jetzt oder nie: theorie

Tod einer Handlungsmacht

Wie die postkolonialistische Thereotikerin Gayatri Chakravorty Spivak ihren eigenen Theorieansatz demontiert

| Jens Kastner

Ihr Buch "Can the Subaltern Speak?" gilt als Klassiker der postcolonial studies. Die in Kolkata geborene und seit Jahrzehnten in den USA lehrende Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak hat Diskursgeschichte geschrieben. Mit ihrer Verknüpfung von neomarxistischer Ideologietheorie und poststrukturalistischen Methoden hat sie weit über akademische Disziplingrenzen und den politischen Antikolonialismus hinaus gewirkt. Eine lapidar erscheinende Äußerung der Theoretikerin zu ihrem Subalternen-Theorem (1) stellt nun aber zentrale Gründe für einen großen Teil der positiven Rezeption in Frage. Oder sollte es zumindest.

In einem Text in der Zeitschrift Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis vom Dezember 2014 lässt Spivak ihre Arbeit Revue passieren. Dabei erneuert sie u.a. den zentralen Befund postkolonialer Theorie, dass die „Subalterne […] nicht mit dem Ende des territorialen Imperialismus“ (2) verschwinde. Den Begriff der Subalternen, von Antonio Gramsci für jene gesellschaftlichen Gruppen ersonnen, denen es an sozialer Repräsentation und an „politischer Selbständigkeit“ (3) mangelt, hatte Spivak einst – im Anschluss an den Historiker Ranajit Guha – in den postkolonialen Kontext transferiert. Es geht dabei einerseits um die von nationalen Befreiungsbewegungen nicht repräsentierten unteren sozialen Schichten bzw. Kasten. Es geht aber auch um Frauen zwischen „Patriarchat und Imperialismus, Subjektkonstitution und Objektformierung“ (4), um Frauen in der sogenannten Dritten Welt also.

Die Antwort auf die Frage, ob die Subalternen sprechen können, war eine vermittelte. Es mangelt ihnen nicht an Artikulationsfähigkeit, aber die Bedingungen, unter denen ihr Sprechen gehört werden könnte, sind von ihnen unbeeinflusst. Es sind die strukturellen Hörgewohntheiten, eingerichtet von einer kolonialen, „epistemischen Gewalt“ (5), die die Subalternen unhörbar machen.

Spivaks konkretes und viel zitiertes Beispiel war die 16- oder 17-jährige Bhuvaneswari Bhaduri, ihre Großtante, die sich 1926 das Leben nahm. Bhaduri war Mitglied einer Widerstandsgruppe, die für die indische Unabhängigkeit kämpfte. Sie war mit der Durchführung eines Mordes beauftragt worden. Weil sie ihn nicht ausführen wollte oder konnte, brachte sie sich selbst um. Um aber nicht den Eindruck eines Suizids aufgrund einer ungewollten Schwangerschaft zu erwecken, wartete sie mit der Selbsttötung den Beginn ihrer Menstruation ab. Spivak interpretiert den Suizid der jungen Frau als „subalterne Weise“ (6), sowohl der Tradition des Frauenselbstmordes zu widerstehen – menstruierenden Witwen war das Recht auf Suizid untersagt -, als auch der hegemonialen Interpretation einer Familienangelegenheit zu widersprechen. Trotz der systematisch ungünstigen Bedingungen des Gehörtwerdens, erarbeitete Bhaduri sich ihre – wenn auch endliche – Handlungsmacht (agency).

In ihrem Rückblick nun hält Spivak einerseits an ihrer allgemeinen These fest, weil schließlich „der Kolonialismus überhaupt nicht am Ende ist.“ (7) Ihr einziges Beispiel dafür allerdings ist erstaunlich: „Eine Version des territorialen Imperialismus und Staatsterrorismus alter Prägung gibt es heute noch in Palästina.“ (8)

Diese analytische Feststellung muss einerseits verwundern, weil sich koloniale Wirtschafts- und Politikmuster schließlich in vielen Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens in sich stets aktualisierenden Varianten bis heute halten. Andererseits überrascht doch die einseitige, wenn nicht überhaupt geschichtsblinde Interpretation der Situation im Nahen Osten, die keinen Gedanken darauf verwendet, dass die Gründung des Staates Israel ein Effekt der Shoah war. Man muss nicht mit der Siedlungspolitik der je aktuellen israelischen Regierung einverstanden sein, um das als Fakt zu akzeptieren – und damit als grundlegenden Unterschied zu jeder Form von „territorialem Imperialismus“.

Mit dieser Bewertung Israels als irgendwie kolonialer Staat, die nur unter Ausblendung des beispiellosen Verbrechens des 20. Jahrhunderts Bestand haben kann, steht Spivak nicht allein. Auch andere TheoretikerInnen aus dem Bereich der post- und dekolonialen Studien, wie etwa Walter D. Mignolo, sind für ihre Position gegenüber Israel bereits kritisiert worden. Auch Mignolo denkt Israel allein im Kontext modern-kolonialer Landnahmen, ohne die Shoah als Gründungsmotiv zu berücksichtigen. (9)

Spivak allerdings geht noch weiter. Im Anschluss an die fragliche Analyse äußert sie ihr „Bedürfnis zu verstehen, was Generationen von Kindern zu Selbstmordattentätern macht“ (10). Dieses Bedürfnis habe „denselben Ursprung wie mein Akt persönlicher Ehrerbietung gegenüber der Schwester meiner Großmutter und das Bedürfnis, die Normalität kollektiv zu verändern. Ihr Selbstmord war auch eine Botschaft, die nicht aufgegriffen wurde.“ (11)

Mit dem letzten Satz setzt sie tatsächlich den Suizid von Bhuvaneswari Bhaduri mit dem Tun von heutigen SelbstmordattentäterInnen gleich. Allein schon im Hinblick auf die jeweilige Praxis als solche ist der Vergleich schräg, schließlich brachte Bhaduri nur sich selbst um, während SelbstmordattentäterInnen, wie das Wort schon sagt, Attentate begehen, also andere gezielt mit in den Tod reißen.

Auf politischer Ebene ist diese Gleichsetzung allerdings nicht nur schief, sondern katastrophal. Zumindest sollte es meines Erachtens aus linker Perspektive als intolerable Äußerung gesehen werden. Denn Spivak lässt die „Ehrerbietung“ ihrer Großtante gegenüber hier Menschen zuteil werden, die es darauf anlegen, wahllos Jüdinnen und Juden umzubringen.

Sie behauptet darüber hinaus, dass es sich dabei um begrüßenswerte, da potenziell emanzipatorische Praktiken handele. Wie anders sollte das Bedürfnis, „die Normalität kollektiv zu verändern“, aus dem Mund einer marxistisch-feministischen Theoretikerin sonst interpretiert werden denn als emanzipatorische Vision?

Den Unterschied zwischen Verstehen-Wollen im analytischen Sinne und einem empathischen Verständnis, das man ihr noch zu Gute hätte halten können, ebnet Spivak letztlich selber ein. Die SelbstmordattentäterInnen, die „auch“ eine nicht aufgegriffene Botschaft übermitteln, werden unmissverständlich in die Kämpfe der Subalternen um ihr Gehörtwerden eingereiht. Mit diesen Äußerungen geht Spivak deutlich weiter als andere linke Intellektuelle, die Israel kritisiert haben. Zwar kam bzw. kommt auch beim postkolonialistischen Theoretiker Edward Said oder bei Judith Butler das Erklärungsmuster Kolonialismus vs. antiimperialistischer Widerstand zur Anwendung. Aber weder Said noch Butler knüpfen ihre politischen Statements dermaßen eng an zentrale Momente ihrer theoretischen Ansätze. Die ganze Subalternitätstheorie Spivaks aber fußt auf der Frage nach Möglichkeiten von Handlungsmacht, die hier mit palästinensischen Selbstmordattentäterinnen exemplifiziert wird.

Damit stellt Spivak das ganze emanzipatorische Potenzial ihres Ansatzes in Frage. Denn was ist eine Handlungsmacht (agency) wert, die auf der Vernichtung anderer beruht? Zumal jener bestimmten „Anderen“, die, häufig unter dem Vorwand der Kritik an israelischer Außenpolitik, gleichermaßen Gegenstand von Verschwörungstheorien wie Ziele von Ressentiments und tätlichen Angriffen sind?

Spivak reiht sich mit ihrem Statement in die unrühmliche Tradition des als Antizionismus daher kommenden linken Antisemitimus. Dafür ist sie bereits kritisiert worden. (12) Die Kritik muss aber noch weiter gehen, weil Spivak die politische Aussage zur Reformulierung ihres theoretischen Ansatzes benutzt. Schließlich kann und darf der emanzipatorische Kampf um die eigene Geschichte, bis dahin (nach Gramsci) qua Subalternität „notwendigerweise bruchstückhaft und episodisch“ (13), nicht auf der Grundlage der Legitimierung antisemitisch motivierter Gewalt geführt werden.

(1) Der Begriff Subaltern stammt aus dem Lateinischen, subalternus: untergeordnet, von niedrigem Rang, unselbstständig. Er ist vom italienischen Kommunisten Antonio Gramsci in die gesellschaftstheoretische Diskussion eingeführt worden und wurde in den 1980er Jahren von einer Gruppe südasiatischer HistorikerInnen - der Subaltern Studies Group - aufgegriffen. Mit dem Begriff der Subalternität wird vor allem über Unterordnung in kolonialen und postkolonialen Kontexten diskutiert, wobei es strittig ist, was genau unter "subaltern" zu verstehen ist und vor allem, wer zur Kategorie "der Subalternen" gehört und wer nicht. In den 1990ern Jahren gab es auch in Lateinamerika und den USA eine Latin American Subaltern Studies Group. Im deutschsprachigen Raum wurde die Debatte im Anschluss an Gayatri C. Spivak v.a. angestoßen durch Hito Steyerl/ Encarnación Gutiérrez Rodriguez (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Münster: Unrast Verlag 2003, vgl. auch Buchbesprechung in GWR Nr. 288, S. 17.

(2) Gayatri Chakravorty Spivak: "Wer hört die Subalterne? Rück- und Ausblick, in: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, Heft 20, 3/2014, S. 6-15, online: www.zeitschrift-luxemburg.de/wer-hoert-die-subalterne-rueck-und-ausblick/

(3) Antonio Gramsci: Gefängnishefte, Band 9, Heft 25 [1934], Hamburg: Argument Verlag 1999, S. 2193.

(4) Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Übersetzt aus dem Englischen von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny. Mit einer Einleitung von Hito Steyerl. Wien: Verlag Turia + Kant 2008, S. 101. Die Begriffe Subjektkonstitution und Objektformierung werden vor allem in den den sozialkonstruktivistischen Sozialtheorien gebraucht: Der Sozialkonstruktivismus geht, grob gesagt, davon aus, dass soziale Phänomene nicht wie Naturtatsachen existieren, sondern "konstruiert" werden. Auch Subjekte - relativ selbstständig handelnde Menschen - müssen sich demnach erst konstituieren, also herstellen bzw. sie werden konstituiert/ hergestellt (in den Bedingungen, unter denen sie leben). Wo es (aktive) Subjekte gibt, existieren in der Regel auch (passive) Objekte, auf die die Subjekte einwirken. Aber auch deren Existenz ist keine natürliche Angelegenheit, sie werden geformt bzw. "formiert".

(5) Spivak 2008, a.a.O., S. 42.

(6) Spivak 2008, a.a.O., S 105. Epistemische Gewalt - vom griechischen Wort "epistem", Erkenntnis, Wissen - ist eine Gewalt, die sich auf das Erkennen und Wissen-Können betrifft, d.h. dieses strukturell einschränkt und behindert. Vor allem in der post- und dekolonialistischen Theorie wird davon ausgegangen, dass der Kolonialismus nicht nur ökonomische Ausbeutung und politische Unterdrückung mit sich brachte, sondern auch die Möglichkeiten und Formen des Wissens stark prägte.

(7) Spivak 2014, a.a.O., S. 10.

(8) Ebd.

(9) Die Kritik bezog sich vor allem auf folgenden Text: Walter D. Mignolo: "Dispensable and Bare Lives. Coloniality and the Hidden Political/ Economic Agenda of Modernity", in: Human Architecture. Journal of Sociology and Self-Knowledge, VII, 2, Spring 2009, S. 69-88. Sie entbrannte im deutschsprachigen Raum allerdings anlässlich der Übersetzung von Walter D. Mignolo: Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität. Übersetzt von Jens Kastner und Tom Waibel. Wien: Verlag Turia + Kant 2012. Zur Debatte vgl. http://argument-wasnun.blogspot.co.at/2012/04/entgegnungen-auf-den-offenen-brief.html#more; vgl. allgemein Julia Edthofer: "Israel as Neo-Colonial Signifier? Challenging De-Colonial Anti-Zionism." In: Journal for the Study of Antisemitism, Vol. 7, Nr. 2/2015, S. 31-51.

(10) Spivak 2014, ebd.

(11) Ebd.

(12) Vgl. Michael Curtis: "Why ist he Left so wrong on Israel?" In: American Thinker, 7. Oktober 2014,www.americanthinker.com/articles/2014/10/why_is_the_left_so_wrong_on_israel.html

(13) Gramsci 1999, a.a.O., S. 2191