Zehn Minuten. So kurz oder sogar noch kürzer dauert es, eine Thoska zu drucken. Thoska, das steht für "Thüringer Hochschul- und Studentenwerkskarte", eine Chipkarte, an der für die Studierenden der Friedrich-Schiller-Universität Jena (FSU) ihr ganzer Alltag hängt. Die Thoska, das ist der Studierendenausweis, der Bibliotheksausweis, eine Geldkarte, mit der man in der Mensa bezahlen und die Kopierer und Scanner in der Uni benutzen kann, das Semesterticket. In Wohnheimen des Studentenwerks kann man nur mit der Thoska die Waschmaschinen benutzen, und manche Universitätsgebäude haben Schlösser, die sich nur mit der Karte öffnen lassen.
Vier Wochen. So lange oder sogar noch länger dauert es, bis die letzten ausländischen Studierenden ihre Thoska bekommen haben. Und zwar nicht vor, sondern nach Semesterbeginn. Jedes Jahr gibt es in Jena Dutzende Studierende, die sich wochenlang mit einem zerknitterten Blatt Papier ausweisen, keine Bücher ausleihen, aber auch keine kopieren und im schlimmsten Fall ihre Wäsche nicht waschen können.
Denn während die deutschen KommilitonInnen ihre Thoska Wochen oder sogar Monate vor Semesterstart zugeschickt bekommen, werden AusländerInnen für die erste Zeit nur vorläufige Ausweise ausgehändigt. Und zwar allen bis auf diejenigen, die ein deutsches Abiturzeugnis vorweisen können.
Service? Aber nur für Deutsche!
Das Studierenden-Service-Zentrum der FSU hat einen geräumigen Wartebereich mit weichen Stühlen, Bücherregalen, einem großen Tisch zum Schreiben, einen Computerarbeitsraum und einen eigenen Eingang in die Cafeteria.
Das Zentrum befindet sich direkt neben dem Eingang ins Uni-Hauptgebäude und ist gut ausgeschildert. Es ist fast immer leer, und ich habe dort nichts zu suchen.
Das Internationale Büro, das erst seit 2008 so heißt und niemandem untersteht außer dem Rektor der FSU, ist gar nicht einfach zu finden. Im Flur vor seinen Räumlichkeiten stehen zwei Holzbänke und ein wackeliger Stehpult. Es gibt Wartezettel, und in den Zeiten, wo die knappen Sprechstunden abgehalten werden, ist der Flur brechend voll. Das ist es, wo ich hingehöre. Nur wusste ich das noch nicht, als ich mich im Juli 2012 für ein Masterstudium an der FSU beworben hatte.
Die Zulassung erreichte mich ein paar Tage nach der Zulassung meines Freundes für einen Platz an derselben Uni.
Froh, dass wir weiter zusammen studieren konnten, hatte ich eigentlich das Gleiche erwartet, was mein Freund bekam: Einen Begrüßungsbrief, eine freundliche Zulassung, ein Dankeschön für mein Interesse an diesem Studienort – ein allgemeines Willkommensein. Nicht eine Spur davon enthielt der Brief, den ich bekommen habe.
Die Zulassung selbst enthielt nur das absolut Notwendige und die Bemerkung, dass sie nur in Kombination mit dem beigefügten Hinweisblatt gültig sei. Das Hinweisblatt war in einem Ton gehalten, der mir die Briefe vom Jobcenter harmlos erscheinen ließ. Von den anderthalb Seiten Text war der Großteil entweder fett gedruckt oder unterstrichen oder beides, das Blatt wimmelte zudem noch von Ausrufezeichen und Zeigefingersymbolen. Wenn die unterschriebene Annahmeerklärung zum „angebotenen“ Studienplatz nicht in den nächsten zwei Wochen bei der Uni ankommt, kann der Studienplatz nicht reserviert werden. Zeigefinger. Fett gedruckt. Zwei Ausrufezeichen. Lange Liste von einzureichenden Unterlagen. Ohne diese Dokumente findet keine Immatrikulation statt. Zeigefinger. Fett gedruckt. Unterstrichen. Zur Immatrikulation persönlich erscheinen. Und zwar pünktlich!
Was war der Grund, warum der Studienplatz meines Freundes sicher und wohlverdient war, meiner aber nur „reserviert“ und „angeboten“?
Wieso wurde er herzlich begrüßt und ich bedroht? Mein Freund war deutsch, und ich kam aus Russland.
Die ganze Ernsthaftigkeit der Drohungen bekam ich zu spüren, als ich mich geweigert hatte, für die Immatrikulation ein Schulabgangszeugnis einzureichen. Nach dem Thüringer Hochschulgesetz gilt ein abgeschlossenes Studium als Hochschulzugangsberechtigung.
Daraus folgt, dass eine Person mit einem Bachelorzeugnis nicht extra ihre Hochschulreife nachweisen muss. Als mein Freund um sein Abiturzeugnis gebeten wurde und auf das Hochschulgesetz verwies, wurde er sofort immatrikuliert – ohne Abiturzeugnis. Bei mir wäre die Pflicht, ein Schulzeugnis einzureichen, nicht nur unangenehm, sondern – wie bei allen Studienbewerberinnen aus Ländern mit „ungewöhnlichen“ Amtssprachen – auch ziemlich kostspielig wegen der beglaubigten Übersetzung.
Sechs Wochen lang fragte ich immer und immer wieder nach dem Grund, warum ich ein zehn Jahre altes Schulzeugnis aus einem anderen Land mit einem anderen Schul- und Notensystem einreichen und nach dem Zweck, zu dem dieses Zeugnis verwendet werden sollte. Ich bekam keine Antwort. Stattdessen immer die gleichen Forderungen, das Zeugnis sofort einzureichen, sonst würde keine Immatrikulation erfolgen.
Während der peinlichen Sammelimmatrikulation für Ausländerinnen habe ich ein Blatt Papier in die Hand gedrückt bekommen und erfahren, dass wir keine richtigen Studierendenausweise erhalten, solange wir keine Adresse in Jena oder der Umgebung angeben können.
Zu diesem Zeitpunkt hatte mein Freund seine Thoska schon seit drei Wochen. Sie wurde an die Adresse seiner Eltern in Reutlingen verschickt. Mein ständiger Wohnsitz war in Magdeburg. Offensichtlich zu weit.
Monate später, als einige Kommilitoninnen von mir das Thema auf einem Treffen des örtlichen Studienbeirats angesprochen hatten, wurde die Pflicht, ein völlig unnötiges Schulzeugnis vorzuweisen, mit der Überprüfung der „Echtheit der Person“ begründet. Auf telefonische Anfrage von einem Mitglied des Studierendenrates hatte eine Mitarbeiterin des Internationalen Büros erklärt, die ausländischen Studierenden müssen eine Adresse in der Nähe der Universität angeben, damit sie keinen Aufenthaltsbetrug begehen können, so tun also, als ob sie hier studieren, um in Deutschland leben zu dürfen. Ausgerechnet das von deutschen Studierenden oft praktizierte „Parkstudium“ also, das Lücken in der Krankenversicherung verhindern soll oder einfach benutzt wird, um die Zeit zwischen verschiedenen Lebensphasen zu überbrücken, wird AusländerInnen pauschal unterstellt und als kriminelle Handlung bewertet.
„Nennen Sie es Generalverdacht, aber wir müssen Missbrauch verhindern!“, sagte eine Mitarbeiterin des Büros mir ins Gesicht. Ja, danke für den Klartext. Ich nenne es Generalverdacht. Und ich nenne es eine ausländerfeindliche Rechthaberei.
Institutionalisierte Barbarei und sarrazinistischer Sprachgebrauch
Das Fehlen eines Ausweises bedeutet Stigmatisierung. Man fällt damit auf: In der Straßenbahn während der Fahrkartenkontrolle, im Labor oder beim Sport, in der Mensa, wo man ohne die Chipkarte langsamer zahlt und die Schlange verlängert. Es kann aber auch noch ernster werden: Mit der Thoska werden auch die Zugangsdaten für das Online-Studienverwaltungssystem verschickt.
Wer sich dort nicht vor Vorlesungsbeginn anmeldet, kann oft nicht mehr an Lehrveranstaltungen teilnehmen. Man kann sich auch manuell freischalten lassen, allerdings muss man dafür das zentrale Rechenzentrum finden, das sich recht gut hinter einem Friedhof versteckt, und oft noch den Operator über Haustelefon anrufen. Wer das nicht schafft, weil er das Rechenzentrum nicht findet oder auch, weil er oder sie nicht auf Deutsch telefonieren kann, verliert im schlimmsten Fall ein Semester. Das Studium zum Schein, dessen wir beschuldigt werden, kann auf die Weise schnell – und unfreiwillig – wahr werden.
Wenn man fragt, wozu das Internationale Büro überhaupt gut ist, antworten die MitarbeiterInnen, weil die „intensive“ und „persönliche“ Betreuung der internationalen Studierenden nur so sichergestellt werden kann. Wenn man fragt, warum sie keinen Unterschied machen zwischen Menschen, die wirklich Betreuung benötigen und frisch aus dem Ausland ankommen, und Migranten, die schon seit Jahren hier leben und eine sichere Postadresse haben, antworten sie, sie können uns doch nicht alle unterscheiden.
Wenn man fragt, warum sie Menschen mit einem deutschen Abitur wie Deutsche behandeln, nicht aber Menschen mit anderen deutschen Bildungsabschlüssen, obwohl sie damit geltendes Recht verletzen, antworten sie, sie gehen einfach davon aus, dass Menschen, die ein deutsches Abitur haben, auch mit der Kultur vertraut sind.
Welche Kultur?
Es gibt in Deutschland vermutlich keine Hochschule, wo alle Menschen völlig gleichberechtigt sind. Diskriminierung auf die eine oder andere Art gibt es immer. Das, was die Uni Jena aber von anderen unterscheidet, ist nicht die Tatsache, dass hier Diskriminierung stattfindet. Mit der Schaffung des Internationalen Büros und der Übertragung der vollständigen Macht über das Studium von AusländerInnen an dieses bürokratische Monstrum, das sich gleichzeitig für Polizei und Ausländerbehörde hält, wurde ein System von einer vollständigen, institutionellen wie symbolischen Segregation geschaffen. Dieses System ist barbarisch, und es breitet sich auf alle Bereiche des universitären Lebens aus.
Das Referat für interkulturellen Austausch des Studierendenrates besteht fast nur aus Menschen ohne Migrationshintergrund und bedient sich eines sarrazinistischen Integrationsbegriffs, indem es die „Integration der ausländischen Studierenden“ als sein Ziel bezeichnet. Es geht nicht um Austausch, sondern um einseitige Anpassung. Das ist die offizielle Vertretung des ausländischen Studierenden. Nach Angaben eines Mitglieds steht das Referat „voll und ganz“ hinter dem Internationalen Büro, mit dem es auch personelle Überschneidungen hat.
Wir sind Ressourcen, Werbeträger, Dienstleister – alles, nur nicht gleichberechtigte Mitstudierende. In regelmäßigen Abständen bekommen wir Umfragen, in denen unsere Integrationsbereitschaft abgefragt wird. Doch Integration ist in ihrer ursprünglichen Bedeutung ein vielseitiger Prozess. Wer sich also integrieren sollte, ist diese Uni.