so viele farben

„Wir haben es euch ja gesagt“

Nach den Angriffen auf Frauen am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht versuchen Rechte feministische Diskurse zu instrumentalisieren

| Kerstin Wilhelms-Zywocki

Vieles ist geschrieben worden zu den Angriffen auf Frauen am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht. Das meiste davon reicht von erstaunlich über groben Unfug bis hin zur Diffamierung ganzer Bevölkerungsgruppen und offen rassistischer Hetze. Am schmerzhaftesten ist sicherlich die Vereinnahmung von feministischen Positionen für genau diese rassistische Propaganda.

Diejenigen Personen, die noch vor wenigen Tagen Genderforschung als Geldverschwendung und die #aufschrei-Bewegung als feminine Hysterie abgetan haben, sehen sich nun in vorderster Front, um die Rechte von Frauen zu verteidigen.

Freilich nicht aller Frauen. Um die Gesundheit und die Sicherheit von Frauen in Flüchtlingsunterkünften kümmern sich diese neuen Held*innen der Frauenbewegung herzlich wenig (lest zu dem Thema den tollen Artikel von Maria Braig in dieser Ausgabe der GWR).

Es geht um ‚ihre‘ weißen Frauen, die sie gegen die Übergriffe vermeintlich triebgesteuerter ‚Südländer‘ verteidigen müssen.

Natürlich wird dabei großzügig übersehen, dass sexualisierte Gewalt in Deutschland immer und überall Thema ist.

In allen Bevölkerungsgruppen und Bevölkerungsschichten kommt es zu Übergriffen, nicht nur auf Frauen und Mädchen, sondern alle Geschlechter sind betroffen.

Dieser Umstand wird jedoch aus der Berichterstattung größtenteils ausgeklammert, so dass Rassist*innen viel Platz für ihr selbstgefälliges „Wir haben es euch ja gesagt“-Gehabe finden und sich in Pseudofeminismus üben können, der aber freilich nichts anderes macht, als patriarchale Ordnungen zu reinstallieren und auf die Gruppe der Frauen und der Geflüchteten anzuwenden.

Rape Culture und Victim Blaming

Feminist*innen weisen seit Jahren immer wieder darauf hin, dass sexualisierte körperliche und sprachliche Gewalt in unserer Gesellschaft omnipräsent ist, (1) aber in den seltensten Fällen geahndet wird. Berichte über sexuelle Übergriffe beim Oktoberfest und Karneval z.B. sind enorm selten, aber erschreckend. (2)

In ihrem Buch „Unsagbare Dinge“ schreibt Laurie Penny völlig zutreffend: „Vergewaltigung und sexuelle Gewalt sind Alltag. Ritualisierte Frauenfeindlichkeit ist so normal, dass die Beziehung zwischen Männern und Frauen radikal neu definiert werden muss […].“ (3)

Wer Beispiele sucht, dem sei der Twitter-Hashtag #aufschrei nahe gelegt, unter dem seit einigen Jahren User ihre Erfahrungen mit alltäglicher Frauenfeindlichkeit teilen.

Die Rape Culture ist also ganz bestimmt kein Import irgendwelcher ’nordafrikanisch aussehender‘ Männer. Stattdessen ist hier ein rassistisches Narrativ am Werk, das dem ’schwarzen Mann‘ eine ungehemmte Libido zuspricht – freilich im Gegensatz zum selbstbeherrschten weißen Mann – und eine Tendenz, diese an ‚weißen‘ Frauen auszulassen – freilich ebenfalls ganz im Gegensatz zum ‚weißen Mann‘. Dabei haben gerade in jüngster Vergangenheit immer wieder Hassposts und Shitstorms Aufsehen erregt, in denen just diese ‚weißen‘ Männer Frauen mit Vergewaltigung gedroht haben und ihre Gewaltphantasien in deren Timelines hinterlassen haben.

Ein krasses Beispiel ist der Shitstorm gegen Frauen in der Computerspielbranche, der unter dem Hashtag #gamergate aufgearbeitet wurde. Aber auch in Bezug auf die aktuelle Flüchtlingspolitik kam es vermehrt zu sexualisierten Hasspostings, die sich gegen Politikerinnen richteten. (4)

Genau dieser Hassdiskurs gegen die Einwanderung von geflüchteten Menschen kippt nun um zu einer Instrumentalisierung der Debatte um die Sicherheit von Frauen durch Rassist*innen und Faschist*innen.

Mindestens ebenso gefährlich ist ein weiterer Diskursstrang, der mit dem Begriff „Victim Blaming“ bezeichnet wird und sich in dem absurden Titel eines Buches von Birgit Kelle zusammenfassen lässt: „Dann mach doch die Bluse zu.“

Die Frauen dürfen sich halt nicht so aufreizend anziehen, dann seien sie ja selbst schuld und es wäre schon ratsam, stets eine Armlänge Abstand von fremden Männern zu halten – so und schlimmer sahen die Verhaltensmaßregeln für die Opfer aus, die nach den Angriffen von Köln geäußert wurden. (5)

Nicht die Täter haben etwas falsch gemacht, so suggerieren diese Äußerungen, sondern die Opfer haben sich falsch verhalten, sich falsch angezogen, sich falsch bewegt, falsch geredet usw.

Auf dem Kölner Hauptbahnhof treffen also rassistische und frauenfeindliche Diskurse aufeinander: die Instrumentalisierung des ‚weißen‘ weiblichen Körpers für rassistische Hetze, die die berechtigte Skandalisierung von Gewalt gegen Frauen dazu nutzt überkommene rassistische Narrative neu aufzulegen und gleichzeitig die sexualisierte Gewalt ‚weißer‘ Männer zu verdrängen.

Gleichzeitig werden die Opfer gemaßregelt und als Verantwortliche ausgemacht, was vielleicht zunächst paradox erscheint, aber einer spezifischen sexistischen und rassistischen Logik folgt: ‚Weiße‘ Frauen werden Opfer ’schwarzer‘ männlicher Gewalt, das ist schlimm und muss aufhören, aber im Augenblick sind die Frauen die vernunftbegabtere Spezies unter den beteiligten Akteuren, daher werden diese zunächst angesprochen, sich auf eine bestimmte Art zu verhalten, die die ’schwarze‘ Libido nicht unnötig reizt, solange die ’schwarzen‘ Männer noch nicht ausreichend in unsere Gesellschaft integriert sind.

In dieser Formulierung wird eins deutlich: Hier ist ein patriarchaler Diskurs am Werk, der sowohl Frauen als auch geflüchtete Männer in eine untergeordnete Position unter die männliche, ‚weiße‘ Subjektposition einordnet, dabei aber eine Hierarchie zwischen den ‚weißen‘, ‚vernunftbegabten‘ Frauen und den ’schwarzen‘, ‚triebgesteuerten‘ Männern zieht. ‚Weiße‘ Frauen sind aber nur deshalb höher in dieser Hierarchie verortet, weil sie in diesem patriarchalen Diskurs sozialisiert wurden und damit ausreichend konditioniert und zugerichtet sind. Ihre Vernunftbegabtheit besteht also in dem Inkorporieren patriarchaler Ideologien.

Am Kölner Hauptbahnhof waren in der Silvesternacht widerliche Gewalttäter am Werk, die Frauen sexuell missbraucht haben. Diese Straftaten sind mit aller Vehemenz zu verurteilen und dürfen nicht toleriert werden.

In der Folge jedoch, insbesondere in der medialen Berichterstattung, war es der ‚Male Gaze‘, der westlich-männliche Blick, der die Geschehnisse in seinem Sinne diskursiviert und in seine ideologische Ordnung integriert hat. Und auch das ist Gewalt.

Es ist an der Zeit andere Stimmen zu hören: die der Opfer mindestens, aber auch die von männlichen und weiblichen Geflüchteten.

Wie sieht deren Bild von Geschlechterverhältnissen eigentlich aus?

Mir ist keine Studie bekannt, die dieser Frage einmal systematisch nachgeht und dem ‚Bauchgefühl‘, das anscheinend viele Diskursteilnehmende in Deutschland haben, einmal etwas Handfestes entgegensetzt.

Kollektivschuld

„Wir leben in einem Rechtsstaat, in dem Schuld individuell und nicht kollektiv geahndet wird. Wenn es zulässig wäre, angesichts der Übergriffe von Köln die Zuwanderungspolitik infrage zu stellen, dann müsste es angesichts von über 800 Anschlägen auf Flüchtlingsheime [im Jahr 2015] auch zulässig sein, Pegida, AfD und NPD zu verbieten und die Anhänger zu inhaftieren.“

Dieser Leserkommentar von Linus Blacha auf der Facebook-Seite von Zeit Online pointiert eine weitere Qualität, die die Debatte über Zuwanderung seit Silvester angenommen hat: Die Täter werden nicht als Individuen wahrgenommen, sondern die gesamte Bevölkerungsgruppe der Geflüchteten wird in Sippenhaft genommen, obwohl längst nicht geklärt ist, wer überhaupt die Täter sind.

Das ‚arabische Aussehen‘ der Täter hatte genügt, um die Angriffe in der Silvesternacht mit dem Migrationsdiskurs zu verknüpfen und aus straffällig gewordenen Einzelpersonen Stellvertreter ihrer vermeintlichen Community zu machen.

Menschen in Schubladen einzuordnen, diesen dann stereotype Eigenschaften zuzuordnen, die dann wiederum auf die einzelnen Individuen bezogen werden, ist eine Denkstruktur der westlichen Gesellschaften, die Antirassist*innen, Anarchist*innen und Feminist*innen immer wieder kritisiert haben. Hier aber spitzt sich der Diskurs zu einem Narrativ zu, der vor verschiedensten Pogromen in der Vergangenheit am Werk war: der Mythos vom Juden, der den Brunnen vergiftet; der Kommunist, der den Reichstag in Brand setzt; der ‚Neger‘, der ‚weiße‘ Frauen vergewaltigt – immer wird in diesen Szenarien die vermeintliche Tat eines einzelnen genutzt, um die ganze Gruppe zu verfolgen und zu vernichten.

Was hier vorliegt, ist nicht einfach ein verfehlter juristischer Diskurs. Vielmehr wird hier der gedankliche Nährboden für eine Pogromstimmung gegen ‚Ausländer‘ bereitet, die weitere Gewaltexzesse nach sich ziehen kann, wie die brennenden Flüchtlingsunterkünfte in ganz Deutschland ja bereits jetzt deutlich machen.

Was man sagen ‚darf‘

Gegen dieses Schubladendenken, das zu einer Pogromstimmung auswachsen kann, hilft zunächst einmal ein reflektierter Umgang mit der Art und Weise, wie wir über die Geschehnisse vom Silvesterabend sprechen, aber auch über Menschen und ihre vermeintlichen ‚Zugehörigkeiten‘ im Allgemeinen. Ganz konkret muss gefordert werden, dass in Polizei- und Medienberichten auf Aussagen wie „die Täter hatten ein südländisches Aussehen“ verzichtet wird.

Viele fordern jetzt, dass die ‚arabische‘ oder ’nordafrikanische‘ Herkunft der Täter etwas sei, das man doch sagen ‚dürfen‘ müsse, was man nicht verschleiern dürfe, da es der Wahrheitsfindung diene. (6)

Im Gegenteil. Der Zusatz ‚arabisch aussehend‘ etc. ist nicht nur nichtssagend, er führt auch dazu, dass von vornherein stereotype Vorstellungen ins Spiel gebracht werden – denn was ist schon ein arabisches Aussehen?

Zudem aber setzt er besagten Pogrommechanismus in Gang, indem gleich eine ganze Gruppe mit bezeichnet bzw. stigmatisiert wird. Es geht dabei nicht darum, eine bestimmte Sprache zu ‚verbieten‘ oder bestimmte ‚Wahrheiten‘ zu unterdrücken.

Denn die ‚Zugehörigkeit‘ einzelner Individuen zu einer Nation oder Kultur, die sich dann auch noch am Aussehen erkennen lassen soll, ist keine Wahrheit, sondern eine Ideologie.

Es geht also nicht um Sprechverbote, sondern um die Forderung nach einer ideologiefreien, bewertungsfreien und damit gewaltfreien libertären Sprache, die unser Denken prägt und damit Vorurteile, Hierarchien und Kollektivkonstrukte abbaut. Am Kölner Bahnhof sieht man die Notwendigkeit einer libertären Sprache nur allzu deutlich und erkennt, dass es um mehr geht als um ‚political correctness‘.

(1) Z.B. in diesem Artikel: Stefanie Lohaus, Anne Wizorek: "Die Rape Culture wurde nicht nach Deutschland importiert - sie war schon immer da", in: Vice, 6.1.2016. www.vice.com/de/read/die-rape-culture-wurde-nicht-nach-deutschland-importiert-sie-war-schon-immer-da-aufschrei-118
[zuletzt abgerufen am 14.01.2016].

(2) Vgl. z.B. Karoline Beisel, Beate Wild: "Hemmungslos", in: SZ, 29.09.2011. www.sueddeutsche.de/muenchen/sexuelle-uebergriffe-auf-dem-oktoberfest-entbloessung-im-bierzelt-1.1151859 [zuletzt abgerufen am 14.01.2016]

(3) Laurie Penny: Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution. Edition Nautilus, Hamburg 2015, S. 106.

(4) Ein Beispiel von vielen findet sich in dieser Geschichte: Oliver Hollenstein: "Rohe Weihnachten", in: Zeit Online, 29.12.2015. www.zeit.de/2015/52/hasskommentare-migration-die-gruenen-buergerschaft [zuletzt abgerufen am 15.01.2016]

(5) Die Debatte dazu lässt sich unter dem Hashtag #einearmlaenge nachverfolgen.

(6) Z.B.: Birgit Kelle: "Sexuelle Gewalt gegen Frauen: Warum der Aufschrei gegen die Täter nicht ausbleiben darf", in: Focus Online, 5. Januar 2016. www.focus.de/politik/experten/bkelle/schreckliche-taten-in-koeln-sexuelle-gewalt-gegen-frauen-warum-der-aufschrei-gegen-die-taeter-nicht-ausblieben-darf_id_5189307.html [zuletzt abgerufen am 15.01.2016].

Nils Leifeld, Boris Palme: "Schweigen ist Gift für den Diskurs", in: Cicero, 13.01.2016. www.cicero.de/weltbuehne/boris-palmer-nach-koeln-vorfaellen-wir-stossen-die-grenzen-unserer-belastbarkeit/60359 [zuletzt abgerufen am 15.1.2016].