Bernd Drücke (Hg.): Anarchismus Hoch 3. Utopie, Theorie, Praxis. Interviews und Gespräche. Unrast Verlag, Münster 2016, 252 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 16 Euro, ISBN 978-3-89771-219-5
Das Streben nach Herrschaftsfreiheit ist lebendig und mannigfaltig. Interviews sind hervorragend geeignet, dies zu zeigen. Jetzt liegt mit „Anarchismus Hoch 3“ der dritte von Bernd Drücke herausgegebene Interview-Band vor, nach „Ja! Anarchismus“ (2006) und „Anarchismus Hoch 2“ (2014).
17 Gespräche, die vorher großenteils schon in der Monatszeitschrift Graswurzelrevolution abgedruckt, aber für die Buchausgabe ergänzt und aktualisiert wurden, loten das Spektrum libertären Denkens aus, wobei der Blick zuweilen über die deutschen Grenzen hinaus nach Griechenland, Katalonien, Kurdistan, die Türkei, Russland/Ukraine und Indonesien gelenkt wird.
Eine kleine Kritik an editorischen Entscheidungen sei gleich vorausgeschickt: Die Aktualisierungen der Interviews sind immer dann gelungen, wenn sie (wie meistens) an das ursprüngliche Interview angehängt und als solche gekennzeichnet sind. In einigen Fällen jedoch wurden sie in das Transkript des Interviews eingearbeitet, so dass auf vergangene Ereignisse Bezug genommen wird, die beim ursprünglichen Interview noch in der Zukunft lagen (S.145, 158). Das irritiert und sollte in Zukunft vermieden werden.
Die internationalen Ausblicke enthalten tagesaktuelle Analysen, die sich natürlich in raschem Tempo in historische Erinnerungen verwandeln; aber auch als solche haben diese Off-Mainstream-Betrachtungen ihren Wert. Noch wichtiger erscheinen mir jedoch die lebensgeschichtlichen Berichte emanzipatorischer Akteur*innen, die der Textsorte Interview noch besser entsprechen. Drücke, der die Interviews selbst geführt hat (alleine oder mit Assistenz), bezeichnet sein Vorgehen als „Oral History“ (S.13). Dem entspricht eine Interviewführung, die den Befragten nie in die Deutung ihrer Geschichte hineinredet. An manchen Stellen erscheint das übertrieben; man denkt dann, dass ein Weißer Elefant im Raum steht, der partout nicht angesprochen wird, sondern es kommt die nächste Frage von der Liste.
Ein Beispiel: Der FAU-Aktivist Ralf Dreis skandalisiert (zu Recht) die „Katastrophe“, dass in Griechenland inzwischen 35% der Menschen nicht mehr krankenversichert sind (S. 247). Aber inwiefern können Anarchist*innen auf Sozialversicherungen setzen und sie einklagen? Hat nicht der anarchistische Anthropologe Pierre Clastres 1977 – ebenfalls in einem Interview – resümiert: „Die Sozialversicherung – das ist der Staat“? (1)
Die wenigen Fälle, in denen inneranarchistische Kontroversen durch die Interviewführung offen angesprochen werden, ergeben eine besonders spannende Lektüre. Das ist etwa die Frage eines (wiederum in Griechenland) von Anarchist*innen „abgefackelten“ Feuerwehrautos (Interview mit Marcel Seehuber und Moritz Springer vom „Projekt A – Der Film“, S.192ff). Und es ist die Kontroverse um den Antispeziesismus, wo der Schreiber dieser Zeilen sein – veganes – Fett wegkriegt (Interview mit Denise und Sania vom „roots-of-compassion“-Kollektiv, S.233ff). Doch soweit es um ein Archiv libertärer Biografien geht, hat der ungehinderte Erzählfluss, der ja zumeist auch Probleme und Konflikte gar nicht ausblendet, sicherlich seine Vorzüge.
Wie kann man nach der Lektüre von „Anarchismus Hoch 3“ nun also den Anarchismus im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts bilanzieren? Seine Akteur*innen kommen aus reaktionären wie aus liberalen oder linken Elternhäusern. Sie wurden politisch sozialisiert über die Spaßguerilla oder über den Rätekommunismus, ja, in einem Fall sogar über Verschwörungstheorien zum 11. September.
Ihre Strategie ist teils volkstümlich, teils akademisch. Nur selten denken und handeln sie primär vom angestrebten Endziel einer freien Gesellschaft her, überwiegend vielmehr von der Überzeugung, die utopische Zielsetzung punktuell schon hier und jetzt zu verwirklichen. Dies ist ja das stärkste Argument für einen gewaltfreien Weg zur Anarchie, wie er von der Graswurzelrevolution vertreten wird.
Im Sinne des utopie-vorwegnehmenden Handelns ist ein Leitmotiv des Bandes die Frage der „Vernetzung“. Vernetzung von Aktivist*innen und von Lebenssphären; das war schon das Ziel des alten „Projekt A“, um das es im ersten Interview mit Andreas Ess geht (S.19-32).
Interessanterweise spielt digitale Vernetzung im vorliegenden Band überhaupt keine Rolle; von der früher ja einmal vorhandenen Euphorie über die egalitären Chancen des Internets scheint nichts mehr übrig zu sein. Was hingegen offenbar Bestand hat, ist die Wahlverwandtschaft des Anarchismus mit dem Medium Papier: Viele der Interviewten haben einen Schwerpunkt ihrer Aktivitäten auf dem Betrieb von Buchverlagen, Buchläden oder Zeitungsredaktionen.
„Früher lebten wir mit dem Gefühl: Die Revolution steht vor der Tür. Heute führen wir eher Abwehrkämpfe gegen eine weitere Zunahme der Barbarei“, sagt der Interviewte Theo Bruns (Assoziation A, S. 114).
Sehr wahr! Hier könnte man die Frage anknüpfen, inwieweit Vernetzungen über das eigene anarchistische Lager hinaus sinnvoll sind. Über den Zusammenhang von individueller und kollektiver Freiheit – ein weiteres Leitmotiv des Bandes – hat schließlich auch Karl Marx nachgedacht; und dessen „kategorischen Imperativ“ aus dem „Kommunistischen Manifest“ variiert Rainer Wendling (ebenfalls Assoziation A), wenn er sagt, es gehe darum, „alle Verhältnisse umzustürzen, in denen die Menschen unterdrückt und geknechtet sind oder der Vernichtung preisgegeben werden“ (S.109).
Und wenn sie umgestürzt sind? „Frei von Herrschaft sagt ja noch nichts darüber aus, was man denn dann macht.“ (Bettina Kruse, Kommune Hof Rossee, S. 98) Hier ist es dann gut, eine Bewegung vor sich zu haben, die ihre Utopie bereits hier und jetzt im Kleinen umsetzen will.
Einen Einblick in die Möglichkeiten und Probleme herrschaftsfreien Zusammenlebens liefert „Anarchismus Hoch 3“ allemal.
Das „Hoch 3“ deutet auch die Mehrdimensionalität dieser Betrachtungen an. Wir haben hier kein bloßes „Anarchismus – 3 mal Hoch!“ Das wäre auch langweilig gewesen.
(1) Pierre Clastres: Über die Entstehung von Herrschaft. Ein Interview. In: Unter dem Pflaster liegt der Strand, Bd.4. Berlin: Karin Kramer Verlag 1977. S.103-140, hier: S.140.