Lieber Horst,
die Überschrift „Die Landrechtsbewegung in Indien unter Modi“ hat mich in die Irre geführt. Statt einem Überblick über diese Bewegung und eine Einschätzung der aktuellen Situation unter Modi, gab es einen Werbeblock für die Ekta Parishad und eine Verharmlosung Modis. Weil ich Dich sehr schätze, habe ich mir die Mühe gemacht, aufzuschreiben, was ich anders sehe:
Modi mit einem Herz für Arme
Auch als „Schlächter von Gujarat“ kam Modi schon aus „armen Verhältnissen“. Die „zwei Gesichter“ Modis standen bisher für Neoliberalismus und Hindunationalismus. Ein Herz für die Armen hat Modi nie gezeigt.
Die Blockierung des Bali-Abkommen der WTO ist zu begrüßen. Ob das auch den Armen nützen wird, muss sich noch zeigen. Durch die Verschiebung der Armutsgrenze haben womöglich immer weniger Menschen Zugriff auf subventionierte Lebensmittel.
Als Regierungschef Indiens forciert Modi das Atomprogramm. Mit den angekündigten Infrastrukturmaßnahmen wird die Vertreibung von Menschen ein bisher nicht gekanntes Ausmaß annehmen. (1)
Landenteignungen will er vereinfachen, „Behinderungen“ durch Umweltschutzauflagen beseitigen. Die Entscheidung den Sardar-Sarovar-Staudamm am Narmada-Fluß im Bundesstaat Gujarat von 122 auf 139 Meter zu erhöhen, wird 250.000 Menschen die Existenzgrundlage entziehen. (2)
Die außerparlamentarische Opposition wird bedroht. Selbst Greenpeace soll eine Gefahr für die nationale Sicherheit sein.
Dass Ekta Parishad „illusionslos, aber konsequent“ Handlungsspielräume auszunutzen versuche, während viele Linke angesichts des „Bösewichts Modi“ gelähmt seien, das ist doch überflüssige Polemik, um den EP-Führer Rajagopal als Ritter ohne Furcht und Tadel zu überhöhen. Ein realistisches Bild der Ekta Parishad (im Folgenden kurz EP) halte ich für eine wesentliche Voraussetzung um zu überlegen, ob und wie wir gegebenenfalls die „Jai Jagat Kampagne“ unterstützen wollen.
Gewaltfreiheit mit der Staatsgewalt
Die Gewaltfreiheit der EP muss im indischen Kontext gesehen werden. Sie richtet sich direkt gegen die bewaffneten Gruppierungen. Diese reichen von den in Indien sehr starken maoistischen Guerillagruppen (3) bis zu Adivasi-Gruppen, die mit Pfeil und Bogen Mitarbeiter der Urangesellschaft fernhalten. Der indische Staat bekämpft all diese Gruppen als Naxaliten oder neuerdings als Linksextreme („Left Wing Extremism“).
Rajagopal empfiehlt der indischen Regierung im Kampf gegen die Naxaliten die Strategie zu ändern und, statt noch mehr Militär einzusetzen, auf zivilgesellschaftliche, gandhianische Gruppen wie eben die EP zu setzen. Er möchte zusammen mit der Regierung das „Naxaliten-Problem“ lösen. (4)
Dialog und Massenmobilisierung
EP setzt strategisch auf den Dialog mit den Regierenden einerseits und Basisarbeit und Massenmobilisierung andererseits.
Da drängen sich Fragen auf: Von wem haben die Verhandelnden ein Mandat? Wer kontrolliert sie? EP bietet sich auch als Mediator in Konflikten an. Sollte das nicht genauso kritisch gesehen werden wie etwa die „strategischen Einbindung“ des Widerstandes gegen Stuttgart 21?
Hatten die 50.000 Menschen auf dem „Marsch der Hunderttausend“ 2012 irgendjemandem ein Mandat erteilt, hatten sie die Chance die Verhandlungen zu verfolgen, zu beeinflussen und das Ergebnis zu bestimmen? Vor dem Marsch gab es zehn Treffen zwischen dem EP-Chef Rajagopal und Minister Jairam Ramesh. (5) Oder ist es umgekehrt so, dass hier einige wohlmeinende AktivistInnen um Rajagopal sich selbst ein Mandat erteilt haben und mit der Vorführung der „Friedensarmee“ lediglich ihre Verhandlungsposition stärken wollten?
War der Marsch 2012 ein „großer Erfolg“?
In der GWR 391 wird der 10-Punkte-Vertrag, der zum Abbruch des Marsches am 11. Oktober 2012 vereinbart wurde, als „großer Erfolg“ gefeiert. U.a. sehe dieser Landtitel für 3,5 Millionen InderInnen vor. Unklar bleibt, was das konkret heißt? Haben 3,5 Millionen Menschen wirklich Land bekommen oder nur ein Stück Papier ohne Land oder für Land, das faktisch ohnehin ihres ist, etwa nach dem Waldrechtsgesetz.
Der 10-Punkte-Vertrag ist im Internet nachlesbar. Da ist die Rede von Gesprächen, Vorschläge, Empfehlungen und der Einrichtung einer Kommission. Nichts Konkretes oder sofort Überprüfbares wurde vereinbart. Und schon gar nicht die Zuteilung von Land. Ein halbes Jahr später berichtete EP dann, „etwa 70 Prozent“ des 10-Punkte-Vetrages seien umgesetzt, etlichen Meetings hätten stattgefunden, ein Gesetzentwurf sei in Arbeit, usw., usw.
Joseph Keve zeichnete in der Schweizer WOZ ein ganz anderes Bild: „Nun kehren sie wieder mit leeren Händen heim. Denn der Zentralstaat kann versprechen, was er will: Die Zuständigkeit für Landfragen liegt nicht bei ihm, sondern bei den Bundesstaaten.“ (6)
„Wieder mit leeren Händen“, weil EP 2007 schon einmal einen Landlosenmarsch ohne greifbares Ergebnis organisiert hatte.
„Damals zogen 25.000 Landlose die 350 Kilometer von Gwalior nach Delhi, es war ein hartes Unterfangen für die zum großen Teil unterernährten Menschen, rund ein Dutzend TeilnehmerInnen starben während des Marschs und danach.“ (7)
EP feierte die Vereinbarung mit der Regierung zunächst ebenfalls als großen Erfolg, alle Forderungen des Marsches seien erfüllt worden. (8) Die Notwendigkeit eines neuen Marsches im Jahr 2012 wurde dann damit begründet, trotz vieler Bemühungen zu Dialogen und Zusammenarbeit mit der Regierung, sei es nicht gelungen die Regierung zum Handeln zu bewegen. (9)
Warum keine konkreten Forderungen?
Im September 2012 waren in Kudankulam zwei Fischer von der Staatsgewalt umgebracht worden. Die Staatsmacht belagerte den Atom-Widerstand in Idinthakarai. Viele Menschen waren unter absurden Anschuldigungen verhaftet worden.
Warum forderte EP im Oktober nicht die Freilassung der Atomkraft-GegnerInnen und die Aufhebung des Belagerungszustandes – wenigstens als Zeichen des guten Willens seitens der Regierung. Die Umsetzung einer solchen Forderung wäre für die TeilnehmerInnen des Marsches sofort überprüfbar gewesen.
Kudankulam ist nur ein Beispiel. Die Frage bleibt: Warum keine einzige sofort umsetzbare und damit auch überprüfbare Forderung?
„Meisterleistung in Selbstorganisation“
Beim Marsch 2012 führte Rajagopal 20 Camp-Führer. Ein Camp-Führer hatte 20 Gruppenführer unter seinem Befehl („under command“). Diese hatten je 10 Abschnittsleiter unter ihrem Kommando. Darunter kamen die Dorfführer und ganz unten das Fußvolk. EP stellt die Organisationsstruktur ihrer „Friedensarmee“ auch grafisch als Hierarchie mit Rajagopal als oberstem Führer dar. (10)
„At the top of the peace army structure, Rajagopal is the leader …“. (11)
Und dann noch Disziplin, Disziplin, Disziplin und in Dreier-Reihen marschieren müssen.
Ja, es ist auch möglich sich in fünf Hierarchiestufen selbst zu organisieren. Aber ist das eine „Meisterleistung“?
Millions can walk
Der Film „Millions can walk“ zeigt den „Marsch der Hunderttausend“ als Massenchoreografie. Solche Bilder mögen Verhandlungspartner aus der Regierung beeindrucken. (12)
Die TeilnehmerInnen wurden durch die Erfahrung, dass sie viele sind, sicher auch in ihren Hoffnungen auf Veränderungen gestärkt. Rajagopal erklärt im Film auch, die Erzeugung von Hoffnung sei sein Hauptziel.
Was passiert aber, wenn diese Hoffnungen immer wieder enttäuscht werden?
Beim Marsch 2007 starben einige Menschen. Der Marsch 2012 wurde, wie der Film „Millions can walk“ zeigt, nicht etwa abgebrochen, weil die Regierung nun plötzlich alle Forderungen erfüllt hätte, sondern weil immer mehr Menschen krank wurden.
Es fehlte an sauberem Wasser. Eine Fortsetzung des Marsches hätte wieder Menschenleben kosten können.
Kampagne 2020
Und dann sollen sich im Jahr 2020 eine Million Menschen auf den Weg nach Delhi machen?
Wieder in einer Armeestruktur? Wieder ohne konkrete, für alle überprüfbare Ziele?
Kann für eine Million Menschen Infrastruktur, sauberes Wasser und Nahrung bereit gestellt werden? Ist solch eine zentrale Massenaktion, bei der die Zeit gegen die Teilnehmenden arbeitet, überhaupt angemessen?
Wären nicht viele, kleinere, dezentrale Aktionen wirksamer, die Fakten schaffen und die über einen längeren Zeitraum durchzuhalten sind? (13)
Wir sollten genauer hinschauen. EP ist eine hierarchische Organisation, die sehr stark von der Persönlichkeit Rajagopals geprägt ist. Vor Ort engagieren sich viele hauptamtliche SozialaktivistInnen; sie initiieren und unterstützen dort auch gute Projekte und Basisbewegungen.
Die zentralen Teile der EP orientieren sich stark am Dialog mit der Regierung und an möglichen Geldgebern.
Massenmobilisierungen sollen in erster Linie die Verhandlungsposition stärken, Erfolgsmeldungen und übertriebene Zahlen sollen SpenderInnen beeindrucken. Die zentralen Aktionen sind auf diese ausgerichtet und kein Ausdruck der Selbstorganisation der armen Landbevölkerung. Die Konzentration auf das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren schiebt reale Veränderungen auf die lange Bank. Mit Dialogorientierung und Gewaltfreiheitspostulat dient sich EP dem Staat als weiche Waffe gegen militante Aufstandsbewegungen an.
Vermutlich liegt Felix Padel mit seiner Einschätzung richtig: „Es gibt in Indien sehr viele Basisbewegungen, und ich glaube, dass es sehr schwer ist, sie zu vereinen. Andererseits ist die Unfähigkeit, sich zu vereinen, auch eine Stärke.
Da gibt es beispielsweise eine Organisation namens Ekta Parishad, die am Vermächtnis Gandhis orientiert ist, aber aus dem Ausland finanziert wird. Ihre Funktionäre führen all die richtigen Worte im Mund, aber hinter dem Rücken der Leute machen sie Deals.“ (14)
Bei aller Sympathie für die Entrechteten in Indien sollten wir uns davor hüten, uns mit einzelnen Organisationen zu identifizieren und uns ihre Selbstdarstellung zueigen zu machen. Solidarität geht anders: Die multinationalen Konzerne, die vom Landraub in Indien und der Vertreibung von Menschen profitieren, sind auch in Deutschland vertreten. Auch deutsche Unternehmen sind beteiligt.
Diese sollten wir uns genauer ansehen, um dann Aktionen zur Unterstützung von Basisbewegungen in Indien initiieren zu können. Ob auch im Rahmen der „Jai Jagat Kampagne 2020“ wäre zu klären.
(1) www.ag-friedensforschung.de/regionen/Indien1/konzerne.html
(2) www.ag-friedensforschung.de/regionen/Indien1/monster.html
(3) Arunthati Roy "Wanderung mit den Genossen: Mit den Guerillas im Dschungel Zentralindiens" und die differenzierte Kritik in der GWR 355 dazu oder auch Lutz Getzschmann "Indien und die Naxaliten: Agrarrevolten und kapitalistische Modernisierung"
(4) www.ektaeurope.org/Aktuell/TabId/121/ArtMID/498/ArticleID/44/
(5) www.livemint.com/Politics/V3vqenDXQgnYF7LhYW595L/Govt-may-signagreement-with-marching-peasants-on-Thursday.html?ref=related
(6) www.woz.ch/1243/kommentar-von-joseph-keve-bombay/engagiert-und-stark-aber-ziemlich-leicht-zu-besaenftigen
(7) www.woz.ch/1243/kommentar-von-joseph-keve-bombay/engagiert-und-starkaber-ziemlich-leicht-zu-besaenftigen
(8) http://newint.org/columns/makingwaves/2010/09/01/pv-rajagopal/
(9) http://js2012.wordpress.com/why-jansatyagraha-2012/
(10) www.ektaparishad.com/en-us/campaigns/jansatyagraha2012/organisation.aspx
(11) wie 10
(12) Mir kam das Ganze wie ein abgekartetes Spiel vor. Das Einverständnis zwischen Rajagopal und Ramesh und das selbstzufriedene Grinsen des Letzteren sind wohl schuld daran.
(13) Etwa Landbesetzungen oder andere direkte Aktionen, die in Indien ja auch gängig sind.
(14) www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0116.html
Filmhinweis / Termine
Im Oktober läuft der Film "Millions Can Walk" über die indische Landrechtbewegung in mehreren Kinos. Anschließend besteht die Möglichkeit, mit Rajagopal P. V. über den Film und Ekta Parishad zu diskutieren. Tailer: www.millionscanwalk-film.com/de/projekt/trailer/
14.10., 20 Uhr im Filmforum Frankfurt Höchst
15.10., 19 Uhr im Kommunalen Kino
16.10, 20.15 Uhr im Babylon Kino Berlin
17.10., 20 Uhr Filmclub 813 Köln
18.10. Bielefeld
20.10. Hamburg im Abaton