Sebastian Kalicha (Hg): Christlicher Anarchismus. Facetten einer libertären Strömung, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2013, 192 S., 14,90 Euro, ISBN 978-3-939045-21-2
Obwohl Christentum und Anarchismus nicht in dem Ruf stehen, viel gemeinsam zu haben, gibt es dennoch Berührungspunkte und Überlappungen: Einzelpersonen, die sich entweder in beiden Bewegungen verorten oder die in ihrem politischen Denken Impulse aus beiden Strömungen miteinander kombinieren, aber auch Gruppierungen, die sich sowohl als anarchistisch als auch als christlich verstehen.
Sebastian Kalicha hat in diesem Band einige dieser Positionen versammelt, wobei sowohl Außen- wie auch Innenperspektive zu Wort kommen. Neben Beiträgen also, die aus einer neutralen Perspektive die Verbindungslinien zwischen Anarchismus und Christentum nachzeichnen – dazu gehören der einleitende Überblicksartikel sowie die Beiträge über christlich-anarchistische Persönlichkeiten wie den französischen Philosophen Jacques Ellul (1912-1994) oder den böhmischen Reformator Peter Chelèický (15. Jahrhundert) – stammen andere Artikel aus der Feder von Aktivisten aus dem christlich-anarchistischen Umfeld selbst.
So schreibt der australische Community-Worker Dave Andrews über die „subversive Spiritualität der Christi-Anarchy“, Tom Cornell von der US-amerikanischen Bewegung „Catholic Worker“ stellt den Aktivismus von Dorothy Day und Ammon Hennacy vor, die diese Bewegung maßgeblich geprägt haben, und der baptistische Pastor Simon Moyle reflektiert aus seinen politischen Erfahrungen heraus Theorie und Praxis des christlichen Anarchismus.
Dabei wird deutlich, dass es ideengeschichtlich immer wieder ähnliche Aspekte sind, die hierbei eine Rolle spielen. So wird in mehreren Beiträgen das Thema Gewaltfreiheit aufgegriffen, die in der christlichen Tradition vor allem auf die so genannte „Bergpredigt“ zurückgeht (in der die Grundlinien einer jesuanischen Ethik zusammengefasst sind, Matthäusevangelium Kapitel 5).
Ihrer Auslegung ist ein eigenes Kapitel gewidmet, dessen Autor, der Politikwissenschaftler Alexandre Christoyannopoulos, die Bergpredigt sogar als „christlich-anarchistisches Manifest“ versteht.
Insbesondere ist dabei Jesu Aufforderung von Interesse: „Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern, wenn dir jemand auf die rechten Backe schlägt, so halte ihm auch die andere hin.“ Dass das eine Aufforderung zur Gewaltfreiheit ist, ist klar, anderes allerdings bleibt zu diskutieren: Ist mit dem „Übel“ jegliches Böses gemeint oder nur (wie man es auch übersetzen kann) der „Übeltäter“? Soll man dem Übel gar nicht widerstehen (wie Leo Tolstoi meinte) oder nur nicht unter Anwendung von Gewalt? Wie ist eine solche Aussage vor ihrem historischen Kontext zu verstehen? Und ist das jesuanische Gewaltverbot ein prinzipielles oder ein strategisches?
Ein weiteres wichtiges Thema ist die christliche Staatskritik, die sich historisch an der Auseinandersetzung der jüdischen Theologie mit der römischen Besatzung festmacht. Dieser Komplex wird ebenfalls in mehreren Beiträgen angesprochen, allerdings nicht so systematisch durchgearbeitet wie die Bergpredigt. Für das Thema des Buches ist die Frage der Staatskritik aber eigentlich zentraler, denn während sich Gewaltlosigkeit ja in vielen Weltanschauungen findet, ist die Ablehnung staatlicher Ordnungen sowohl im Christentum als auch im Anarchismus ein Alleinstellungsmerkmal – sie unterscheidet, zumindest in der Tendenz, den Anarchismus von anderen sozialistischen Bewegungen und das Christentum von anderen Religionen.
Ein drittes Thema ist die Frage nach dem Gottesverständnis, die ja entscheidend ist, um einen der wesentlichen Konflikte zwischen Anarchismus und Christentum zu verstehen: die Frage nach der Unterordnung unter eine höhere Autorität namens „Gott“.
In einer Tradition, die in Gott ein höheres Wesen sieht, dessen Befehlen sich die Menschen unterzuordnen haben, entsteht zwangsläufig ein Konflikt zwischen dem Streben nach herrschaftsfreien Zuständen und Religiosität, und das ist – neben konkreter Kirchenkritik – ein Hauptargument im atheistischen Anarchismus. Es liegt auf der Hand, dass christlicher Anarchismus unter „Gott“ etwas anderes verstehen muss als den „großen Zampano da oben“, aber was genau, hätte im Buch noch etwas ausführlicher verhandelt werden können.
Dennoch ist dieser Sammelband unbedingt lesenswert und als Einführung in die ideengeschichtlichen Verbindungen zwischen Christentum und Anarchismus sehr gelungen.
Der einzige wirkliche Mangel ist, dass die wichtigste christlich-anarchistische Denkerin des 20. Jahrhunderts völlig fehlt: Simone Weil. (1)
Nicht nur wird ihr Denken nicht dargestellt, sie wird auch von keinem der Autoren (Autorinnen gibt es keine) wenigstens mal erwähnt. Angesichts der ideengeschichtlichen Bedeutung von Weil ist diese Leerstelle unbegreiflich.
Zudem wäre sie ein Beleg dafür gewesen, dass sich christliche und anarchistische Grundsätze nicht nur miteinander vereinbaren lassen, sondern dass aus ihrer Kombination heraus originelle (und nach wie vor aktuelle) politische Ansätze entstanden sind.
(1) Siehe dazu: Lebenserfahrung und Geistesarbeit. Simone Weil und der Anarchismus, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2007, 380 S.