spurensicherung

Murray Bookchins Abkehr vom Anarchismus

Das Problem der Herrschaft als grundlegende Ursache der ökologischen Krise

| Wolfgang Haug

Murray Bookchin: Die nächste Revolution. Libertärer Kommunalismus und die Zukunft der Linken. Herausgegeben von Debbie Bookchin und Blair Taylor, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Sven Wunderlich, Vorwort von Ursula K. Le Guin, Unrast-Verlag, Münster, September 2015, 224 Seiten, ISBN 978-3-89771-594-3

„Libertärer Kommunalismus und die Zukunft der Linken“ heißt der Untertitel des vom Unrast-Verlag vorgelegten neuen Buchs von Murray Bookchin. Herausgegeben von Debbie Bookchin und Blair Taylor und 2015 in London veröffentlicht.

Eine schnelle Übersetzung ins Deutsche von Sven Wunderlich ermöglichte eine fast zeitgleiche deutschsprachige Ausgabe. Insofern eine große Leistung für einen kleinen Verlag. Hätten sich die Verleger aber mehr Zeit gelassen, hätte das Resultat noch weit besser werden können.

Der am 30.06.2006 in Burlington/Vermont verstorbene amerikanische Autor verdient es, auch in Deutschland wieder stärker ins Bewusstsein zu gelangen.

Nicht zuletzt die in Hamburg stattgefunden Kongresse der Kurden (die GWR berichtete) belegen seine politische Wirksamkeit. Im kurdischen Rojava und innerhalb der PKK und YPG werden seine Ideen und Konzepte rezipiert, seit Öcalan im Gefängnis sich mit Bookchins Kommunalismus auseinandergesetzt hat. Nicht zuletzt seinem Einfluss verdankt die PKK ihre Abwendung von einem eigenständigen kurdischen Nationalstaat hin zu dezentralen Strukturen, die eine regionale Gegenmacht aufbauen und so zu einer weitreichenden Autonomie innerhalb der Staaten der Türkei, Syriens, dem Iran und Irak führen könnten. Dabei ist Rojava das Gebiet, in dem diese politische Richtung derzeit aufgrund des Engagements der YPG am meisten greift. Es zeigen sich durchaus ermutigende Schritte in Richtung öffentlicher Versammlungen, Bewohnerbeteiligung an Entscheidungsprozessen oder einer Anerkennung der Gleichberechtigung der Frau.Die langjährige Lebensgefährtin Bookchins, Janet Biehl, war sowohl in Rojava wie auch bereits zweimal bei den Kongressen der Kurden als Rednerin eingeladen, zuletzt in Hamburg. Der kanadische Verleger und politische Weggenosse Bookchins, Dimitri Roussopoulos, sprach ebenso in Hamburg wie der Vertreter der kommunalistisch ausgerichteten Gruppierung Norwegens, der Demokratischen Alternative, Erik Eiglad. Auf Dimitri Roussopoulos ist auch die Initiative zurückzuführen, in Athen ein europäisches Zentrum zu schaffen, das die Arbeit und die Verbreitung des libertären Kommunalismus in Europa vorantreibt. Dieses Zentrum, das unter dem Namen TRISE (Transnational Institute of Social Ecology – Toward democratic and ecological cities) im Jahr 2013 im kleinen Ort Mirtos auf Kreta nach einem einwöchigen Klausurtreffen unter Beteiligung von AktivistInnen aus Schweden, Italien, Frankreich, Griechenland, den USA, Norwegen, Deutschland und Kanada ins Leben gerufen wurde, soll wie das frühere Institute for Social Ecology in Plainfield, Vermont zu einem Treffpunkt, Diskussions- und Ausbildungszentrum für diesen politischen Ansatz werden, der die Demokratisierung der Städte vorantreiben will (Vgl. auch mein Interview mit Dimitri Roussopoulos in GWR Nr. 368 und 369 aus dem Jahr 2012).

Inzwischen haben drei Konferenzen stattgefunden, zuletzt in Athen 2015.

Warum ich das alles in einer Rezension zu einem neuen Buch Bookchins schreibe, bevor noch ein Satz zum eigentlichen Buch auftaucht?

Weil es sehr viel Aktuelles zu erzählen gegeben hätte und nichts davon in einem scheinbar aktuellen Buch vorkommt.

Mal abgesehen davon, dass dieses Buch für Menschen, die noch nichts von Bookchin gelesen haben, durchaus einen Einblick in sein Denken vermittelt, so ist es für den deutschen Sprachraum doch ärgerlich, dass sich der Verlag keinen Verfasser für ein deutsches Vorwort geleistet hat, der oder die in der Lage gewesen wäre, auf aktuelle Entwicklungen hinzuweisen oder auch nur die vorliegenden deutschen Übersetzungen Bookchins zu kommentieren, vor allem dann, wenn es sich um inhaltlich ähnliche Beiträge gehandelt hat wie sie in dem Buch aufgenommen sind oder worauf im Buch hingewiesen wird. Stattdessen wird eins zu eins die englische Ausgabe bei Verso ins Deutsche übertragen und dort werden logischerweise die US-Titel der Aufsätze oder die Buchtitel zitiert, die bei Dimitri Roussopoulos im Black Rose Verlag Montréal in Kanada erschienen sind. Dabei hätten die beiden Herausgeber, Bookchins Tochter Debbie und Blair Taylor, vermutlich selbst für eine bessere deutsche Ausgabe sorgen können, da Debbie lange Zeit in Frankfurt/M. gelebt hat und sehr viel von der deutschen Anarchoszene persönlich mitbekommen hat.

Schauen wir uns die aufgenommenen Beiträge an, sie stammen aus den Jahren 1990, 1992, 1993, 1995, 1998 und 2002 und sind somit nicht neueren Datums als die in Deutschland bereits übersetzt publizierten Artikel, die an dieser Stelle im Anhang nachgereicht werden, zumal viele davon durchaus noch lieferbar sind. Auch der aktuellste Beitrag von 2002 gibt in erster Linie eine Übersicht über die kommunalistische Theorie und zitiert selbst ältere Beiträge.

Ursula K. Le Guins Vorwort

Doch beginnen wir mit dem Vorwort von Ursula K. Le Guin, der Autorin von „Planet der Habenichtse“ (Die Enteigneten / The Dispossessed.

An Ambiguous Utopia) und vieler anderer hervorragender Science Fiction-Bücher. Sie schreibt eine gute Einführung für das amerikanische Publikum und konstatiert richtig, dass dort bereits der „Liberalismus“ zum Schreckgespenst gemacht wird; erst recht dann alles was „links“ davon sein könnte. Aber schon auf Seite 8 entschlüpft ihr ein gänzlich verkehrter Hinweis: „Murray Bookchin war Experte für gewaltlose Revolutionen.“ Mensch kann viel interpretieren, aber „gewaltlos“ war Bookchin sicherlich nicht; weder in seiner Revolutionsvorstellung, noch in seiner politischen Überzeugung. Lou Marin von der GWR musste dies leidvoll erfahren, als er an meiner Stelle zur Konferenz nach Plainfield fliegen wollte und von Murray mit dem unqualifizierten Hinweis, er brauche dort keine Gandhi-Anhänger abgewiesen wurde.

Als dies 1999 geschah, begann sich Murray unter dem Eindruck manch bösartiger Angriffe US-amerikanischer Anarchisten gerade vom Anarchismus abzulösen. Seine grundsätzliche Abhängigkeit von Kropotkin und seine durchgängige Analyse und Ablehnung von Herrschaft verbinden ihn bei seiner aktuellen ökologischen Analyse jedoch weiterhin tief mit der anarchistischen Tradition. Dies belegt der aufgenommene Beitrag „Die Umweltkrise und die Notwendigkeit gesellschaftlicher Erneuerung“ aus dem Jahr 1992.

Ausführlicher finden sich diese Argumente jedoch in seinem 1992 auf Deutsch veröffentlichten Buch „Die Neugestaltung der Gesellschaft“; dort schrieb er beispielsweise: „Was die Menschen zu ‚Fremden‘ der Natur gegenüber gemacht hat, sind soziale Veränderungen, die viele Menschen zu Fremden in ihrer eigenen sozialen Umgebung werden ließen: die Herrschaft des Alters über die Jugend, der Männer über die Frauen sowie der Männer untereinander.

Heute wie vor Jahrhunderten gibt es Menschen – Unterdrücker – die buchstäblich die Gesellschaft besitzen, und andere, von denen Besitz genommen wird. Solange die Gesellschaft nicht von einer vereinten Menschheit zurückerobert wird, die gesamte kollektive Weisheit, ihre kulturellen Errungenschaften, technologischen Innovationen, wissenschaftlichen Erkenntnisse und angeborene Kreativität zu ihrem eigenen Besten und zum Nutzen der natürlichen Welt einsetzt, erwachsen alle ökologischen Probleme aus sozialen Problemen.“

Vom Staat erwartet er dabei nichts, die einzige Möglichkeit Menschen zu organisieren, sieht er auf der Ebene der Gemeinden, dort wo direkte Demokratie funktionieren könnte. Philosophisch bedient er sich dabei bei dem Vorbild der Athener Polis, einer Vorform für direkte Beteiligung, die noch historisch bedingt beschränkt blieb, weil sie Männern vorbehalten war, und in einer Gesellschaft stattfand, die gleichzeitig eine Sklavenhaltergesellschaft war. Dennoch wurden in Athen erste Schritte für eine Demokratievorstellung gegangen, die es neu zu definieren und in den Delegationsgesellschaften heutiger Demokratien neu zu beleben gilt.

Ein zentraler Artikel des Buches, der Beitrag „Libertärer Munizipalismus“ – er fand sich bereits 1993 im Schwarzen Faden – stellt u.a. das Konsensprinzip bei Entscheidungsfindungen in Frage: „Konsensentscheidungen sind, wie ich meine, in sehr kleinen Gruppen praktikabel, in denen sich Menschen untereinander kennen. In größeren Gruppen wird der Zwang zum Konsens jedoch tyrannisch und erlaubt einer kleinen Minderheit zu bestimmen.“ Eine Einschätzung, die sicherlich von vielen AnarchistInnen hinterfragt wird.

Bis zur Seite 129 des neuen Buches können sich die LeserInnen mit dem spannenden aktuell verwertbaren Teil auseinandersetzen, wie Städte demokratisiert, wie Dezentralisierung organisiert und Ökologie einer sozialen Herrschaft entzogen werden könnte. Dann folgen etwas überraschend und nicht ganz folgerichtig 32 Seiten zum Nationalismus, vielleicht dem angenommenen Interesse der Kurden geschuldet, die Bookchins Ansicht über die Rückwärtsgewandtheit der Nationalstaatsgedanken genauer kennenlernen sollten? Dabei wird nichts Verkehrtes vermittelt und doch fragt man sich, weshalb die Herausgeber diesen Beiträgen eine so wichtige Bedeutung beimaßen, dass sie in dieser Ausführlichkeit in das Buch aufgenommen wurden. Letztlich wird nur das Erwartete ausführlich bewiesen, nämlich dass jede Form von Nationalismus konträr zu einer libertären gesellschaftlichen Organisation steht und dass diese Gemeinschaft ganz anders definiert: „Gruppenzugehörigkeiten sollten am besten durch Gemeinschaften ersetzt werden … ohne Rücksicht auf Geschlechter, ethnische Merkmale, sexuelle Vorlieben, Fähigkeiten oder persönliche Neigungen. Ein solches Gemeinschaftsleben lässt sich einzig durch eine neue Politik des libertären Munizipalismus wiedererlangen: durch die Demokratisierung der Gemeinden, sodass diese von den BewohnerInnen selbst verwaltet werden können, und durch die Schaffung einer Konföderation dieser Gemeinden, um eine duale Gegenmacht zum Nationalstaat aufzubauen.“

Hier spricht Bookchin von der „dualen Gegenmacht“ und so schließt sich folgerichtig der nächste Aufsatz zur Spanischen Revolution mit der Aussage an, die CNT habe die Macht, die sie 1936 in Katalonien bereits in Händen hielt, aus ideologischen, anarchistischen Gründen nicht in Gegenmacht umsetzen wollen und auf diese Weise viele überzeugte Revolutionäre der Reaktion ausgeliefert.

Darüber lässt sich trefflich streiten und in dieser Verkürzung, den Blick nur auf Barcelona zu richten, übersieht Murray, dass die CNT die politischen Verhältnisse in Gesamtspanien in den Blick nehmen musste und deshalb manche Entscheidung nicht zu treffen wagte, die sie „ideologisch anarchistisch“ gerne getroffen hätte.

Das letzte Kapitel in diesem Buch beschäftigt sich mit der „Zukunft der Linken“ und mit Bookchins eigener Abkehr vom Anarchismus – nach 40 Jahren.

Eine lesenswerte Auseinandersetzung, die jedoch sehr darauf beruht, dem Anarchismus einen zu großen Hang zum Individualismus und damit zu einer Beliebigkeit, Verherrlichung der Vielfalt oder gar Realitätsferne vorzuwerfen. Hier würde sich eine Diskussion lohnen. Von den Hinweisen auf eine zukünftige Revolutionierung der Gesellschaft aus diesem Kapitel seien abschließend zwei Gedanken zitiert, die deutlich machen, wie sehr Bookchin der Aufklärung und somit letztlich auch Adorno verpflichtet ist:

„Die Verfassung und die Gesetze der (libertären) Gemeinschaft sollten die Pflichten und Rechte der BürgerInnen festlegen, sollten also den Bereich des Notwendigen und den Bereich der Freiheit ausdrücklich verdeutlichen. Das Leben der Gemeinschaft wird durch Gesetze, nicht willkürlich durch Menschen, bestimmt.

Gesetze als solche sind nicht unbedingt unterdrückerisch…“ und „Eine revolutionäre Politik bekämpft nicht die Existenz von Institutionen an sich, sondern beurteilt vielmehr, ob eine bestimmte Institution freiheitlich und rational oder aber unterdrückerisch und irrational ist.“

Anhang

Murray Bookchin: Die Radikalisierung der Natur - Zur Ethik eines radikalen Naturverständnisses, in: Schwarzer Faden Nr.17 (1985)

Murray Bookchin: Thesen zum Kommunalismus, in: Schwarzer Faden, Nr.19, 1985 (dazu: Diskussionen in SF 21 und 22)

Die Ökologie der Freiheit. Wir brauchen keine Hierarchien.' (1985), Beltz Verlag

Das im neuen Buch vielfach erwähnte: The Rise of Urbanization and the Decline of Citizenship (1987), Sierra Club Books, San Francisco; später als: Urbanization without Cities, Black Rose Verlag, 1992 erschien auf dt. als: "Agonie der Stadt", 1996 im Trotzdem-Verlag, Grafenau.

Interview mit Murray Bookchin vom Oktober 1984, 2 Teile, in: Schwarzer Faden Nr. 26 und 27 (1987 und 1988)

Remaking Society (1989), (1990), South End Press, Boston; erschien auf dt. als "Die Neugestaltung der Gesellschaft", 1992 im Trotzdem-Verlag, in diesem Buch befindet sich im Anhang eine 42-seitige Bibliographie von Bookchins Werken mit den verschiedenen Übersetzungen bis zum Jahr 1990, zusammengestellt von Janet Biehl zu seinem 70. Geburtstag (14.01.1991)

Murray Bookchin: Über die Aufklärung, in: Schwarzer Faden, Nr.39 (1991)

Murray Bookchin: Libertärer Kommunalismus - ein Konzept für eine konkrete Utopie, in: Schwarzer Faden Nr.43 (1992)

Murray Bookchin: Die Frage nach der Zukunft der Städte, in: Schwarzer Faden, Nr. 50 (1994)

"Anarchismus ist sehr schick geworden". Interview mit Murray Bookchin in Burlington/Vermont von Wolfgang Haug, in: Schwarzer Faden, Nr.52 (1995)

Murray Bookchin: Die Einheit von Ideal und Praxis (Kritik an Chomsky), in: Schwarzer Faden Nr.61 (1997)

Interview mit Murray Bookchin, S. 132-168 in: Janet Biehl: "Der libertäre Kommunalismus. Die politische Praxis der Sozialökologie", Trotzdem Verlag, Grafenau 1998. Das Buch erschien zum Kongress für Soziale Ökologie in Lissabon 1998.