Im Januar 2015 jährt sich der Geburtstag von A. J. Muste zum 130. Mal. Anhand der neu erschienenen Biografie American Gandhi. A. J. Muste and the History of Radicalism in the Twentieth Century soll an diesen beeindruckenden Sozialisten, Gewerkschafter, Pazifisten und gewaltfreien Revolutionär erinnert werden.
Schreibt man über Abraham Johannes (A. J.) Muste, so muss man in verschiedene Lebens- und Schaffensphasen unterteilen, die letztendlich jedoch wiederum ein großes Ganzes ergeben, die also nicht als kleine, unzusammenhängende Stücke behandelt werden können. Das zu berücksichtigen ist wichtig, wird Muste heute doch eher als Antikriegsaktivist und weniger als gewaltfreier Revolutionär, Sozialist, Gewerkschafter und Aktivist der Bürgerrechtsbewegung rezipiert.
Mustes politische Biografie verlief mitunter turbulent und nicht kollisionsfrei. Der rote Faden ist aber trotz vermeintlicher Unterschiede und Widersprüche leicht auszumachen und der könnte mit der Formel „Ohne Gerechtigkeit kein Frieden“ zusammengefasst werden.
Social Gospel, Sozialismus, Pazifismus
A. J. Muste wurde im niederländischen Zierikzee in eine Arbeiterklassenfamilie geboren und kam 1891 als kleiner Junge in die Vereinigten Staaten, als die Familie Muste dorthin auswanderte. Vom kalvinistischen Erbe seiner Heimat und der niederländischen Exilcommunity geprägt studierte er Theologie und wurde 1909 Pastor in der Fort Washington Collegiate Church in Manhattan/New York City. Im Zuge seines theologischen Werdegangs näherte er sich früh schon dem Social Gospel – einer sozialkritischen und progressiven protestantisch-theologischen Strömung – an. Dementsprechend fiel auch seine Lesart der Bibel aus: In den biblischen Propheten sah er z.B. „Prediger für soziale Gerechtigkeit, furchtlose Agitatoren, politische Rebellen“. Dieser Weg führte direkt weiter in die sozialistische Bewegung und bei der Präsidentschaftswahl 1912 wählte er bereits den legendären Sozialisten und Industrial Workers of the World (IWW)-Mitbegründer Eugene V. Debs (wobei er Wahlen zumeist eher kritisch gegenüber stand). Im Sozialismus sah er keinen Widerspruch sondern vielmehr eine Entsprechung seiner theologischen Ansichten und seines Glaubens. Im Zuge des Ersten Weltkriegs ergänzte er die Themenpalette, mit der er sich politisch identifizierte, um einen weiteren Begriff: Pazifismus. 1916 trat er der neu gegründeten christlich-pazifistischen Organisation Fellowship of Reconciliation (FOR) bei, in der er eine wichtige Rolle spielen sollte. AntikriegsaktivistInnen und SozialistInnen wie Muste hatten sich damals mit einer intensiven staatlichen Repression herumzuschlagen.
Der Espionage Act von 1917 und der Sedition Act von 1918 schränkten die freie Meinungsäußerung stark ein, Kriegsdienstverweigerer wurden verfolgt, eine FOR-Broschüre wurde Opfer der Zensur und in 23 US-Bundestaaten war es verboten, die rote Fahne des Kommunismus sowie die schwarze Fahne des Anarchismus öffentlich zur Schau zu stellen. Zudem wurden Gesetze verabschiedet, mit denen der sog. „kriminelle Syndikalismus“ strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt werden konnte. Als 1919, sieben Jahre nachdem bereits ein von der IWW geführter Streik diese Gegend erschütterte, in Lawrence 30.000 TextilarbeiterInnen erneut in den Streik traten, war Muste mit dabei und ein wichtiger Organisator und Agitator.
Er wurde auch zum Vorsitzenden der neu gegründeten Amalgamated Textile Workers of America gewählt und einer seiner engsten Genossen zu dieser Zeit war der Anarchosyndikalist Anthony Capraro. Die Erfahrungen dieses Streiks sollten ihn in seinem politischen Engagement mit und in der Arbeiterbewegung nachhaltig prägen.
Das Brookwood Labor College
Nachdem Muste 1921 seinen Gewerkschaftsposten aufgab, wurde er der erste Vorstitzende und Gründungsmitglied des Brookwood Labor College, einer ArbeiterInnen-Universität, finanziert von Gewerkschaften, die ihren breit gefächerten inhaltlichen Fokus auf alles rund um Gewerkschaftsarbeit und Sozialismus legte. Unter Muste sollte Brookwood zu einem undogmatischen, progressiven und radikalen Ort der ArbeiterInnen-Bildung werden, wo Leute wie A. Philip Randolph, Roger Baldwin, Elizabeth Gurley Flynn oder Sinclair Lewis vortrugen und mit den Studierenden diskutierten. Vom libertären Basisgewerkschafter, über eher reformistisch Ausgerichtete bis hin zum KP-Mitglied war in Brookwood alles zu finden und dezidiert willkommen. Muste war der perfekte Brückenbauer um die VertreterInnen unterschiedlicher Sozialismen und politischer Grundhaltungen unter einen Hut zu bringen.
In den 1920ern sahen sich Muste und das College häufig mit Flügelkämpfen konfrontiert. Der einflussreichen American Federation of Labor (AFL) wurde Brookwood unter Muste zu radikal. Der AFL war es ein Dorn im Auge, dass hier ohne Scheuklappen über revolutionär-sozialistische, kommunistische und syndikalistische Ideen diskutiert wurde. Paradoxerweise begann zur gleichen Zeit auch die Kommunistische Partei einen Feldzug gegen Brookwood und veröffentlichte derbe Artikel im Daily Worker. Muste verteidigte gegenüber der AFL seinen Zugang der „Nichtexklusion“ und meinte zu den Angriffen im Daily Worker, dass die KP diese losließ als sie darin scheiterte, Brookwood ideologisch zu übernehmen und zu kontrollieren. Muste konnte aber nicht verhindern, dass aufgrund dieser Attacken von zwei Seiten Brookwood in eine Krise schlitterte. Aufgrund dieser Debatten verfassten Muste 1929 ein viel diskutiertes Thesenpapier (positive Erwähnung fand es u.a. auch in der anarchistischen Freien Arbeiter Stimme) namens „Challenge to Progressives“, das in dem Gewerkschaftsmagazins Labor Age erstveröffentlicht wurde.
Die AnhängerInnen dieses „dritten Weges“ in der amerikanischen Arbeiterbewegung wurden bald als „Musteites“ bezeichnet und 1929 nahm diese Strömung mit der Gründung der Conference for Progressive Labor Action (CPLA) eine organisatorische Form an.
Conference for Progressive Labor Action (CPLA)
Die CPLA wurde im Mai 1929 in New York City im Zuge einer Konferenz gegründet, an der Personen aus dem Brookwood Labor College, Mitglieder von Labor Age sowie unabhängige GewerkschafterInnen teilnahmen. Labor Age, das damals eine Auflage von 20.000 hatte, wurde zum offiziellen Organ der CPLA. Das primäre Ziel war es nicht eine eigenständige Gewerkschaft zu gründen (dual unionism), sondern die Basis existierender Gewerkschaften in der AFL zu radikalisieren. Somit stand die AFL auch im Mittelpunkt der Kritik der CPLA. Muste wollte CPLA zu einer „Zentrale der Agitation und Bildung“ für die kämpfende Arbeiterbewegung machen. Von Anfang an wurde dabei explizit auch auf „vernachlässigte Gruppen“ Rücksicht genommen wie Arbeitslose, African Americans oder Jugendliche. Auch die Organisation und Einbindung von Frauen war ein zentraler Aspekt, weshalb CPLA auch immer wieder als „labor feminist“ bezeichnet wurde. In Abgrenzung zu der reformistischen AFL-Praxis und der ideologisch überladenen Praxis der ParteikommunistInnen bezeichneten sich CPLA-AktivistInnen als revolutionäre „Labor Actionists“. Muste warnte davor, sich „der Illusionen der parlamentarischen Politik“ hinzugeben. Er propagierte sich stattdessen auf den Arbeitskampf und die direkte Aktion zu konzentrieren. Mehrere fatale politische Fehlentscheidungen ließen ihn dieses einzigartige Werk in den Folgejahren jedoch selbst zerstören.
Marxismus-Leninismus und die trotzkistische Sackgasse
Zwischen 1933 und 1936 findet man in Mustes Biografie eine untypische und, wie sich herausstellen sollte, auch verhängnisvolle Phase, aufgrund seiner Hinwendung zum Marxismus-Leninismus und später zum Trotzkismus. Es war die einzige in seinem Leben, in der er seine christlich-pazifistischen und gewaltfreien Positionen vorübergehend aufgab und zusehends autoritär agierte. Mit zunehmendem Einfluss marxistischer Intellektueller im CPLA änderte sich das Gesicht dieser Organisation. Aus der undogmatischen, progressiven und revolutionären Organisation, die Diversität anstelle ideologischer Verbohrtheit setzte, wurden bereits 1932 eine selbst ernannte „revolutionäre Avantgarde“, mit Muste an der Spitze. Es wurde versucht eine Theorie zu entwerfen um den Marxismus-Leninismus zu „amerikanisieren“. Muste wollte entsprechend seiner neuen politischen Ideen eine Organisation formen und so wurde – nicht ohne den Widerstand vieler seiner MitstreiterInnen – 1933 aus dem CPLA die American Workers Party (AWP). 1934 folgte der nächste fatale Schritt und Muste initiierte eine Vereinigung der AWP mit der trotzkistischen Communist League of America. Was folgte waren Streit, politische Intrigen, Graben- und Machtkämpfe, die Muste auslaugten und desillusionierten, was diese Form der politischen Aktivität anlangte. Tief in der Krise fuhr er mit seiner Frau Anne 1936 auf Urlaub nach Europa. In Norwegen traf er Trotzki und diskutierte mit ihm die Probleme, vor denen er stand. Die Zeit der Reflexion, weit weg von den politischen Grabenkämpfen kommunistischer SektiererInnen, bewirkte etwas Wundersames. Muste kehrte dem Trotzkismus und dem Marxismus-Leninismus den Rücken und kam zurück als der „Alte“: als Basisgewerkschafter, gewaltfreier Revolutionär, christlicher Pazifist und undogmatischer Sozialist.
Gewaltfreie Aktion und „Gandhian revolution“
Muste fand nun wieder in die FOR zurück und wurden 1941 deren Vorsitzender. Obwohl in seinem weiteren Leben vor allem die Bereiche Antikrieg und Antirassismus größere Rollen spielten, verloren seine gewerkschaftlichen und sozialistischen Ideale nicht ihre Bedeutung.
In der FOR, die Ende der 1930er Jahre bis zu 14.000 Mitglieder hatte, wurde nun verstärkt begonnen kontrovers über gewaltfreien Widerstand und Aktion zu diskutieren. Richard Greggs The Power of Non-violence (1934), das eine westliche LeserInnenschaft mit Gandhis Kampfformen vertraut machen sollte, war damals ein viel diskutiertes Buch in diesen Kreisen.
Viele ältere PazifistInnen sprachen sich dagegen aus, diese als zu konfrontativ geltende Taktik anzuwenden. Muste war einer jener, die sich für eine Gandhische Gewaltfreiheit aussprachen und fand hier vor allem unter jüngeren AktivistInnen Zustimmung. Mustes kämpferische gewaltfreie Aktion verband Gandhische Konzeptionen und christliche Motive mit seinen Erfahrungen aus Streiks und Arbeitskämpfen. Wie Gandhi stand er dem Nationalstaat skeptisch gegenüber und seine Nähe zum Syndikalismus ließ ihn stets die (gewaltfreie) direkte Aktion gegenüber dem reformistisch-parlamentarischen Weg präferieren.
Deshalb ist es nur logisch, dass Muste auch forderte, die FOR müsse „revolutionär sein und werden“.
Er wollte, dass sich (revolutionäre) PazifistInnen verstärkt mit Arbeitskämpfen solidarisieren und gegen die rassistische Diskriminierung engagieren – also über ihren „Tellerrand“ hinaus schauen und Kämpfe miteinander verbinden sollten. Engagement gegen Krieg war für ihn ohne ein Eintreten für soziale Gerechtigkeit nicht denkbar.
Für Muste waren die Probleme der kapitalistischen Ausbeutung, der rassistischen Diskriminierung (speziell aber nicht nur von African Americans in den USA) sowie die Frage des Friedens wider die imperialistische US-Außen- und Kriegspolitik untrennbar miteinander verbunden. Muste sprach hier von der „Dreifachrevolution“ (triple revolution), die notwendig sei.
Mustes Kämpfe …
Muste setzte sich mit seinem Vorhaben, Gandhische Gewaltfreiheit in den USA zum Einsatz zu bringen, immer weiter durch und wir treffen gewaltfreien Widerstand in verschiedenen Kämpfen an – hauptsächlich in jenen Feldern, die Muste in seiner Theorie der „Dreifachrevolution“ erwähnte. So spielte er eine nicht zu unterschätzende Rolle in der (frühen) Bürgerrechtsbewegung. Unter anderem gemeinsam mit dem jungen Bayard Rustin, der einer seiner engsten Mitstreiter und Freunde wurde, war er unermüdlich aktiv gegen die rassistische Diskriminierung von African Americans anzukämpfen.
Sie waren stark daran beteiligt, eine Basis für die Bürgerrechtsbewegung zu schaffen, die mit der Southern Christian Leadership Conference (SCLC), aber auch mit weniger bekannten, radikaleren Gruppen wie das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC), Geschichte schreiben sollte.
Er und seine MitstreiterInnen waren auch maßgeblich daran beteiligt, dass aus der Bürgerrechtsbewegung zunehmend deutliche Worte gegen den Vietnamkrieg zu hören waren und sich auch Martin Luther King letztendlich öffentlich gegen den Krieg aussprach.
Mustes Anklagen gegen „white supremacy“ in der US-Gesellschaft und weltweit hat wenig an Aktualität eingebüßt. In diesem Zusammenhang steht auch sein antikoloniales Engagement. Er war ein Unterstützer antikolonialer Bewegungen und pflegte intensiven Kontakt mit Verbündeten in den diversen Regionen, vor allem in Afrika.
Muste gilt auch als Mentor einer ganzen Generation junger SozialistInnen und AntikriegsaktivistInnen aus der New Left wie Barbara Deming, David McReynolds oder Dave Dellinger. Er unterstützte den Widerstand in den Arbeitscamps des Civilian Public Service, in denen Kriegsdienstverweigerer arbeiten mussten und demonstrierte nicht nur in den USA, sondern später auch in Vietnam selbst gegen den Vietnamkrieg. Er trug, inspiriert durch Leute wie Dellinger, Diskussionen über „revolutionären Pazifismus“ in die FOR und radikalisierte so die pazifistische Bewegung.
Die Politik der USA in der Ära des Kalten Kriegs beschrieb er als einen „bürokratischen, manipulativen und autoritären Albtraum“. Das Damoklesschwert der nuklearen Vernichtung durch die beiden Supermächte war neben dem Vietnamkrieg eines der Themen, das ihn in seinen letzten Lebensjahren umtrieb.
Sein letztes großes Projekt war seine Tätigkeit als Vorsitzender des Spring Mobilization Committee to End the War in Vietnam – sein letzter Kraftakt gegen den Vietnamkrieg. Muste schaffte es eine Allianz zu schmieden, die von Black-Power-AktivistInnen, über gewaltfreie RevolutionärInnen und PazifistInnen, bis hin zu religiösen, sozialistischen und feministischen AktivistInnen reichte.
Die Bewegungen, denen Muste angehörte und die er inspirierte, sind auch heute noch beeindruckend. Gemeinsam mit seinen gewaltfrei-revolutionären GenossInnen warb er dafür, dem „absolutistischen Staat“ u.a. mittels Kriegsdienstverweigerung und Steuerboykott den Gehorsam zu verweigern – also ganz im Sinne Étienne de La Boéties den Tyrannen schlicht und einfach nicht mehr zu stützen, damit dieser „in seiner eigenen Schwere zusammenbricht und in Stücke geht“. In diesen Kreisen entstand 1948 z.B. das antiautoritär-sozialistische (teils anarchistische) und gewaltfrei-revolutionäre Committee for Non-Violent Revolution.
Muste war auch in den Peacemakers aktiv, eine Gruppe, die sich auf gewaltfreie Aktionen wie Sit-ins und zivilen Ungehorsam konzentrierte und aus dem Committee hervorging.
Personen aus diesem Zusammengang (inkl. Muste) gründeten 1956 ihr eigenes Printmedium – Liberation – das eine zentrale Rolle spielte in den Debatten, der Theoriebildung und der Praxis dieser Bewegung.
… und Visionen
Seine politische Vision kam anarchistischem Gedankengut zeitweise sehr nahe, auch, wenn er sich selbst nicht als Anarchisten verstanden hat.
Die Gesellschaft, die ihm vorschwebte, war eine „klassenlose […] in welcher der bewaffnete, nationalistische, höchst zentralisierte Staat verschwunden ist“, eine, in der „jedes Individuum seine eigenen Talente und Persönlichkeit“ entwickeln könne.
Diese Gesellschaft sei „genuin internationalistisch und nicht nationalistisch“ und basierte auf Prinzipien wie „verantwortungsbewusster Freiheit, Gegenseitigkeit und Frieden“.
Muste meinte einmal, die Forderung den Krieg abzuschaffen sei schlicht nicht genug. Krieg sei so sehr „Teil unserer Kultur und unseres ökonomischen und politischen und spirituellen Daseins“, dass die Forderung nach einem Ende des Krieges gleichbedeutend sei mit der Forderung nach einer „Revolution […] in uns selbst und in unserer Welt“.
Diese gewaltfrei-revolutionäre Perspektive, die in ihrer Analyse tiefer geht und darauf beharrt, dass es nicht genügt „nur“ gegen den Krieg zu sein, gilt es auch heute noch zu verfolgen – und A. J. Muste zeigte vor, wie es geht.
Das Buch
Leilah Danielson: American Gandhi. A. J. Muste and the History of Radicalism in the Twentieth Century. University of Pennsylvania Press. Philadelphia, Pennsylvania 2014