Catholic Worker ein schwarzer und ein weißer Arbeiter die Hände (später kam auch eine Frau dazu).
In Zeiten des Kalten Krieges waren es vor allem die CW, die gegen die Übungen protestierten, um die USA auf einen Atombombenangriff vorzubereiten (die sog. Civil Defense campaign). Als die Sirenen zu Übungszwecken heulten und die Bevölkerung angehalten war, sich in U-Bahnschächten und ähnlichem zu verstecken, blieben sie als Akt des zivilen Ungehorsams im Freien mit Schildern und Transparenten und weigerten sich, an diesen „Kriegsspielen“ teilzunehmen. Sie wanderten alle dafür mehrere Male ins Gefängnis. Die Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg wurde ebenfalls von den CW (Tom Cornell ist hier vor allem bekannt) mitgeprägt, und irische CW sorgten 2003 für Aufsehen, als sie aus Protest gegen den Irakkrieg in eine Luftwaffenbasis der US-Armee eindrangen und F16-Kampfjets mit Hämmern kaputt schlugen.
Dorothy Day: ein anarchistisches Leben?
Der Punkt, der trotz vieler offener Fragen und scheinbarer Widersprüche – die fast nur ihrem Katholizismus geschuldet sind – ausschlaggebend ist, ist, wie Dorothy Day wirkte, wie sie lebte und welche Handlungen aus ihrer Überzeugung resultierten. Hier wird klar, dass es nicht abwegig ist, aus der Bibel eine Art Anarchismus herzuleiten und, nach diesen Grundsätzen gelebt, ein genuin anarchistischer Lebensstil hervorgehen kann. Neu und anders als beim klassischen christlichen Anarchismus war lediglich ihr Katholizismus.
Diesen anarchistischen Lebensstil zumindest kann Dorothy Day aber niemand absprechen – Religionskritik und Katholizismus hin oder her.
Wenn man sich mit ihrem Leben beschäftigt, scheint es, als ob Gustav Landauer den Ethos von Dorothy Day und der CW wohl am besten beschrieb, als er – lange bevor diese Gruppe gebildet wurde – sagte, dass der Staat „ein Verhältnis“, eine „Beziehung zwischen den Menschen“ sei, „eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten“, und man ihn zerstören könne, „indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält“.
Eine treffendere Beschreibung von Dorothy Days Wirken kann kaum formuliert werden. Es war genau jener Hebel der Solidarität und gegenseitigen Hilfe in zwischenmenschlichen Beziehungen, an dem sie ansetzte – nur: Sie nannte es zumeist „Nächstenliebe“ und „Barmherzigkeit“.
Schlussbetrachtung
Die CW brechen mit ihrem Bekenntnis zum Katholizismus mit einer Tendenz, die im Selbstverständnis der meisten christlichen AnarchistInnen zentral ist: Religion ja; Kirche nein.
Die Ablehnung von institutionalisierter Religion als anarchistisches Statement gegen Macht und Hierarchie scheint für viele nicht-religiöse AnarchistInnen ein entscheidender Punkt zu sein, der es ihnen erleichtert, christliche AnarchistInnen als Teil der Bewegung zu betrachten (wobei ganz generell die Definitionen und Parameter, wer als AnarchistIn gelten kann oder nicht, umstritten sind).
Sich zum Katholizismus zu bekennen, öffnet logischerweise Tür und Tor, den CW ihr AnarchistIn Sein abzusprechen, impliziert es doch unweigerlich einiges, was man getrost als „nicht-anarchistisch“ benennen kann.
Selbst an der Person Dorothy Day finden wir Dinge, die auch der solidarische anarchistische Blick nicht übersehen kann: Sei es nun ihre de facto Führungsrolle (nicht nur) in der New Yorker CW-Community oder ihre Tendenz, dem katholischen Klerus zu gehorchen (auch, wenn sie sich immer wieder offen gegen diesen stellte).
Gleichzeitig brüskierte sie aber weit häufiger die KatholikInnen in ihrem Umfeld als die AnarchistInnen. Aber auch hier kommt wiederum der libertäre Charakter der CW zum Zug, denn sämtliche CW-Gemeinschaften sind autonom und so gibt es auch Gruppen, Houses of Hospitality oder Farmen, die ganz klar von dem Verständnis von Religion, wie ihn Day und Maurin vorgaben, abgrenzen. Das kann sogar soweit gehen, dass manche Häuser kaum etwas für die katholische Kirche übrig haben.
Trotz offensichtlicher Widersprüche, die übrig bleiben, wenn man sich mit der CW-Bewegung aus anarchistischer (aber auch aus christlicher) Sicht auseinandersetzt, ist der libertäre Charakter nicht zu übersehen. Die Einflüsse des Anarchismus und Sozialismus auf die Bewegung seit ihren Anfängen in den frühen 1930er Jahre sind augenfällig.
Auch heute wird diese Tradition in CW-Gemeinschaften weitergelebt, obwohl es CW-intern auch die eine oder andere heftige Debatte dazu gegeben hat. Sie waren und sind Teil der christlich-anarchistischen Szene und somit auch der anarchistischen Bewegung. Wenn man die Vielfalt der anarchistischen Szene als Stärke und nicht als Hemmschuh begreift, sind die CW eine interessante Bereicherung für diese seit jeher heterogene Bewegung.
(1) Die IWW repräsentiert einen eigenständigen Strang in der Ideen- und Organisationsgeschichte der ArbeiterInnenbewegung, der als Unionismus bezeichnet wird. Sie sieht sich als die "One Big Union", ein Zusammenschluss der gesamten arbeitenden Klasse auf betrieblich/ökonomischer Basis. Wenngleich der Unionismus Elemente sowohl des Anarchismus, des revolutionären Syndikalismus sowie undogmatische Lesarten des Marxismus in sich aufgenommen hat, zählten zu den Mitgliedern der IWW stets ArbeiterInnen mit verschiedenen Weltanschauungen.
Literatur
Jim Forest: All Is Grace. A Biography of Dorothy Day. Maryknoll, New York 2011 (Obris Books), 344 Seiten, 21,99 Euro, ISBN 978-1570759215