anarchismus

„Die Zeit der Parteien ist vorbei: The party is over“

John Holloway im Gespräch

Der Politikwissenschaftler John Holloway (*1947 in Dublin) lehrt seit 1993 an der Benemérita Universidad Autónoma de Puebla (BUAP) in Mexiko. Er ist einer der bekanntesten Analytiker des zapatistischen Aufstandes (1). Das folgende Gespräch wurde am 24. Oktober 2014 im Rahmen des elevate-Festivals (2) in Graz von Mitarbeiter_innen des Elevate Filmteams, Radio Helsinki und Libertad Weiz auf deutsch und englisch mit ihm geführt und von Paul Friedrich (3) für die Graswurzelrevolution bearbeitet und übersetzt. (GWR-Red.)

Graswurzelrevolution (GWR): Mit welchen Herausforderungen sind wir heute konfrontiert?

John Holloway: Die Welt zu verändern. Den geradlinigen Ansturm in Richtung Massenselbstmord zu stoppen.

In anderen Worten: Die Dynamik des Kapitalismus zu brechen und eine vernünftigere Welt zu schaffen!

GWR: Du sprichst oft von „Rissen“ im herrschenden System. Kannst du diesen Begriff näher erklären?

John Holloway: Das hat mit der Vorstellung von Revolution zu tun: Für mich ist die Revolution heute dringender denn je, und wahrscheinlich hat es nie zuvor ein so weit verbreitetes Bewusstsein darüber gegeben, dass der Kapitalismus eine Katastrophe ist.

Eine Katastrophe aufgrund des Chaos und des Leids, das er in jedem Moment erzeugt; eine Katastrophe aufgrund der realen Gefahr, die Lebensgrundlage der menschlichen Existenz zu zerstören.

Wir leben in einer Dynamik des Todes und der Zerstörung, in einer Dynamik des Geldes, aber heute ist der Tag, wo wir „Nein!“, „Ya basta!“, „Wir können nicht mehr!“ schreien: „So darf es nicht mehr sein!“ Wir empören uns, weil es immer weniger Platz gibt für Kritik, für Verständigung, für das Leben.

Nun kommt es drauf an, das Hoffen zu lernen – nicht eine törichte, leere Hoffnung, dass am Ende schon alles gut ausgehen wird, sondern es muss eine begründete Hoffnung sein, eine docta spes, wie Ernst Bloch meint. Wir müssen also die Hoffnung wieder erlernen.

Wir müssen lernen, unsere Augen und Gedanken zu öffnen und über den Kapitalismus hinaus zu blicken. Zu Blochs Zeiten waren diese Hoffnungen noch mit dem Staat verbunden, aber das ist vorbei.

Die Hoffnung liegt also nicht darin, eine Partei aufzubauen, nicht darin, die Kontrolle über den Staat zu gewinnen – einfach weil der Staat eine vollständig in den Kapitalismus integrierte Institution ist, die nicht zu dessen Überwindung genutzt werden kann. Die Hoffnung liegt jetzt in den Abermillionen von uns, die sagen: „Nein, wir werden eure Zerstörung der Welt, eure Herrschaft der Reichen und des Geldes, nicht hinnehmen, nicht mehr! Wir werden die Sachen auf andere Weise machen, uns auf andere Weise miteinander verbinden. Wir wollen eure Totalität des Todes nicht. Wir wollen gar keine Totalität!“

Wir weisen den Kapitalismus zurück und schaffen etwas anderes. Wir nehmen unsere Verantwortung in die Hand und stellen dem Kapitalismus und dieser Art zu leben, zu denken und der sozialen Beziehungen, eine andere Art entgegen: Risse im Gefüge der Herrschaft. Wir kommunisieren (engl: communize): Wir kämpfen darum, diese Erde zu unserer Erde zu machen, bevor das kapitalistische System sie vollständig zerstört.

Wir kämpfen, um eine Lücke zu öffnen zwischen der Zukunft des Kapitalismus, die nur der Tod sein kann, und der Zukunft der Menschheit, die immer noch das Leben sein kann, wenn es nicht schon zu spät ist. Ernst Bloch legte die Hoffnung in das Noch-nicht, die Macht der Welt, die bislang nicht existiert und deswegen als Noch-nicht existiert in unseren Verweigerungen, in unseren Träumen, in unseren experimentellen Kreationen, in unserem Drängen gegen und jenseits des Kapitals.

Wir müssen lernen, den Liedern jener Welt, die noch nicht existiert, zuzuhören und sie selber zu singen, so laut wie möglich.

Arundhati Roy drückt das schön aus: „Eine andere Welt“, sagt sie, „ist nicht nur möglich. Sie ist bereits auf dem Wege. Und wenn man an einem stillen Tag sehr genau hinhört, kann man sie atmen hören.“

GWR: In deinem Buch „Die Welt verändern, ohne die Macht zu erobern“ (4) gehst du auf den „Schrei“ ein, in älteren Texten sprichst du von der „Würde“. Wie wichtig findest du es, neue Wörter zu finden, um marxistische Theorie zu beschreiben?

John Holloway: Theorie kann nicht unabhängig von den Kämpfen verstanden werden. Wenn wir sagen, dass die marxistische Theorie immer entfernter von der Wirklichkeit der antikapitalistischen Kämpfe zu sein scheint oder zu sein droht, dann ist es wichtig, die Begriffe ausgehend von diesen Kämpfen zu denken – nicht über sie, sondern von den realen Kämpfen der Bewegung ausgehend Wörter immer wieder neu zu erfinden, Begriffe neu zu formulieren. In Mexiko haben wir mit den Zapatistas ein wichtiges Beispiel. Die haben den Wortschatz der Revolution neu erfunden und damit großen Einfluss auf die Menschen in ihrem Umfeld und auf der Welt. […] Was wir da hören, ist die Poesie der Bewegung, die Poesie der anderen Welt, die darum kämpft, geboren zu werden. Die Poesie ist wichtig, weil es sich darum handelt, die Prosa der jetzigen Gesellschaft zu brechen, die Welt zu öffnen, Möglichkeiten zu sehen, die Faktizität der alten Gesellschaft zu brechen. […]

Früher dachten wir, die Geschichte ist auf unserer Seite.

Heute empfinden wir eher das Gegenteil: Es ist absurderweise leichter, sich das Ende der Menschheit vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus. Wir müssen es schaffen, diese Dinge zu trennen.

GWR: Du hast in der Diskussion statt von „commons“ lieber von „communize“ gesprochen. Wieso?

John Holloway: Mir geht es darum, in Zeitwörtern zu denken anstatt in Hauptwörtern: Revolution bedeutet den Sieg der Zeitwörter über die Hauptwörter. […] Es gibt eine lange Tradition bei den Linken, die von der Revolution immer in der dritten Person spricht, also: sie – die Unterprivilegierten; sie – die Arbeiter_innen; sie – die Bäuer_innen; die Migrant_innen, usw.

Ich finde das gefährlich, denn wenn wir von der dritten Person ausgehen, führt das fast unausweichlich zur Frage: Wie können wir sie vertreten? Wie können wir ihnen helfen?

Wenn wir so fragen, dann ist die beste Antwort wahrscheinlich: durch den Staat. Der Staat ist eine Institution, die ihnen vielleicht helfen könnte. Die Revolution steckt für mich aber nicht in der Frage: Wie können wir ihnen helfen?

Die Frage ist vielmehr: Wie können wir eine selbstbestimmte Gesellschaft schaffen? Selbstbestimmung muss immer von einem Wir ausgehen. Wenn wir ihnen helfen, dann verneinen wir ihre Selbstbestimmung.

GWR: Sollen bei Bewegungen wie bei Occupy Leute wie Rassist_innen oder Sexist_innen ausgeschlossen werden?

John Holloway: Nein. Wenn man sich in selbstbestimmten Strukturen, in Rätestrukturen bewegt, dann gibt es immer die Gefahr, dass die Leute sagen, dass es ihnen nicht gefällt. Wenn wir aber von Vornherein sagen: Selbstbestimmung nur, wenn die Leute mit dem einverstanden sind, was wir wollen, dann ist das keine Selbstbestimmung.

Ich denke, Probleme gehören einfach dazu, sie sind ein wichtiger und notwendiger Schritt auf unserem Weg. Die Leute, die bei den Occupy-Besetzungen zusammenkommen, kommen immer auch von außerhalb; da kommen Trotzkist_innen, die gelernt haben, Versammlungen zu dominieren; da kommen Süchtige, jede Menge Drogendealer, Leute mit psychischen Störungen; und es ist natürlich ein reales Problem: Was macht man mit jemandem, der daherkommt und nur schreit?

Die Antwort ist nicht einfach, aber was wir vielleicht lernen können, ist, dass wir uns nicht so sehr auf die Antworten, sondern vielmehr auf die Art und Weise konzentrieren, wie wir den Kampf führen, wie wir die Parteien ersetzen können.

Denn die Zeit der Parteien ist vorbei: The party is over. Wir erfinden neue Formen, die Dinge zu tun. Dabei gibt es auch Probleme, aber wir lernen daraus, das gehört dazu. Ich glaube nicht, dass unser Weg vorwärtszukommen darin bestehen kann, Leute auszuschließen oder Treffen in geschlossenen Räumen abzuhalten, das wäre nicht richtig. […]

Revolution bedeutet für mich, den Kapitalismus loszuwerden und die Gesellschaft auf einer anderen Grundlage zu organisieren, auf einer vergesellschafteten Grundlage. Revolution in diesem Sinne hat bereits begonnen. Revolution bedeutet zu sagen: „Nein! Wir wollen die Dinge auf eine andere Art tun!“ […] Das Kapital ist eine ständige Aggression gegen uns, und die Revolution ist nicht ein einmaliges Ereignis, sondern sie besteht in einem andauernden Prozess der Konfrontation.

GWR: Kann eine gewaltfreie Revolution überhaupt erfolgreich sein, wenn man bedenkt, dass das kapitalistische System über eine Unzahl von gewalttätigen Strukturen und Institutionen wie Polizei und Militär verfügt? Können wir es uns leisten, auf Gewalt zu verzichten?

John Holloway: Das ist ein großes Problem für uns: Wir sind nicht besonders gut, wenn es um Gewalt geht. Sie sind es sehr wohl, sie werden ja auch immer gewalttätiger, und die Frage für uns lautet: Wie gehen wir damit um?

Ich denke, sobald wir ebenso gewalttätig werden wie sie, haben wir verloren. Wir haben verloren, denn sich auf Gewalt einzulassen bedeutet, hierarchisch organisiert zu sein, sexistisch zu sein – und das ist nicht die Gesellschaft, die wir uns vorstellen. Die Frage lautet: Wie überwinden wir ihre Gewalt, ohne sie zu reproduzieren? Denn greifen wir zur Gewalt haben wir ja zum einen nicht dieselben Ressourcen wie sie und würden wahrscheinlich verlieren; und zum anderen würden wir uns selbst zerstören.

Die Zapatistas beispielsweise haben sich bewaffnet organisiert, und das war für sie ein wichtiges Element des Überlebens, denn es hält den mexikanischen Staat davon ab, militärisch zu intervenieren, aber wäre dieser Konflikt zwischen den Zapatistas und dem mexikanischen Staat bis heute auf militärische Weise geführt worden, dann hätte sich der Zapatismus verändert und die ganze Sache wäre verloren – ganz egal, wer den Konflikt gewonnen hätte.

GWR: Du hast in deinem Vortrag auch davon gesprochen, dass die schrecklichen Ereignisse von Ayotzinapa nur ein weiterer Hinweis auf den unmenschlichen Charakter des kapitalistischen Systems sind.

Wie kann die Antwort der Zivilgesellschaft auf die Ereignisse von Ayotzinapa aussehen?

John Holloway: Das weiß ich nicht genau. Mir scheint, dass diese Empörung, die wir in den letzten Tagen gesehen haben, natürlich auf die spezifischen Ereignisse von Ayotzinapa zurückgeht, aber auch ein großes „Ya basta!“ ist: Ayotzinapa ist der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Wir wohnen in einem Land, das auseinander fällt, wo immer mehr Gewalt herrscht, wo die Korruption immer stärker ist, wo Teile des Landes zu Sperrzonen werden, weil es zu gefährlich ist, sie zu betreten. Die Furcht wächst die ganze Zeit. Daher dieses „Ya basta!“: Das wollen wir nicht mehr hinnehmen! Da muss etwas Radikales geändert werden, nicht nur wegen der Student_innen von Ayotzinapa, das muss tiefer gehen.

Man hört zum Beispiel, dass die Leute jetzt den argentinischen Slogan aufnehmen: „Que se vayan todos! – Weg mit allen!“ Aber es ist schwer vorherzusehen, was passieren wird. Klar ist, dass die Regierung die Situation nicht kontrolliert.

Das Schöne ist, dass es so etwas wie ein Überfließen gibt, die Bewegung wird stärker und breiter, das ist mein Eindruck der letzten Tage.

GWR: Gibt es Zusammenhänge mit der Sexta? Anzeichen dafür, dass sich diese Proteste mit anderen sozialen Bewegungen verbinden?

John Holloway: Ja, schon im Sinne des „Ya basta“. Das zeigt nicht genau wohin, aber so kann es nicht weitergehen. In diesem Sinn ist es eine Ausdehnung des Ya basta, die viele Resonanzen mit der zapatistischen Bewegung hat – nicht in einer direkten, institutionalisierten Linie, aber sie sind unübersehbar.

In Puebla zum Beispiel, wo ich wohne, gibt es in den letzten Monaten so viel Protest und Widerstand wie schon seit Jahren nicht mehr: gegen Minen, gegen Gasleitungen, gegen einen Themen-Park im Hollywood-Disney-Stil neben den Pyramiden von Cholula.

Widerstand gegen eine Regierung, die viel autoritärer geworden ist: Es gibt zurzeit mindestens 40 politische Häftlinge im Bundesstaat von Puebla, und vor ein paar Monaten hat die Polizei ein Kind von 13 Jahren getötet, nachdem sie jetzt das Recht hat, Schusswaffen gegen Demonstrationen einzusetzen.

Ayotzinapa wird als Teil desselben Konflikts verstanden, alle sehen diese direkte Verbindung zwischen Ayotzinapa und den eigenen Konflikten in den verschiedenen Teilen Mexikos, die nun bestimmt stärker werden.

GWR: In dem Sinn, dass einzelne „Fehlgriffe des Staates“ als staatliches System erkannt werden?

John Holloway: In dem Sinn, dass die Leute sagen: Unser Kampf ist euer Kampf; euer Kampf ist unser Kampf, ja.

GWR: Wie sieht es zurzeit in Chiapas aus?

John Holloway: In Chiapas herrscht immer noch die konstante Aggression von Polizei und Staat, und auf der anderen Seite gibt es den ständigen Kampf der Zapatistas um weiterzugehen. Im letzten Jahr sahen wir die Escuelitas und das Sterben von Marcos bzw. seine Transformation in Galeano, womit auch Moisés zur führenden – oder besser gesagt zur öffentlichsten – Person der Zapatistas wurde. Ich nehme an, dass mit diesem Wechsel der allmähliche Wandel der letzten Jahre seit 2003 weiterverfolgt wurde, im Zuge dessen das Gewicht von der EZLN zunehmend in die comunidades verlagert wurde, weg von der Person Marcos und hin zu den Dorfgemeinschaften, um auch vom äußeren Erscheinungsbild her stärker als indigene Bewegung wahrgenommen zu werden. Damit führen sie genau das weiter, was sie schon die ganze Zeit tun.

GWR: Was sagst du zu den zapatistischen Escuelitas?

John Holloway: Ich hatte noch keine Gelegenheit, selbst daran teilzunehmen, aber ich finde es großartig, einfach beeindruckend!

Denn es geschieht hier zum ersten Mal, dass sich eine revolutionäre Bewegung dermaßen öffnet und sagt: „Wir heißen alle willkommen, die etwas über uns erfahren wollen. Ihr könnt zu uns kommen, für eine Woche in einer Dorfgemeinschaft leben, und ihr könnt unsere Probleme sehen, unsere Schwächen, ihr werdet Dinge sehen, die euch nicht gefallen und diese Schwierigkeiten diskutieren.“

Ich finde das phantastisch, dass eine Bewegung so viel Selbstvertrauen zeigt; das ist faszinierend und neu in der Geschichte revolutionärer Aktionen und Ideen!

Zum pädagogischen Aspekt: Der Professor aus der Stadt nimmt hier Stunden bei einem Bauern, der mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht einmal die Grundschule abgeschlossen hat – das stellt das ganze Konzept von Unterricht auf den Kopf.

Für mich ist das möglicherweise der revolutionärste Schritt, den die Zapatistas je unternommen haben.

GWR: Denkst du, es geht dabei eher darum, nach außen zu wirken, also die nationale und internationale Solidarität wieder anzufachen, oder nach innen, um sich die eigenen Erfolge vor Augen zu führen?

John Holloway: Wahrscheinlich geht es um beides. Die Zapatistas haben sich in den letzten Jahren ja eher zurückgezogen und auf den Aufbau der autonomen Strukturen konzentriert, und die Unterstützung und Solidarität, die aktive Einbeziehung von Leuten von außerhalb ist auf jeden Fall wichtig; und auf der anderen Seite erleben die Zapatistas die Bedeutung dessen, was sie tun, und sie sagen: „Ja, wir zeigen der Welt, was wir tun – und reden auch über unsere Probleme -, und wir tun das, weil das, was wir tun, wichtig ist für die Welt.“

(1) Siehe: Die Welt verändern, ohne die Macht zu erobern. Ein Interview mit John Holloway, von Edo Schmidt, in: GWR 383, November 2003, www.graswurzel.net/283/holloway.shtml

(2) siehe: www.elevate.at

(3) Libertad Weiz [chiapas.at]

(4) Verlag Westfälisches Dampfboot, 4. Auflage, Münster 2010, ISBN: 978-3-89691-514-6 255