schwerpunkt türkei

„Das ist kein Terrorismus, sondern Journalismus, der aufklärt“

Redebeitrag von Graswurzelrevolution-Redakteur Bernd Drücke, gehalten auf der #FreeDeniz-Demo am 10. März in Münster

| Bernd Drücke

Aus Solidarität mit Deniz Yücel (vgl. GWR 417, S. 2) und den anderen in der Türkei inhaftierten Journalistinnen und Journalisten fanden in den letzten Wochen #FreeDeniz-Autokorsos u.a. in Berlin, Wien, Zürich und Frankfurt/M. statt. In Münster initiierte Graswurzelrevolution-Redakteur Bernd Drücke den bundesweit ersten #FreeDeniz-Fahrradkorso. 400 Menschen hörten am 10. März 2017 ab 15:30 Uhr bei der Auftaktkundgebung am Rathaus der Livemusik von Simon und Mei und den RednerInnen zu. Nach einem Grußwort von Bürgermeisterin Beate Vilhjalmsson, sprachen Bernd Drücke, Wilhelm Achelpöhler, Ulrike Löw, Frank Biermann (dju) und Minoas Andriotis (odak). Um 16:45 Uhr machten sich dann über 300 gut gelaunte RadlerInnen lautstark klingelnd auf den Weg und sorgten dafür, dass u.a. der Ludgerikreisel autofrei und komplett von Fahrrädern besetzt war. Der Autoverkehr kam zum Erliegen und die Luft in Münster wurde kurzfristig besser, bevor der Fahrradkorso um 17:20 Uhr zur Abschlusskundgebung am Türkischen Generalkonsulat eintraf. Dort gab es vom Lautsprecherwagen den extra3-Erdowie-Erdowo-Erdowahn-Song und weitere Redebeiträge, u.a. von Detlef Lorber (VVN-BdA) und Michael Ramminger (Rojava-Gruppe/ITP). Die Berichterstattung in den Medien (1) war erfreulich, auch wenn der WDR und die "Westfälischen Nachrichten" zwar den "Monatszeitungsredakteur" zitierten, den Namen der Monatszeitschrift aber konsequent verheimlichten. Wir dokumentieren in dieser GWR die Redebeiträge von Bernd Drücke, Ulrike Löw und Wilhelm Achelpöhler. (GWR-Red.)

(…) Ich möchte euch erzählen, wie ich Deniz Yücel kennengelernt habe. Das war 2001. Ich bin Redakteur der „Graswurzelrevolution“, das ist eine Monatszeitschrift für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, deren Redaktionssitz in Münster ist. Wir haben 2001 zusammen mit einem befreundeten Kriegsdienstverweigerer aus Izmir eine mehrsprachige, türkisch-kurdisch-deutsche Zeitschrift gemacht, die „otkökü“, auf Deutsch „Graswurzel“. Wir wollten die „otkökü“ nicht nur als Extrablatt und Beilage der „Graswurzelrevolution“ in Deutschland verbreiten, sondern auch als Alternativzeitschrift in der Türkei.

Das war nicht möglich: In der Türkei sind 500 Exemplare der ersten Auflage direkt vom türkischen Zoll beschlagnahmt und ans Innenministerium nach Ankara geschickt worden. Das hing damit zusammen, dass wir mit der „otkökü“ Themen auf die Tagesordnung gesetzt haben, wie den bis heute von der Türkei geleugneten Völkermord, der 1915 an 1,5 Millionen Armeniern im Osmanischen Reich verübt wurde. Die „otkökü“ hat in acht Ausgaben die Situation der Kurdinnen und Kurden in der Türkei zum Thema gemacht, über die in der Türkei kriminalisierten Kriegsdienstverweigerer und die anarchistische sowie über die Schwulen- und Lesbenszene berichtet.

Die „otkökü“ hat also im Grunde nur Themen behandelt, die in der Türkei damals tabuisiert waren und die heute immer noch tabuisiert sind. Die Situation war dann aufgrund der Beschlagnahme der „otkökü“ so, dass wir die Zeitschrift nicht mehr in die Türkei schicken konnten, ohne dass das unseren Redakteur in Izmir akut gefährdet hätte. Deniz Yücel hat damals als Redakteur der linken Wochenzeitung „Jungle World“ darüber berichtet, als einer von leider nur wenigen Journalisten in Deutschland. Er hat mich damals interviewt und am 30. Mai 2001 erschien sein Bericht unter dem Titel „In der Türkei zensiert: otkökü“ in der „Jungle World“ (2). Seitdem stehen wir in Kontakt. Deniz Yücel zeigte sich 2001 solidarisch, als die „otkökü“ kriminalisiert wurde, wir zeigen uns heute solidarisch mit ihm. Das ist Gegenseitige Hilfe. Das ist Solidarität.

Ich bin kein Freund der Springerpresse, aber ich schätze die Artikel des Türkei-Korrespondenten der Springerzeitung „Welt“ sehr. Deniz Yücel ist einer der besten deutschen Journalisten, der sich in der Türkei aufhält. Er ist in Deutschland geboren, er spricht aber auch perfekt türkisch und kennt sich gut im Land aus. Vor allem ist er einer der wenigen Journalisten, der sich traut, Interviews mit PKK-Mitgliedern zu machen. Er ist einer, der den Finger in die offene Wunde des autoritären Regimes in der Türkei legt.

Er steht auch deshalb vor Gericht, weil er einen „Witz“ zitiert hat, der in der Türkei weit verbreitet ist. Der „Witz“ stammt nicht von ihm. Es geht da um den Hass türkischer Nationalisten auf Kurdinnen und Kurden. Es geht um die kurdenfeindliche Haltung des türkischen Staates und die Bösartigkeit von Nationalismus. Der Witz geht so:

„Ein Türke und ein Kurde werden zum Tode verurteilt. ‚Was ist dein letzter Wunsch?‘, wird der Kurde vor der Vollstreckung gefragt. Er überlegt kurz und sagt dann: ‚Ich liebe meine Mutter sehr. Bevor ich aus dieser Welt scheide, möchte ich noch einmal meine Mutter sehen.‘ Dann darf der Türke seinen letzten Wunsch äußern. Ohne zu zögern antwortet er: ‚Der Kurde soll seine Mutter nicht sehen.'“

Das ist kein Witz, sondern etwas, was einem im Halse stecken bleibt, weil es die Grausamkeit und Giftigkeit des nationalistischen Denkens aufzeigt. Die aufklärerische und antinationalistische Haltung, die auch durch solche Witze zum Ausdruck kommt, wurde Deniz Yücel unter anderem zum Verhängnis. Dafür wird er ernsthaft angeklagt als „Volksverhetzer“. Das Zitieren dieses in der Türkei gängigen Witzes entspricht aus Sicht der türkischen Staatsanwaltschaft dem Tatbestand der Volksverhetzung.

Gleichzeitig betreibt der türkische Staatschef reale Volksverhetzung, wenn er Deniz Yücel in seinen Reden als „terroristischen Spion“ diffamiert.

Das ist ein Skandal!

Dass Deniz Yücel Terrorismus vorgeworfen wird, ist ebenfalls realsatirisch. Was hat er tatsächlich gemacht? Er hat als Korrespondent der Welt- und N24-Gruppe ein Mitglied der PKK interviewt. In der Türkei gilt es offenbar schon als Terrorismus, wenn man mit PKK-Mitgliedern spricht. Das ist allerdings kein Terrorismus, das ist investigativer Journalismus, der aufklärt.

Deniz Yücel ist kein Einzelfall. In der Türkei ist die Situation seit dem Putschversuch im Sommer letzten Jahres dramatisch eskaliert. Es sind mehr als hunderttausend RegimekritikerInnen aus dem Staatsdienst entlassen worden, tausende Menschen wurden inhaftiert, oft, weil sie Menschenrechte einfordern und die AKP-Politik ablehnen. Momentan sind mindestens 153 Journalistinnen und Journalisten in der Türkei inhaftiert. Das ist Weltrekord, nicht in China, nicht in Saudi-Arabien, nirgendwo gibt es mehr Journalisten im Gefängnis als in der Türkei. Das ist ein Skandal!

Der NATO-Partner Türkei tritt die Menschenrechte mit Füßen.

Ein Grund dafür ist Erdogans Wille zu noch mehr Macht. Deshalb will er den seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustand legalisieren und zum dauerhaften „Normalzustand“ machen. Am liebsten wäre ihm totale Macht auf Lebenszeit, damit er für seine Kriegsverbrechen nie belangt werden kann.

Wenn am 16. April 2017 das sogenannte Präsidialsystem durchgesetzt wird, bedeutet das, dass die Türkei eine Präsidialdiktatur und der Ausnahmezustand zum „Normalzustand“ wird. Das wäre die Manifestierung einer Ein-Mann-Diktatur. Erdogan wird damit zum neuen Sultan.

Dabei hatten sich die ökonomische Situation und die Menschenrechtslage in der Türkei während des von der AKP zwischen 2002 und 2007 eingeleiteten Reformprozesses kurzzeitig tatsächlich verbessert. Die Todesstrafe, die die AKP jetzt wieder einführen möchte, wurde damals von ihr abgeschafft.

Deniz Yücel hat 2014 in der Edition Nautilus mit „Taksim ist überall“ ein Standardwerk über die Gezi-Park-Bewegung geschrieben. Im Istanbuler Taksim-Viertel kamen ökologische, feministische und sozialrevolutionäre Gruppen zusammen. Aus dem bunten Protest gegen die geplante Zerstörung des Gezi-Parkes zugunsten eines Konsumtempels erwuchs ein Hoffnungsschimmer für eine freiere, menschenfreundlichere Türkei. Spätestens seit der brutalen Repression gegen diese Neue Soziale Bewegung 2013 und seit der Wiederausweitung des Krieges gegen die Kurdinnen und Kurden ab 2015 ist die AKP und ihr selbst ernannter Reis (Führer) auf dem Weg Richtung Diktatur. Erdogan fürchtet nichts mehr als den Machtverlust. Er hat Angst, dass ihn seine langjährige Unterstützung der Terrororganisation IS, die Korruption und die von ihm zu verantwortenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach einem Machtverlust ins Gefängnis bringen.

Die Menschenrechtssituation ist vom AKP-Regime in den letzten Jahren auch deshalb dramatisch verschlechtert worden, weil die AKP ihre absolute Mehrheit verloren und die linke, pro-kurdische HDP bei den Wahlen die Zehn-Prozent-Hürde übersprungen hat. Um die HDP zu schwächen und die türkischen „Patrioten“ hinter sich zu versammeln, führt das Erdogan-Regime gegen die Kurden seit zwei Jahren wieder einen offenen Krieg. Die Kurdinnen und Kurden und alle, die „hayir“ (nein) zur Präsidialdikatur sagen, werden vom AKP-Führer als „Terroristen“ geschmäht.

Das schürt den Hass, das schürt den Nationalismus. Dagegen müssen wir uns stemmen, als Menschen, die für die Menschenrechte weltweit eintreten.

Und Deniz Yücel? Er wird von Erdogan als „deutscher Spion und Terrorist“ gegeißelt. Das ist lächerlich.

Deniz Yücel ist ein mutiger Mensch mit Sinn für Humor. Als Türkei-Korrespondent – ihr könnt seine Artikel auf der Homepage der „Welt“ nachlesen(3) – hat er aufklärerische Arbeit geleistet. Das Gefängnis, in dem er seit Mitte Februar sitzt, hat ihn nicht gebrochen. Er hat einen Brief an die „Welt“ geschrieben, den ich euch vorlesen möchte:

„Hallo Welt, nach 13 Tagen in Polizeihaft bin ich nun im Gefängnis Istanbul-Metris. Es mag sich merkwürdig anhören, aber mir kommt es so vor, als hätte ich ein kleines Stück meiner Freiheit zurückgewonnen: Tageslicht! Frische Luft! Richtiges Essen! Tee und Nescáfe! Rauchen! Zeitungen! Ein echtes Bett! Eine Toilette für mich alleine, die ich aufsuchen kann, wann ich will. Tagsüber – wenn ich will – Küche und Hof mit einer Handvoll politischer Häftlinge, abends eine Zelle für mich allein. Hier werde ich nicht lange bleiben, aber es ist okay. Und obwohl sie mich meiner Freiheit beraubt, bringen mich das Verhör und die Urteilsbegründung noch immer zum Lachen. Ich muss jetzt abbrechen. Aber ich danke allen Freunden, Verwandten, Kollegen, und allen, die sich für mich einsetzen. Glaubt mir: Es tut gut, verdammt gut. Herzlich, Deniz“

Wir fordern ein Ende aller Waffenexporte. Freiheit für alle inhaftierten Journalistinnen und Journalisten. Freiheit für alle politischen Gefangenen in der Türkei. Free Deniz! Freiheit für Deniz Yücel!

Bernd Drücke

(1) Kleiner Pressespiegel zum #FreeDeniz-Fahrradkorso:

WN, 8.3.
Radio Q
WN, 11.3.
Die taz hat am 10.3. auf der Titelseite einen Hinweis gebracht. Antenne Münster berichtete mehrmals vorab und sendete live aus der Demo. Das WDR Fernsehen (Lokalzeit Münsterland) machte die Demo am 10.3. zum Top-Thema.

(2) www.graswurzel.net/ueberuns/jungle.shtml

(3) https://www.welt.de/autor/deniz-yuecel/

Transkription der frei gehaltenen Rede: Eric Bäckermann
Mitschnitt der Rede: www.youtube.com/watch?v=wrpo5ns0eiM&feature=share