Seit Ende November 2012 finden in Wien die größten selbstorganisierten Protestaktionen von Flüchtlingen in der Geschichte Österreichs statt.
Im Mittelpunkt stehen Anliegen, die sowohl die Verbesserung der konkreten Situation als auch das europäische Asylsystem als Ganzes betreffen.
Die Flüchtlinge kommen aus Pakistan, Afghanistan, Nigeria und Somalia, viele aus dem Maghreb (Algerien und Marokko). Einige sind abgelehnte Asylbewerber, andere warten noch auf den Asylbescheid.
Die Aktionen unter dem Banner Refugee Action Vienna beginnen mit einem Protestmarsch, münden in der Besetzung des Sigmund-Freud-Parks in der Wiener Innenstadt und einige Zeit später in der Besetzung der daran angrenzenden Votiv-Kirche durch rund 40 Flüchtlinge. Ende Dezember treten sie in der Kirche in Hungerstreik.
Dieser dauert zu Redaktionsschluss dieser GWR noch an. Sie formulieren sechs zentrale Forderungen:
- Grundversorgung für alle AsylbewerberInnen, unabhängig von ihrem Rechtsstatus.
- Freie Wahl des Aufenthaltsortes sowie Zugang zum öffentlichen Wohnbau für alle in Österreich aufhältigen AsylbewerberInnen – keine Transfers gegen den Willen der Betroffenen.
- Zugang zum Arbeitsmarkt, Bildungsinstitutionen und Sozialversicherung für alle in Österreich aufhältigen MigrantInnen.
- Stopp aller Abschiebungen nach Ungarn – Stopp aller Abschiebungen im Zusammenhang mit der Dublin II-Verordnung.
- Einrichtung einer unabhängigen Instanz zur inhaltlichen Überprüfung aller negativ beschiedenen Asylverfahren.
- Anerkennung von sozioökonomischen Fluchtmotiven neben den bisher anerkannten Fluchtgründen.
Chronologie und Kontexte
Am 24. November fand ein Protestmarsch mit rund 500 TeilnehmerInnen vom Erstaufnahmezentrum für AsylbewerberInnen im niederösterreichischen Traiskirchen in die Hauptstadt Wien statt.
Die Flüchtlinge wenden sich laut Wiener Zeitung (22.11.2012) gegen „zu geringes Taschengeld, Wohnen auf engstem Raum und Schnellverfahren ohne Berücksichtigung von Fluchtgründen“.
In Traiskirchen lebten zu diesem Zeitpunkt rund 1.400 Flüchtlinge.
Der Marsch traf Mitten in die staatspolitische Diskussion um die Verteilung von Flüchtlingen auf die verschiedenen neun Bundesländer.
Niederösterreich hatte rund 300 Menschen mehr als quotiert aufgenommen, andere Bundesländer wie etwa Salzburg hatten ihre Quote gar nicht erfüllt. Diese Quotendiskussion kann angesichts der sozialen Situation in einem der zehn Reichsten Länder der Erde nur als ein ziemlich widerliches Geschacher beschrieben werden.
Es steht aber im Kontext eines institutionellen Umgangs mit Flüchtlingen, der im Einklang mit den EU-Normen ganz auf Abwehr und Abschreckung ausgerichtet ist. Im April 2011 war zuletzt von der SPÖ-ÖVP-Koalition auf Bundesebene unter kaum vernehmbaren Protest einiger Flüchtlinge und NGOs das so genannte „Fremdenrechtspaket“ verabschiedet worden, das Verschärfungen u.a. in den Bereichen Bewegungsfreiheit, Abschiebung und Nachzug von Familienangehörigen beinhaltete.
Nach Ankunft des Protestmarsches in Wien wurde im zentral gelegenen Sigmund-Freud-Park ein Zeltlager errichtet.
Am 21. Dezember fand auf Anregung der Caritas ein „Runder Tisch“ mit Vertretern des Innenministeriums statt, an dem auch Caritas und Erzdiözese teilnahmen, die Vertreter der Flüchtlinge wurde vorher zahlenmäßig begrenzt.
Am 28. Dezember dann wurde das Camp mit der Begründung eines Verstoßes gegen die Kampierverordnung geräumt.
Nachts um vier ließen die Polizei-Hundertschaften den ZeltbewohnerInnen fünf Minuten Zeit, um ihre Sachen zu packen. Rund 2000 Menschen demonstrieren am 29. Dezember in der Wiener Innenstadt gemeinsam und in Solidarität mit den protestierenden Flüchtlingen.
Am 3. Januar kam dann doch – entgegen vorheriger Klarstellung, es nicht zu tun – die Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) selbst in der Kirche vorbei und redete mit den Hungerstreikenden, machte aber keinerlei Zugeständnisse. Am 14. Januar 2013 werden sieben Aktivisten außerhalb der Kirche nach einem Hinweis aus der Bevölkerung kontrolliert und verhaftet, vier von ihnen kommen sofort in Abschiebehaft.
AkteurInnen des Migrationsregimes
Es ist ein lehrstückhafter Auftritt aller AkteurInnen des gegenwärtigen Migrationsregimes in ihren ineinandergreifenden Rollen und Funktionen: allen voran die Flüchtlinge selbst mit ihren Forderungen und den an Flüchtlingsproteste in anderen Ländern anknüpfende Selbstbezeichnung (Refugee Action).
Demgegenüber steht die rechte Hand des Staates in Person der Innenministerin Mikl-Leitner, die die Proteste erst von „Aktionisten [sic!] aus Deutschland“ gesteuert sah, dann aber doch mit ihnen sprach und nichts einräumte.
Der großen Koalition auf Bundesebene steht die rot-grüne in der Stadt Wien gegenüber bzw. zur Seite, die angeblich von der Camp-Räumung nichts gewusst hat, auch wenn die Räumungsarbeiten nach Angaben der Tageszeitung Kurier (30.12.2012) von Arbeitern einer Firma erledigt wurden, die auch für die städtische Müllentsorgung angeheuert wird.
Die Caritas versorgt die Flüchtlinge „mit Tee und Suppe“ (Caritas-Direktor Michael Landau). Sie möchte sie aus der kalten Kirche in beheizte Zimmer umquartieren und lehnt deren „Instrumentalisierung“ von „Extremisten, egal, ob von links oder von rechts“ (Landau).
Weitere AkteurInnen sind das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), dessen Vertreter die Hungerstreikenden auch für den Umzug in die Wohnungen erwärmen wollte. Darüber hinaus ist da die katholische Kirche, die die Flüchtlinge notgedrungen aufgenommen hat und von einem privaten Sicherheitsunternehmen die Kirchentüren der Votiv-Kirche bewachen lässt.
Zudem gibt es die antirassistischen AktivistInnen, die logistische Unterstützungen aller Art leisten und von Beginn an von allen (!) Zeitungen beschuldigt werden, die Flüchtlinge zu „instrumentalisieren“. Also sind da auch noch die Medien, die im von Boulevardzeitungen dominierten Österreich insgesamt vor allen technisch berichten, d.h. ereignis- und nicht inhaltsbezogen, dabei aber ständig Legitimations- und Definitionsarbeit leisten (Wer darf wen repräsentieren? Wann ist etwas politisch?).
Hinzu kommen ein paar zivilgesellschaftliche AkteurInnen, die sich öffentlich mit den Flüchtlingen solidarisieren, wie etwa das Rektorat der Akademie der bildenden Künste Wien, das gegen die Camp-Räumung protestiert und angenehm patzig verlauten lässt, das „Bundesministerium für Inneres soll endlich dafür sorgen, menschenwürdige Lebensverhältnisse für Asylwerber_innen in Österreich zu schaffen“.
Und schließlich gehören zu diesen AkteurInnen auch die Rechtsradikalen, die in der österreichischen Bevölkerung mit einem Viertel bis einem Drittel der WählerInnenstimmen fest verankert sind. Sie fordern nach der Räumung des Camps auch die Räumung der Kirche und drohen mit Klage wegen „Herabwürdigung religiöser Lehren“ (Johann Gudenus, FPÖ Wien).
In einer Zeitungsanzeige vom 14. Januar 2012 fordert die FPÖ ganz offen gewaltsame Maßnahmen: „Schubhaft, zwangsernähren und abschieben!“
Legitimität und Politik
Schon am 28.11. thematisiert ein Kriminalsoziologe (Reinhard Kreissl) in der liberalen Tageszeitung Der Standard die Schwierigkeit der politischen Repräsentation jener, denen, wie den AsylbewerberInnen, strukturell kein Gehör geschenkt werde. Dass andere ihnen zur vernehmbaren Stimme verhelfen oder dazu beitragen, dass ihre Argumente und Anliegen vernommen werden, scheint ihm skandalös.
Als „Jakobiner im Westentaschenformat“ beschimpft er die UnterstützerInnen.
Die andere ernstzunehmende Tageszeitung, die konservative Die Presse, schließt sich titelnd dem Urteil des Caritas-Direktors an: „Die Not wird instrumentalisiert.“ (23.12.2012)
In der Tageszeitung Österreich heißt es schlicht „Asylwerber von Chaoten aufgehetzt“ (28.12.2012).
Der Instrumentalisierungsvorwurf ist deshalb so interessant, weil er einerseits ganz klassisch herrschaftlich argumentiert und die Protestierenden entmündigt – denn deren Radikalität kommt angeblich immer von Außen und nicht von ihnen selbst.
Andererseits ist er aufschlussreich, weil er leer bleibt – niemand sagt, wofür die Flüchtlinge angeblich zu Instrumenten degradiert würden. Angesichts der Reichweite ihrer Forderungen wäre das wohl auch eine schwer zu beantwortende Frage. Manchmal lassen sich die Leute aber von Ereignissen irritieren: Zunächst wettert auch Standard-Kommentatorin Irene Brickner gegen die angebliche Indienstnahme der Flüchtlinge unter dem Titel „Wider die Dramatisierer“ (27.12.).
Zwei Tage später, nach der Camp-Räumung gibt sie aber den vermeintlichen „Dramatisierern“ dann doch recht: Die „Wiener Polizei hat sich für eine Eskalationsstrategie entschieden“ (29.12.).Zur Frage, ob die Kampierverordnung, wie vom Innenministerium praktiziert, höher einzuschätzen ist als die Versammlungsfreiheit, titelte der Kurier bezeichnend: „Camp-Räumung wird jetzt zum Politikum“ (30.12.2012). Gemeint war damit die von den Grünen angekündigte, juristische Überprüfung des Sachverhalts.
Durchscheinen tut dabei aber vor allem ein auf diese staatspolitisch-juristische Ebene beschränktes Politikverständnis – als wären die Proteste, der Hungerstreik, die Unterstützungen und die rassistischen Anfeindungen kein „Politikum“.
Nur vor dem Hintergrund dieser Verkürzung des Politischen ist es wohl zu erklären, dass auch die Standard-Autorin nach ihrer Repressionsschelte es der Innenministerin als Verdienst anrechnet, den „Mut [sic!] für ein Gespräch aufgebracht zu haben.“ (Der Standard, 04.01.2012) Mal davon ausgegangen, dass damit nicht gemeint war, die Ministerin hätte sich womöglich tätlichen Angriffen der geschwächten, aber wild entschlossenen Hungerstreikenden ausgesetzt, kann sich der Mut ja nur auf den Status der Gesprächspartner beziehen – dass man eben mit jemandem redet, mit dem man von Amts wegen nicht zu reden bräuchte, sich also in eine Gesprächsituation begibt, die einem bzw. einer daher prestigemäßig schaden könnte.
Die Flüchtlinge selbst hingegen haben am Politischen ihrer Aktionen keinen Zweifel gelassen. So erklärten sie etwa auf der Pressekonferenz in der kalten Kirche am 3. Januar 2013: „Unser Protest zielt nicht auf warme Wohnungen, sondern auf die Umsetzung unserer Forderungen.“
Anmerkungen
Anmerkungen zur Schreibweise: Asylbewerber(Innen) werden in Österreich Asylwerber(Innen) genannt, es handelt sich in den Zitaten also nicht um Tippfehler. An den Protesten in Wien sind ausschließlich Männer beteiligt, deshalb werden hier nicht die geschlechtergerechten Bezeichnungen gewählt.
Weitere Infos