anarchismus / gewaltfreiheit

Die falsche Abzweigung

Errico Malatestas Anarchismus und die Frage der Gewalt

| Sebastian Kalicha

Beschäftigt man sich mit dem Anarchismus von Errico Malatesta (1853 - 1932), so findet man einiges über dessen Beschäftigung mit der Gewaltfrage. Aus gewaltfrei-anarchistischer und gewaltfrei-revolutionärer Perspektive ist man bei der Lektüre seiner Gedanken zu dieser Frage hin und her gerissen zwischen Zustimmung und Ernüchterung. (1)

Die Gewaltfrage ist nur ein Themenkomplex, mit dem sich Malatesta beschäftige. Vor allem seine Auseinandersetzung mit Fragen der Organisation, seine Rolle als Kritiker der AnarchistInnen rund um Kropotkin, welche sich zu einer Pro-Kriegshaltung im Ersten Weltkrieg hinreißen ließen, sowie seine Kritik am (Anarcho-)Syndikalismus bei gleichzeitiger Bestrebung, den Anarchismus als Massenbewegung in der Arbeiterklasse zu etablieren, lohnen der eingehenden Beschäftigung. Als gewaltfrei-anarchistisches Medium ist es aber die Gewaltfrage, die uns hier im Besonderen interessiert. Malatesta ist in dieser Hinsicht ein spannender Autor, weil er einerseits als standhafter Gewaltkritiker auftrat, der sich der verhängnisvollen und anti-emanzipatorischen Dynamiken von Gewaltanwendung bewusst war, gleichzeitig jedoch den gewaltfreien Widerstand nie als adäquates Kampfmittel ansah, sondern stattdessen den bewaffneten Aufstand propagierte.

Malatestas Gewaltkritik

„Es steht meines Erachtens außer Zweifel, dass die anarchistische Idee als Widersacherin staatlicher Herrschaft ihrer innersten Natur nach eine Ablehnung der Gewalt bedeutet“, schreibt Errico Malatesta, „denn Gewalt ist das Wesen jedes autoritären Systems, die Handlungsweise jeder Regierung.“ (S. 36) „Wir Anarchisten wollen alle Gewalt und allen Zwang aus menschlichen Beziehungen beseitigen“ (S. 109), heißt es weiter und: „müsste man, um zu siegen, auf öffentlichen Plätzen Galgen errichten, so will ich lieber untergehen.“ (S. 176) Gewalt führe laut Malatesta zu einer Degeneration unter AnarchistInnen, einer Art „moralischen Vergiftung“ und man müsse sich darüber bewusst sein, „dass wir alle […] die gleiche Gefahr laufen […], die Gefahr, durch den Gebrauch von Gewalt verderbt zu werden, die Menschen zu verachten und grausame und fanatische Verfolger zu werden.“ Gewalt habe eine „schädliche Tendenz“ welche auch dann gegeben sei, wenn dieses Mittel für ein „gutes Ziel“ zur Anwendung käme. Gewalt trage „den Geist der Herrschaft und Tyrannei“ in sich. (2)

Mit gewaltkritischen Positionen dieser Art, die sich durch seine gesamte Schaffensphase ziehen, wird Malatesta – nicht nur, aber insbesondere auch – bei gewaltfreien AnarchistInnen auf Zustimmung stoßen. Man möchte meinen, dass ein Schwenk in Richtung Gewaltbefürwortung und bewaffneter Kampf bei derartigen Analysen schwer hinzukriegen ist. Malatesta macht ihn dennoch.

Malatestas Gewaltaffirmation

„Für jene, die sich zu befreien wünschen, ist nur ein Weg offen: Sie müssen der Gewalt mit Gewalt begegnen.“ (S. 69)

Die Wahl der Mittel, um die Revolution durchzuführen, scheint eindeutig geklärt, denn „es gibt keine pazifistischen bzw. legalen Mittel, um dieser Situation zu entkommen.“ (S. 25) (3)

Man müsse den „Gewehren und Kanonen, die das Eigentum verteidigen“ das bewaffnete Volk entgegensetzen, um „Gewalt durch Gewalt zu besiegen.“ (S. 78) Wenn sich „Soldaten, Polizisten und die Bourgeoisie“ den ArbeiterInnen in den Weg stellten, dann müsse „das Problem eben doch mit Gewehren und Bomben gelöst werden“ in dem „der Sieg […] dem Stärkeren [gehört].“ (S. 91)

AnarchistInnen, die sich gegen gewalttätige Aktionen ausgesprochen haben, lässt er wissen, dass dies gleichbedeutend damit sei auf „jedwede revolutionäre Initiative zu verzichten“. (S. 35; Hervorhebung S.K.)

Dabei äußert sich Malatesta kritisch bis ablehnend zu individuellen Attentaten und Gewaltakten – der sog. „Propaganda der Tat“. Er schrieb gar von dem „vielleicht […] schönsten Andenken“ seines Lebens „zur Vereitelung des Ravacholismus [Ravachol, franz. Anarchist und Attentäter; S.K.] beigetragen zu haben“ und dass das „gegenseitige Töten im Namen des Sozialismus“ nur zu einem „Rückschritt der Zivilisation […] ohne daß irgendeine Idee oder Partei daraus einen Gewinn ziehen kann“ (4) führe.

Dennoch: Er propagierte unaufhörlich den bewaffneten Aufstand, in der Revolution sah er einen „Gewaltakt“. (S. 234)

Für Malatesta sind „revolutionär“ und „gewalttätig“ untrennbar miteinander verbunden, „pazifistisch“ ist nur „legal“ (also reformistisch) denkbar. Und das, obwohl er selbst immer wieder vermittelte, dass das Mittel der Gewalt etwas ist, das mit dem Anarchismus (als Ziel und Bewegung) potentiell unvereinbar ist.

Anarchistische Gewaltkritik – anarchistische Herrschaftskritik

Eine tiefgehende anarchistische Gewaltkritik als unerlässlicher Baustein zur Überwindung von Herrschaftsverhältnissen ist bei Malatesta nur in Ansätzen vorhanden. Er kritisierte z.B. AktivistInnen, deren revolutionäre Hoffnungen im Generalstreik (einer klassischen gewaltfreien Aktion der Verweigerung und Nicht-Zusammenarbeit) liegen, was ihm auch prompt die Kritik des revolutionären Syndikalisten Pierre Monatte einbrachte, der sich bei Malatesta an „die alten Ideen des Blanquismus [Louis-Auguste Blanqui, franz. Sozialist; S.K.], der sich einbildet, die Welt durch einen siegreichen bewaffneten Aufstand zu erneuern“ (5) erinnert fühlt. Während der gewaltfreie Anarchismus schon im 19./20. Jahrhundert u.a. die umfassende Nicht-Zusammenarbeit und Verweigerung, den Boykott, die Zerstörung von Kriegsgerät, die Sabotage, den Generalstreik, die Bildung von egalitären Parallelstrukturen und andere Taktiken aus dem Repertoire der gewaltfreien Aktion als jene Mittel betrachtete, die am sichersten zum anarchistischen Ziel führen – weil diese gewaltfreien Kampfformen die gewaltgestützten Herrschaftsverhältnisse und (strukturelle) Gewaltverhältnisse an der Wurzel packen und nicht reproduzieren -, so will Malatesta die bewaffnete Arbeiterklasse, die gegen die Bourgeoisie in den Krieg zieht. Mit mehr Waffen und mehr Gewalt sollen die Waffen und die Gewalt der Herrschenden (und somit deren Herrschaft, aber wohl kaum die Herrschaft an sich, deren Fundament Gewalt in ihren unterschiedlichen Ausformungen ist!) gestürzt werden. Über die Wechselwirkung von Gewalt und Herrschaft, wie sie sich bedingen und fördern und wie das einer herrschaftslosen, emanzipatorischen und anarchistischen Gesellschaft im Wege steht, erfahren wir bei Malatesta leider (zu) wenig.

Revolution als Krieg?

Man könnte hier mit Simone Weil argumentieren, dass der revolutionäre Krieg den Tod der Revolution bedeutet. Den Sturz der Autoritäten (als revolutionäre Initialzündung), der zu Enteignung, Kollektivierung und gesellschaftlicher Neustrukturierung im Sinne des Anarchismus führen soll, denkt Malatesta bewaffnet-militärisch. Er ist sich aber offenbar über die verhängnisvollen Dynamiken bewaffneter Aufstände bewusst und sieht die AnarchistInnen bei einem derartigen Aufstand folglich in der Rolle, „der Gewalt eine sinnvolle Richtung zu geben und ihre Exzesse durch die Wirkung des hohen Ideals einzudämmen.“ (S. 38) Die hier implizierte Gewaltkritik, dass nämlich das „hohe Ideal“ des Anarchismus die Folge hat, Gewalt einzudämmen und nicht zu befeuern, unterstützt letztendlich gewaltfrei-anarchistische Analysen zur Gewaltfrage. Generell scheint er aber einer Logik zu folgen, vor der z.B. der Anarchist Nicolas Walter explizit gewarnt hat. Gewalt sei, so Walter, genau wie der Staat, „keine neutrale Kraft, deren Wirkung davon abhängt, wer sich ihrer bedient […] sie wird nicht das Richtige tun, nur weil sie in den richtigen Händen ist.“ (6) Malatesta argumentierte aber in diese Richtung: „[A]narchistische Gewalt [ist] die einzige, die zu rechtfertigen ist, die einzige, die nicht verbrecherisch ist.“ (7)

Letztendlich lehnt Malatesta auch nur bestimmte Formen von Kriegen ab, jene nämlich, die von den Herrschenden unter Zuhilfenahme der Arbeiterklasse gegen die Interessen letzterer geführt werden, wie z.B. der Erste Weltkrieg. Deshalb räumt er ein, „dass es notwendige, heilige Kriege gibt: Kriege der Befreiung, die in der Regel ‚Bürgerkriege‘, d.h. Revolutionen sind.“ (S. 112) Zehn Jahre, nachdem er diese Zeilen schrieb, hört sich das Ganze in seinem Text „Revolutionärer Terror“ (1924) wieder etwas anders an, und wir begegnen erneut dem Gewaltkritiker Malatesta: „Ebenso wie der Krieg erweckt Terror atavistische, tierische, noch nicht völlig vom Firnis der Zivilisation zugedeckte Gefühle zu neuem Leben und trägt auf seiner Woge die schlimmsten Elemente der Bevölkerung an die höchste Stelle. Und anstatt zur Verteidigung der Revolution zu dienen, bringt er sie in Verruf […] und leitet zwangsläufig das ein, was man heute ‚Normalisierung‘ nennen würde, das heißt Legalisierung und Verewigung der Gewaltherrschaft.“ (S. 175) (8)

Die Ziel-Mittel-Relation …

Die Ziel-Mittel-Relation ist ein Aspekt anarchistischer Theorie, der im gewaltfreien Anarchismus eine besondere Stellung einnimmt. Kurz auf den Punkt gebracht besagt sie, dass die Mittel, die in einem Kampf zum Einsatz kommen, nicht im Widerspruch zu den Zielen stehen dürfen. Die Mittel nehmen das Ziel also vorweg, in den Mitteln soll das Ziel erkennbar sein. Ein beliebtes Beispiel aus der anarchistischen Geschichte: Auf eine (temporäre) Übernahme der zentralisierten Staatsmacht in einem revolutionären Prozess kann keine freie, staatenlose und dezentrale Gesellschaftsordnung folgen. Sind die Mittel staatlich, autoritär und repressiv, wird das Ziel es auch sein. Dasselbe, so gewaltfreie AnarchistInnen, gilt auch für die Gewaltfrage. Sind die Mittel gewalttätige, wird daraus keine gewaltfreie, herrschaftslose Ordnung folgen, sondern wieder nur eine (repressive) Ordnung, die sich durch Gewalt aufrecht erhalten, verteidigen und stabilisieren muss.

… und Malatesta

Malatesta ist sich der Wichtigkeit der Ziel-Mittel-Relation natürlich bewusst und pocht darauf, auf die Mittel des Ziels wegen zu achten, denn „wer immer seine Reise auf der Landstraße beginnt und dann einer falschen Abzweigung folgt, gelangt nicht, wohin er wollte, sondern wohin die Straße ihn führt.“ (S. 66) Jedoch scheint Malatesta all zu oft seine eigene Metapher bei Seite zu schieben und sehenden Auges die falsche Abzweigung zu wählen. Die Gewaltfrage scheint in der (historischen) anarchistischen Bewegung ohnehin häufig die „große Ausnahme“ bei der Ziel-Mittel-Relation (gewesen) zu sein. Bei Malatesta stoßen wir ebenfalls – wenn es um das Thema Gewalt geht – auf Widersprüche. Beispiele, wo er zuerst des edlen (und auch bei ihm gewaltfreien!) Ziels wegen auf die richtigen Mittel pocht, um anschließend den bewaffneten Aufstand und „Gewehre und Bomben“ (S. 91) anzupreisen, ziehen sich durch seine Schriften wie ein roter Faden. Einerseits beruft er sich auf die Ziel-Mittel-Relation und erklärt schlüssig, weshalb es wichtig und notwendig ist, sie zu beachten, setzt sie aber andererseits oftmals noch im gleichen Satz selbst außer Kraft. Gewaltfreies Ziel und militärische Mittel stehen bei Malatesta Seite an Seite.

Die Mittel könnten nicht „willkürlich“ sein, so Malatesta, sondern „bedingt durch die Ziele“, wähle man die falschen Mittel, so würden andere Ziele erreicht, „möglicherweise solche, die denen diametral entgegengesetzt sind, die wir erhoffen.“ (S. 66) Es sei deshalb „besonders wichtig“, dass „die Revolution ihre Mittel sorgfältig wählt“. (S. 26) „Sicher muss sich die Revolution verteidigen“, schreibt Malatesta, „doch darf und kann man sie nicht mit Mitteln verteidigen, die im Widerspruch zu ihren Zielen stehen. Das Hauptmittel zur Verteidigung der Revolution besteht nach wie vor darin, der Bourgeoisie die ökonomischen Mittel der Herrschaft zu nehmen […]“. Bis hier hin ist Malatesta noch in völliger Übereinstimmung mit gewaltfrei-anarchistischer Theorie – bis er im selben Satz fordert „alle zu bewaffnen […] um die gesamte Masse der Bevölkerung am Sieg zu beteiligen.“ (S. 176)

Bewaffneter Kampf und ein militärisches Kräftemessen mit der Staatsmacht (und somit potentiell auch mit Heerscharen an nicht-staatlichen politischen GegnerInnen, was Malatesta wenig zu berücksichtigen scheint) sind es letztendlich immer, worauf es bei Malatesta hinausläuft. Die Forderung nach einer flächendeckenden Bewaffnung der Massen, um in den Bürgerkrieg zu ziehen, ist aber nur schwer mit seiner unterstützenswerten Zukunftsvision in Einklang zu bringen, in der „unser Handeln […] von der Liebe zu den Menschen, allen Menschen, geleitet werden [muss]“ (S. 27; Hervorhebung im Original), in der AnarchistInnen „alle Tränen trocknen und keine verursachen“ (S. 24), in der niemand „Gesetze [..] erlassen und sie anderen mit Gewalt [aufzwingen]“ dürfe (S. 81) und wo es gilt „sich [zu] weigern, selbst Unterdrücker zu sein“. (S. 187)

Gewaltfreier Anarchismus als (historische) Alternative

Noch in seiner späteren Schaffensphase steht für Malatesta fest, dass die Revolution „notwendigerweise gewaltsam“ (S. 129) sei. Wer nun einwendet, dass das damals, im frühen 20. Jahrhundert, eben anders gewesen sei und man hier keine gewaltfrei-anarchistischen Überlegungen des 21. Jahrhunderts rückprojezieren dürfe, sollte die gewaltfrei-anarchistische Tradition nicht außer Acht lassen, die es auch damals schon gab. Anfang des 20. Jahrhunderts hat z.B. der Bund herrschaftsloser Sozialisten (BhS) – eine 1920 in Wien gegründete gewaltfrei-anarchistische Organisation – den Trugschluss von bewaffneten Revolutionsvorstellungen bereits längst durchschaut und in seinem Programm akkurat ausformuliert, weshalb ein militarisierter Aufstand ein für den Anarchismus und die soziale Revolution verhängnisvolles Unterfangen ist:

„Der BhS sieht in den bisherigen Revolutionen nur Abänderungen des Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisses zwischen Staat und Volk, Ausbeuter und Proletarier. Darum bezeichnet er sie als politische Revolution. Alle diese Revolutionen sind durchgekämpft worden mit den üblichen militärischen Waffenmethoden. Diese Methoden nennen wir Gewalt, weil sie nur das Fundament einer neuen Herrschaft bilden können. Darum lehnen wir als Gegner jedweder Herrschaft, diese Methoden der Gewalt ab, eo ipso diese, da jede Gewalt sich der militärischen Waffen bedienen muss, um eine neue Herrschaft etablieren und aufrechterhalten zu können.

Sowohl Demokratie als auch Diktatur des Staates bedürfen der Gewalt. Da wir Anarchisten beide verneinen, weil wir das Selbstbestimmungsrecht des freien Menschen wollen, müssen wir die Todfeindin desselben, die Gewalt als solche, verneinen. Der BhS erstrebt die soziale Revolution, die für ihn eine von der politischen absolut verschiedene Revolution ist. Verschieden auch in ihren Aufgaben, woraus folgt, dass die soziale Revolution in ihren Mitteln gleichfalls verschieden sein muss von den militärischen Waffenmethoden der politischen Revolution.

An Stelle der Waffenmethoden – diese nennen wir Gewalt, weil ohne sie keine Gewalt im staatlichen Sinne der Politik möglich ist – setzt der BhS die sozialwirtschaftliche Aktion der Zerstörung der Waffen und ihrer Gewalt. Diese Zerstörung der Waffen kann jedoch niemals dadurch zerstört werden, dass wieder Waffen gegen sie gebraucht werden, da solches immer nur die Fortsetzung der Waffengewalt, wie ihres Überganges in abwechselnd neue Hände bewirkt. Wir dagegen wollen die Zerstörung der Waffengewalt weil sie die Grundlage des kapitalistischen Eigentumsmonopols und des Staatsprinzips ist.“ (9)

Es ist also mitnichten eine Frage des historischen Kontextes, dass Malatesta nicht auf die Idee kam, sich von Vorstellungen des bewaffneten Aufstands und der militarisierten Revolution zu verabschieden, sondern es war eine bewusste Positionierung bei Vorhandensein gewaltfrei-anarchistischer Alternativen – und der BhS ist hier nur ein Beispiel aus vielen, das angeführt werden könnte.

Wie sehen sie aber aus, diese Alternativen zu Bürgerkrieg und einem militärischen Kräftemessen mit dem Staat? Und wie wurde sie von AnarchistInnen formuliert, die zu Zeiten Malatestas aktiv waren? Zum Beispiel so, wie es in der von dem gewaltfreien Anarchokommunisten Pierre Ramus herausgegebenen Zeitschrift Wohlstand für Alle im Jahre 1911 zu lesen war:

„Der Anarchismus bietet eine neue, eine andere Taktik und Aktion dar. Die Taktik und Aktion des Anarchismus ist einerseits die große massenhafte Ignorierung, Verneinung und Nichtbegehung jedweder durch den Staat oder Kapitalismus geforderten Gewalt, anderseits aber die selbständige direkte Aktion der Volksmassen […], durch wirtschaftliche, soziale Umänderung der Lebensbedingungen der Menschen nicht länger die Gewalt der bestehenden Ausbeutung und Unterdrückung zu beachten. Das bedeutet nicht Terrorismus, sondern einfach den Entzug der Persönlichkeit des Menschen gegenüber dem bestehenden System. Es geschieht dieses durch die Weigerung der Massen, noch länger unter den bestehenden Lohnsklaven- und Monopoleigentumsbedingungen zu arbeiten, und in der sozialen Erkenntnis, wie die Gesellschaft nach neuen kommunistisch-anarchistischen Lebens- und Arbeitsbedingungen einzurichten ist. Durch unermüdliche Propagierung von diesen Ideen wird auch der Erfolg nicht ausbleiben; nur durch die Heranbildung der Massen des Proletariats zu dieser Erkenntnis ihrer Aufgabe, nicht durch Propaganda von Terrorismus oder Gewalt, wird das Volk eine Gewaltsmacht ungeheuerster Ausdehnung zuerst in die kolossalsten Kalamitäten stoßen, endlich sogar den Sturz jeder Gewaltsmacht herbeiführen und die freie Gesellschaft der Anarchie begründen.“ (10)

(1) Basis dieses Artikels ist die folgende Neuerscheinung: Errico Malatesta: Anarchistische Interventionen. Ausgewählte Schriften (1892-1931). Herausgegeben von Philippe Kellermann. Unrast Verlag, Münster 2014. Sämtliche Zitate mit Seitenangabe direkt im Text stammen aus diesem Buch. Die hier dargebotene Darstellung und Analyse der Gewaltfrage bei Malatesta fußt ebenfalls zum Großteil auf den (für sein Gesamtwerk repräsentativen) Texten in diesem Sammelband.

(2) Errico Malatesta: "Violence as a Social Factor". In: Robert Graham (ed.): Anarchism: A Documentary History of Libertarian Ideas. Volume One. From Anarchy to Anarchism (300 CE to 1939). Black Rose Books, Montreal/New York/London 2005, S. 160-163

(3) Diese Gleichsetzung von "pazifistisch" (bzw. "gewaltfrei") und "legal" (oft kommt auch "passiv" dazu), ist ein auch heute noch beliebtes Argument gewaltaffiner AktivistInnen, um die vermeintliche Ineffektivität gewaltfreier Widerstandsformen zu unterstreichen - eine Behauptung, die von gewaltfreien AnarchistInnen und RevolutionärInnen seit jeher zurückgewiesen wird.

(4) Errico Malatesta: "Kampagne gegen terroristische Attentate". In: ders.: Ungeschriebene Autobiografie. Erinnerungen (1853-1932). Herausgegeben von Piero Brunelli und Pietro di Paola. Edition Nautilus, Hamburg 2009, S. 99-101, hier S. 99f.

(5) Monatte zitiert von Herausgeber Kellermann in Fußnote 12, S. 91. Monatte lehnte selbst jedoch die bewaffnete Verteidigung von Streiks nicht ab.

(6) Nicolas Walter: "Anarchism, Bombs, and All That". In: ders.: The Anarchist Past and other essays. Edited by David Goodway. Five Leaves Publications, Nottingham 2007, S. 240-246, hier S. 245

(7) Errico Malatesa: "Anarchie und Gewalt" (1924). Online abrufbar unter: www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/errico-malatesta/181-errico-malatesta-anarchie-und-gewalt

(8) Wohlgemerkt hält er auch in diesem Text, der sicher der gewaltkritischste in dem Sammelband ist, an der Notwendigkeit der Gewalt fest und fordert "alle zu bewaffnen". (S. 176)

(9) Pierre Ramus: "Was ist und will der Bund herrschaftsloser Sozialisten?" Online abrufbar unter: www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/pierre-ramus/6347-was-ist-und-will-der-bund-herrschaftsloser-sozialisten

(10) Rudolf Hagen: "Anarchismus und Terrorismus". In: Wohlstand für Alle, 4. Jahrgang, Nr. 19, 11. Oktober 1911