Die Kommunalwahlen am 30. März 2014 beherrschten in den Wochen vor und nach dem Wahltermin die politischen Debatten in der Türkei und wurden quasi als Volksabstimmung zu der AKP-Regierung unter Erdogan verstanden. Die Wahlen waren ein erstes Barometer für die Stimmung unter Bevölkerung nach den zahlreichen Korruptionsaffären der Erdogan-Regierung und dem schmutzigen Machtkampf zwischen verschiedenen islamisch-konservativen Fraktionen in und um die AKP (1).
Daneben sind die Wahlen aber auch ein Anzeichen dafür, wie breit verankert die vielfältigen Protest- und Basisbewegungen sind, die spätestens mit den Gezi-Protesten 2013 sichtbar wurden. Oder zumindest dafür, wie stark sich die Protestbewegung als Wählerpotenzial erschließen lassen. Erwähnenswert hierzu wäre die HDP-BDP, eine Allianz von türkischen und kurdischen linken Kräften, in der neben traditioneller Parteien und Organisationen auch prominente Figuren aus den Protestbewegungen, der LGBT-Bewegung (2) und den ethnischen und religiösen Minderheiten zu finden sind.
Nach den öffentlichen Debatten im Vorfeld der Wahlen zu urteilen, waren ein Erstarken der linken Kräfte und ein deutlicher Verlust von Wählerstimmen für die AKP zu erwarten gewesen. Die Korruptheit der Regierung und die Selbstbereicherung der Erdogan-Clique ist u.a. auf youtube dokumentiert, nicht zuletzt durch geleakte Telefongespräche zwischen Erdogan und seinen Söhnen. Im Zuge des Machtkampfs zwischen Erdogan und Fethullah Gülen, der ein islamisch-konservatives Netzwerk leitet und bis vor kurzem mit Erdogan verbündet war, kamen noch weitere Leaks zustande. Davon war besonders brisant die Aufnahme einer Telefonkonferenz zwischen Außenministerium, Geheimdienst und der türkischen Armeeführung darüber, wie eine türkische Militärintervention in den syrischen Bürgerkrieg herbeigeführt werden kann. Dabei wurde auch über false-flag-Operationen, in denen ein syrischer Angriff auf die Türkei fingiert werden sollte, gesprochen.
Der Ablauf der Kommunalwahlen war ebenfalls ein Skandal. Unabhängige BeobachterInnen sprechen von über 1400 dokumentierten Fällen von Wahlfälschung und Wahlmanipulation, angefangen davon, dass keine Wahlkabinen existierten und so keine geheime Wahl möglich war, bis hin zur Vernichtung von abgegebenen Wahlzetteln. In bewaffneten Auseinandersetzungen starben im Zusammenhang mit der Wahl mindestens acht Menschen und es gab Übergriffe auf WahlbeobachterInnen und Oppositionelle. Pünktlich zur nächtlichen Stimmenzählung fiel in weiten Gebieten der Türkei der Strom aus, so dass vielerorts die Stimmen bei Kerzenlicht gezählt wurden. Wie viele Stimmen hierbei manipuliert wurden, wird sich kaum aufklären lassen.
Die landesweiten Ergebnisse der Kommunalwahlen sind wie folgt: Die Regierungspartei AKP siegt mit 45% (+7% gegenüber 2009) der Stimmen, die kemalistische Oppositionspartei CHP (3) kam auf 28% (+5%), die nationalistisch-faschistoide MHP auf 15% (-1%) und die linke Allianz HDP (4) – BDP (5) auf 6,5% (+1,5%) der Stimmen. Diese Ergebnisse gehen nicht allein auf Wahlmanipulationen und Wahlfälschungen zurück. Offensichtlich kann die AKP trotz Korruptionsaffären und trotz der breiten öffentlichen Kritik an der Regierungspolitik genug WählerInnen mobilisieren, um weiterhin an der Macht zu bleiben. Solange die AKP einen ökonomischen Erfolg der Türkei sichern kann, sodass viele BürgerInnen (zumindest subjektiv) ihren Lebensstandard halten können, bleiben die repressive politische Atmosphäre und die Korruptheit der Regierenden offenbar wenig relevant. Zumindest sind die WählerInnen nicht bereit, ihren Lebensstandard angesichts der wenig überzeugenden Opposition zu gefährden und setzen mit der AKP auf den Erhalt des status quo.
Im Gegenzug hat die linke Allianz HDP-BDP außerhalb der kurdischen Bevölkerungsgruppe kaum Stimmen erhalten und die erhoffte Einbindung von anderen linken Strömungen, Basisbewegungen und Minderheiten scheint vorerst gescheitert zu sein. Die einzige Oppositionspartei, die zulegen konnte, ist die kemalistische CHP, die gewisse liberale Töne aussendet, wie etwa die Aufstellung von LBGT-KandidatInnen und sich gegen die islamisch-konservative Politik der AKP stellt. In anderen Bereichen ist die CHP keine wirkliche Alternative zur AKP, so etwa wenn es um einen gerechten Frieden für die kurdischen Regionen geht. Die Verhandlungen zwischen der Regierung und den Vertretern der kurdischen Bevölkerung wird nicht nur von der nationalistisch-faschistoiden MHP als „Landesverrat“ gebrandmarkt, sondern auch von CHP-Funktionären.
Insgesamt zeichnet sich bereits ab, dass in den nächsten Wahlen (Direktwahl des Staatspräsidenten 2014 und die Parlamentswahlen 2015) die AKP ebenfalls siegen dürfte. Die linken Basisbewegungen haben im Rahmen des parlamentarischen Systems lediglich die HDP-BDP als Ansprechpartnerin, wobei die Zukunft der Allianz angesichts der mageren Ergebnisse außerhalb der kurdischen Regionen unsicher bleibt. Angesichts einer zunehmend autoritär und konservativ agierenden AKP-Regierung sind dies keine guten Aussichten.
(1) Adalet ve Kalkinma Partisi, deutsch: "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung"
(2) Lesben, Schwule, Bisexuelle und Trans
(3) Cumhuriyet Halk Partisi, deutsch: "Republikanische Volkspartei"
(4) Halklarin Demokratik Partisi, deutsch: "Demokratische Partei der Völker"
(5) Baris ve Demokrasi Partisi, kurmandschi: Partiya Astî û Demokrasiyê, deutsch: "Partei des Friedens und der Demokratie"
Zum Thema Türkei siehe auch Seite 13 f. in dieser GWR