wir sind nicht alleine

„Dafür sorgen, dass etwas wächst“

Anett Keller und Yvonne Kunz im Gespräch mit der javanischen Umweltaktivistin Gunarti

| Interview: Anett Keller, Yvonne Kunz

Vom 24. April bis zum 12. Mai 2017 fand eine Roadshow durch zehn deutsche Städte statt, bei der der indonesische Dokumentarfilm "Samin vs Semen" (Regie: Dandhy Dwi Laksono) gezeigt wurde (1). Der Film informiert über Pläne, ein Karstgebiet in Zentraljava (Indonesien) auszubeuten und für Zementproduktion zu verarbeiten. Neben indonesischen Firmen will dort ein Tochterunternehmen des baden-württembergischen Konzerns HeidelbergCement eine Zementfabrik bauen. Von der lokalen Bevölkerung, die ihren Lebensunterhalt vor allem durch Landwirtschaft bestreitet, gibt es massiven Widerstand gegen die geplante Umweltzerstörung. Dieser Widerstand ist kreativ, ausdauernd, entschlossen und gewaltfrei. Stark geprägt werden die Proteste von einer anarchistisch lebenden indigenen Ökogemeinschaft, den Samin oder Sedulur Sikep, wie sich selbst nennen. Gunarti, die der Gruppe der Samin angehört begleitete die Film-Tour, um über ihre Erfahrungen im Widerstand zu berichten. Wie viele Javaner*innen hat Gunarti nur einen Namen. (GWR-Red.)

GWR: Magst Du dich unseren Leser*innen kurz vorstellen?

Gunarti: Ich gehöre zu den Sedulur Sikep [übersetzt: die Freundlich Gesinnten] und wohne im Dorf Sukolilo im Landkreis Pati, das ist in Zentraljava am Fuß des Kendeng-Karstgebirges. Ich bin verheiratet, mein Mann und ich haben drei Kinder. Meine älteste Tochter hat selbst schon einen Sohn.

Wir Sedulur Sikep leben ausschließlich von der Landwirtschaft. Wir glauben daran, dass die Erde uns alles gibt. Nicht nur uns, sondern auch anderen Menschen, die nicht zu unserer Gemeinschaft gehören. Die Mehrheit der Menschen bei uns am Kendeng-Gebirge sind Bauern und Bäuerinnen.

GWR: Was bedeutet Euch das Kendeng-Gebirge?

Gunarti: Das Kendeng Gebirge ist ein Karstgebirge, das sich über sieben Landkreise erstreckt. Unsere Vorfahren haben uns beigebracht, dass es wie ein Körper ist, der unversehrt bleiben soll.

Denn die Quellen des Gebirges speisen unsere Felder. Deswegen gilt Zentraljava als „Reisschüssel“ für wesentlich mehr Menschen als hier unmittelbar wohnen. Wir haben fruchtbares Land und das Kendeng Gebirge spendet uns das Wasser, was wir brauchen. Das Gebirge ist schon sehr alt. Neben der Bedeutung, die es für die Wasserversorgung hat, beherbergt es traditionsreiche Orte wie die Gräber unserer Vorfahren. Viele unserer Mythen und Rituale sind untrennbar mit dem Kendeng-Gebirge verbunden. Viele Menschen gehen zum Gebirge, um dort zu beten oder zu meditieren.

GWR: Du hast bei den Filmvorführungen in Deutschland immer ein Gefäß dabei, das Du Kendi nennst. Gibt es eine Verbindung zwischen den Worten Kendi und Kendeng?

Gunarti: Das traditionelle Trinkgefäß besteht aus Ton, also aus Erde.

Kendi ist eine Abkürzung für Worte, die bedeuten, dass wir unsere Traditionen erhalten sollten. Unsere Vorfahren haben uns beigebracht, dass es das ist, was wir tun sollten. Kendeng bedeutet eigentlich teken und dengar.

Teken bedeutet so viel, wie an den eigenen Werten festhalten.

Deng ist verkürzt für dengar, das heißt zuhören. Ohne Zuhören gibt es kein Verstehen.

GWR: Die Sedulur Sikep haben eine sehr eigene Lebensweise im Vergleich zur indonesischen Mehrheitsgesellschaft. Kannst Du uns mehr darüber erzählen?

Gunarti: Wir gehören zum Beispiel keiner der in Indonesien anerkannten Mehrheitsreligionen an. Unsere Religion nennen wir Adam. Adam heißt so viel wie „das Wort“ oder etwas auszudrücken. Wer unseren Werten folgt, der folgt fünf Prinzipien, die adeg-adeg heißen: Keine formale Schulbildung: die Eltern bringen den Kindern Lesen und Schreiben und alles Weitere bei, was sie zum Leben brauchen. Uns geht es darum, dass unsere Kinder aufrichtige Menschen werden. Wir streben nicht nach höherem Rang, nicht nach Ämtern und nicht nach viel Geld.

Wir sind Bauern und wollen es bleiben. Alles was unsere Kinder dafür brauchen, können wir ihnen selber beibringen.

Handel treiben ist nicht erlaubt: wir leben von der Landwirtschaft oder von anderer körperlicher Arbeit, es geht darum, mit der eigenen Kraft etwas zu schaffen. Wir verachten Gewinne aus reinen Handelsgeschäften, weil wir sie für unehrlich halten. Wenn wir Waren verkaufen die wir nicht selbst produziert haben, dann nur zum gleichen Preis, wie wir sie bekommen haben, oder sogar für weniger.

Männer wie Frauen tragen bei uns keine langen Hosen. In der Kolonialgeschichte waren es die Bauern, die bei der Feldarbeit kurze oder halblange Hosen trugen, während die niederländischen Kolonialbeamten lange Hosen trugen. Bis heute sind die kurzen Hosen ein Ausdruck dafür, dass wir Bauern sind und es bleiben wollen und nicht nach höherem Rag streben. Außerdem tragen wir oft schwarze Kleidung, vor allem auf unseren traditionellen Festen und wenn wir Gäste empfangen oder auf Reisen gehen.

Wir tragen keine Hüte oder Kappen, auch das ist traditioneller Ausdruck der Opposition gegen die Kolonialregierung weil deren Beamte Hüte trugen.

Polygamie ist bei uns nicht erlaubt.

GWR: Was ist, wenn ein Kind unbedingt eine staatliche Schule besuchen will, wird es dann aus der Gemeinschaft ausgeschlossen?

Gunarti: Das bedeutet letztlich, dass dieser Mensch kein Sedulur Sikep mehr ist. Aber wir schließen diese Menschen nicht aus. Wir wollen das gern den Menschen selbst überlassen, dass sie ihre Erfahrungen machen und selber herausfinden, wohin sie gehören. Manche haben staatliche Schulen ausprobiert und schnell gemerkt, wie sie dort unter Zeitdruck gesetzt werden. Staatliche Schulen sind keine Orte, die unsere Werte vertreten. Es geht uns nicht darum, den Staat generell abzulehnen. Aber wir lehnen ein ungerechtes Herrschaftssystem ab. Wir möchten uns keine Dinge aufzwingen lassen, die wir nicht brauchen. So lassen wir uns zum Beispiel Ausweispapiere nur ausstellen, wenn wir sie wirklich brauchen. Eheschließungen, Geburten und Todesfälle werden bei uns nicht staatlich registriert und auch nicht von religiösen Institutionen. Früher während der Diktaturzeit [1965 – 1998, vgl. Anett Keller (Hg.): Indonesien 1965ff. – Die Gegenwart eines Massenmordes, regiospectra 2015] gab es noch einen starken Zwang zur staatlichen Registrierung und zur staatlichen Schulbildung. Es kamen auch immer wieder Beamte, die uns drohten und versuchten, uns eine Registrierung und eine der in Indonesien anerkannten Religionen aufzuzwingen. Inzwischen ist das etwas gelockert worden und wir müssen zum Beispiel, wenn wir einen Personalausweis beantragen, in der Spalte Religion nichts mehr eintragen.

GWR: Kannst du etwas mehr über die Geschichte der Samin/Sedulur Sikep erzählen? Wie lange gibt es eure Gemeinschaft schon?

Gunarti: Unsere Gemeinschaft entstand um 1890 herum. Sie wurde begründet von Samin Surosentiko. Er stammte aus einer adligen Familie, setzte sich aber von seinem Umfeld ab, weil er sah, wie viele Menschen unter der niederländischen Kolonialmacht litten, die wiederum mit den lokalen Feudalherren zusammen arbeitete. Er lebte fortan als Bauer unter Bauern. Am Anfang des 20. Jahrhunderts wollte die Kolonialregierung neue Steuern einführen, die die Bauern zahlen sollten. Samin verweigerte diese Steuern und viele Menschen schlossen sich ihm an.

Sie verteidigten ihr Recht auf Land und Nahrung und sie verweigerten auch Arbeitsdienste für die Kolonialregierung, wie z.B. Straßenbau und Nachtwachen. Samin wurde schließlich zum Ratgeber für viele, die der Unterdrückung entkommen wollten. So entstand die schnell wachsende Bewegung der „Freundlich Gesinnten“ was die Holländer zunehmend nervös machte. Samin wurde schließlich als Provokateur verhaftet (1907) und nach Sumatra verbannt, wo er (kurze Zeit später) starb. Sein Nachfolger war sein Schwiegersohn, Surokidin, der unsere Gemeinschaft anführte, als Indonesien [1945] die Unabhängigkeit erlangte.

GWR: Wie werden die Traditionen bei den Sedulur Sikep erhalten?

Gunarti: Die Eltern erzählen ihren Kindern von unseren Traditionen, so werden Werte und Prinzipien weiter gegeben. Wir erzählen ihnen von Indonesiens Geschichte, die eine Geschichte der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist. Wir erzählen ihnen, dass die Formen der Ausbeutung sich gewandelt haben, früher waren es die Kolonialherren, jetzt sind es unsere eigenen Landsleute. So lange das anhält, sind wir als Menschen nicht wirklich unabhängig.

GWR: Wir haben in den letzten Wochen häufiger über Anarchismus gesprochen. Auf der Roadshow haben wir dich häufig als Mitglied einer anarchistisch lebenden Ökogemeinschaft angekündigt?

Würdest Du das für dich selbst auch so formulieren?

Gunarti: Es gibt sicher Ähnlichkeiten, aber wir lehnen den Staat nicht völlig ab. Wir erwarten nur, dass der Staat den Menschen dient und nicht umgekehrt. Gesetze sind nicht per se schlecht. Aber sie werden zu oft missbraucht.

Menschen missbrauchen ihre Ämter im Wissen, dass sie gegen Gesetze verstoßen. Wir sehen unseren Widerstand also als Erinnerung an den Staat, dass er für die Einhaltung der Regeln sorgen sollte. Und bevor Regeln gemacht werden, müssen die Menschen, die es betrifft, gefragt werden und es muss gemeinsam entschieden werden, was für alle Betroffenen das Beste ist.

GWR: Im Film „Samin vs Semen“ geht es um Zementvorhaben in der Kendeng-Region und Widerstand gegen diese Vorhaben. Warum richtet ihr euch so entschieden gegen die Pläne der Zementindustrie?

Gunarti: Wir befürchten, dass unsere Lebensgrundlage völlig zerstört wird. Das Leben der Pflanzen, der Tiere und der Menschen in der Region. Die Zementfabriken, angefangen vom Staatsunternehmen Semen Indonesia [am Standort Rembang], bis zu Indocement (HC) [am Standort Pati], wollen alle am Kendeng-Karst Material für die Zementproduktion abbauen. Dieser Karst enthält aber die Lebensadern für unsere Felder in Form von unterirdischen Wasserquellen. Menschliches Leben braucht Land und Wasser. Genau das wird uns von den Zementfabriken genommen. Auch die Menschen vor Ort, die keine Bauern sind, sind von Land und Wasser abhängig, das ihre Nahrung sichert.

Unsere Vorfahren haben uns beigebracht, dass wir die Umwelt schützen müssen, dass Zentraljava eine wichtige Stütze der Nahrungsmittelversorgung ist – dies darf nicht durch die Zementwerke zerstört werden.

Es geht nicht nur um unser Leben jetzt, es geht auch um die nach uns kommenden Generationen. Land ist keine Ware für die Profitsteigerung, es ist da, um Menschen zu ernähren. Unser erster Präsident Sukarno hat nach der Unabhängigkeit gesagt, „Nun sind wir ein freies Land. Ich übergebe euch Bauern dieses Land, kümmert euch gut darum, damit es nicht wieder in fremde Hände gerät.“ Doch was passierte, war, dass es neue Kolonialherren gab, die nun unsere Hautfarbe hatten. Sie haben die Unabhängigkeit Indonesiens verraten. Sie machen Gesetze, die nicht dem Volk dienen, sondern ihnen selbst (2).

GWR: Im Film wird deutlich, dass der Widerstand gegen die Zementfabrik nun schon mehrere Jahre währt. Kannst du uns was zu den Anfängen und dem Verlauf des Widerstands erzählen?

Gunarti: Unser erster Widerstand war, dass wir unser Land nicht verkauften. Wir sind durch die Dörfer gegangen und informierten die Menschen über die schlimmen Folgen, die eine Zementfabrik in unserer Gegend hätte.

Wir sprachen mit dem Landrat von Pati [Landkreis, in dem Gunarti lebt] und sagten ihm, dass wir nicht einverstanden sind mit der Zementfabrik und dass er seine Einwilligung nicht erteilen dürfe. Doch er hörte nicht auf die Menschen in seinem Landkreis. Er erteilte der Firma Indocement [im Mehrheitsbesitz von HeidelbergCement] eine Genehmigung für ein Areal von 180 Hektar, obwohl dieses Areal im Besitz von 560 Familien ist.

Wir haben viel in unserem Nachbarlandkreis Rembang gelernt. Dort baut derzeit das Staatsunternehmen Semen Indonesia eine Zementfabrik. Der Planungsprozess für das Vorhaben in Rembang lief völlig intransparent, die Bevölkerung wurde kaum informiert und viele Menschen verkauften in der Hoffnung auf schnelles Geld ihr Land. Seit der Grundsteinlegung zur Erbauung der Zementfabrik dort in Rembang, gibt es energischen Protest. Es gab Straßenblockaden, ein Protestzelt vor dem Fabrikgelände, das dort beinahe drei Jahre lang ständig besetzt war.

Wir gründeten eine Bürgerinitiative und führten zahlreiche Gerichtsverfahren gegen die Zementfirmen an beiden Standorten, Rembang und Pati. Vor dem Obersten Gericht haben wir gegen Semen Indonesia (Standort Rembang) gewonnen. Doch das Unternehmen baut einfach weiter. Laut diesem Gerichturteil wurde die Umweltverträglichkeitsprüfung fehlerhaft durchgeführt und somit annulliert.

Jedoch umging der Gouverneur von Zentraljava dieses Urteil indem er der Zementfirma eine neue Umweltgenehmigung ausstellte.

Am Standort Pati hat Indocement gewonnen. Doch wir werden das Verfahren mit neuen Beweisen wieder aufrollen.

GWR: Eure Aktionen zeichnen sich durch große Kreativität aus. Kannst Du ein paar davon genauer beschreiben und auch, was ihr damit erreicht habt?

Gunarti: Unsere Aktionen sind gewaltfrei und erfahren viel Solidarität. So sind wir zum Beispiel fünf Tage lang zu Fuß in unsere Provinzhauptstadt Semarang gelaufen, wo ein Gerichtsurteil bezüglich der Umweltverträglichkeitsprüfung für das Vorhaben in Rembang erwartet wurde. Der Marsch lief unter dem Motto: „Kendeng holt die Gerechtigkeit ab.“ Etwa 200 Menschen sind bei dieser Aktion dabei gewesen, von Kindern bis zu Greisen. Und an vielen Orten, durch die wir kamen, haben sich noch spontan Menschen angeschlossen.

Im April 2016 haben sich neun Frauen aus dem Kendeng Gebirge vor dem Präsidentenpalast [in Jakarta] die Füße einzementieren lassen. Symbolisch brachten sie zum Ausdruck, wie sehr die Zementvorhaben sie und ihre Nachfahren lähmen würden. Später gab es ein Protestzelt, das wir für eine Woche vor dem Präsidentenpalast aufbauten.

Am Ende versprach der Präsident, uns zu treffen, was er schließlich Anfang August auch tat. Er versprach, die Befürchtungen der Anwohnerinnen und Anwohner ernst zu nehmen und eine umfangreiche Umweltstudie am Kendeng-Gebirge vornehmen zu lassen, die sechs Monate bis ein Jahr dauern sollte. Für diesen Zeitraum untersagte der Präsident jede weitere Genehmigungsvergabe, Bautätigkeit von Fabriken sowie Bergbau am Kendeng-Gebirge.

Doch der Fabrikbau in Rembang ging ungeachtet dieses Moratoriums einfach weiter. Deswegen haben wir die Aktion mit den einzementierten Füßen im März 2017 wiederholt, diesmal aber mit 50 Menschen und zehn Tage lang. Gleichzeitig kam das erste Ergebnis der Umweltstudie heraus, was die Empfehlung erhielt, keinen Bergbau am Kendeng-Gebirge zu betreiben.

GWR: Im Film „Samin vs Semen“ sieht man vielen Frauen, die in den vordersten Reihen des Widerstands stehen. Ist das Zufall oder Strategie?

Gunarti: Wir Frauen vom Kendeng Gebirge sind uns sehr bewusst, was auf dem Spiel steht, wenn die Zementfabrik entsteht. Wir brauchen das Wasser aus unseren Quellen, für die Felder und für unsere Haushalte.

Das heißt, es geht uns direkt etwas an, was mit dem Wasser passiert. Es gibt aber noch den zweiten Grund, nämlich, dass wir die Gewaltfreiheit in unserem Kampf erhalten wollen. Anfangs standen die Männer bei Protesten ganz vorn und es gab immer wieder gewaltsame Übergriffe auf sie, von staatlichen Sicherheitskräften oder bezahlten Schlägerbanden. Deswegen entschieden sich die Frauen schließlich, dass sie auch nach vorn gehen, im Wissen, dass wir gemeinsam unsere Erde schützen müssen.

Wir haben eine Frauengruppe gegründet, die sich jeden ersten Tag des Monats trifft. Auf diesen Treffen informieren sich die Frauen der sieben Landkreise, die von den geplanten Zementfabriken betroffen sind, über den Stand der Dinge und bereiten gemeinsam Aktionen vor.

GWR: Gibt es noch weitere Aktionen, neben dem Protest gegen die Zementfabrik, die ihr in der Frauengruppe plant?

Gunarti: Ich selbst interessiere mich sehr für alternative Heilmethoden und möchte das Wissen über Heilpflanzen erhalten. Deswegen habe ich begonnen, in diesen Treffen die Herstellung traditioneller Medizin zu fördern.

Im Kendeng-Gebirge wachsen zahlreiche wilde Heilkräuter und wir bauen zusätzlich auf einem halben Hektar Fläche Heilpflanzen an, zum Beispiel verschiedene Ingwer- und Kurkuma-Arten. Ich sehe in der Alternativmedizin einen Teil unseres Kampfes gegen die kapitalistische Ausbeutung. Wenn wir uns selber heilen können, sind wir weniger abhängig von der Pharmaindustrie. Und das Geld, das wir mit dem Verkauf unserer Naturheilmittel verdienen, fließt in die Gemeinschaftskasse, aus der wir den Kampf gegen die Zementfabriken mit finanzieren.

GWR: Du warst gerade drei Wochen in Deutschland unterwegs, um hier den Kampf gegen die Zementindustrie weiter zu führen. Wie kam es zu dieser Reise und was hast Du unterwegs erlebt?

Gunarti: Es begann alles mit einem Anruf vor ein paar Monaten und der darin ausgesprochenen Einladung nach Deutschland. Ich musste kurz überlegen und mit meiner Familie und unserer Bürgerinitiative sprechen und fragen, was sie davon halten, dass ich diese weite Reise mache.

Wir alle fanden es richtig, dass der Kampf nach Deutschland getragen wird, weil es um ein Unternehmen geht, das hier in Deutschland seine Konzernzentrale hat. Ich war unsicher, was diese Reise angeht und konnte mir zunächst nicht vorstellen, wie das hier ablaufen würde, auch weil ich zuvor noch nie im Ausland war. Ich hatte ja noch nicht einmal eine Geburtsurkunde, geschweige denn einen Pass. Das musste alles erst mal beantragt werden. Aber ich dachte mir, wenn es unserer Umwelt nutzt, dann mach ich das alles.

Zugleich wurde ja auch Dandhy Dwi Laksono, der Regisseur des Films „Samin vs Semen“, eingeladen und ich war erleichtert, dass wir gemeinsam nach Deutschland reisen können.

GWR: Was ist dein Eindruck vom Leben in Deutschland im Vergleich zu deinem Leben in Indonesien?

Gunarti: Ich hatte zuvor viel gehört davon, dass Deutschland ein sehr geordnetes Land ist. Die Menschen hier sind wirklich sehr diszipliniert, was Zeit angeht.

Selbst die Zeit zum Ausruhen scheint von Uhren und Kalendern vorgegeben zu sein und nicht davon, wann ein Körper Erholung braucht. Was mir auffiel war, dass es auf Bahnhöfen oder in Geschäften kaum noch Angestellte gibt, die man etwas fragen kann. Alles scheint dort maschinell geregelt. Auch im privaten Umfeld, die Wäsche wird von Maschinen gewaschen, sogar das Geschirr.

Ich habe mich gefragt, ob man anstatt der Maschinen nicht mehr Menschen beschäftigen könnte. Die Maschinen scheinen die Menschen stark unter Druck zu setzen, viele Menschen hier wirken auf mich sehr gehetzt.

Vielleicht möchten auch deshalb nur noch wenige Menschen hier Bauern werden und harte körperliche Arbeit verrichten: weil es das Gefühl gibt, dass es für alles schon Maschinen gibt.

Ich hatte den Eindruck, es gibt riesige Flächen, die für Landwirtschaft genutzt werden könnten, aber leer stehen. Mir scheint, dass hier nur noch sehr wenige Menschen etwas über Landwirtschaft und ihre Nahrungsrundlagen wissen. Ich habe manche Menschen danach gefragt, woher ihr Trinkwasser kommt, da haben sie gesagt: „Aus dem Wasserhahn.“

Hier gibt es viel Wohlstand, viele Menschen wohnen in großen, bequemen Wohnungen. Aber für die müssen sie viel Geld bezahlen und dafür hart arbeiten, hat man mir erzählt. Das ist wohl auch der Grund, warum die Menschen hier so wenige Kinder haben. Es scheint zu teuer zu sein, Nachwuchs zu bekommen.

Ich habe viele Widersprüche gesehen. Wohnungen stehen leer, während Menschen auf der Straße leben müssen. Mich haben all diese Erfahrungen darin bestärkt, dass es wichtig ist, unsere Traditionen zu bewahren. Wir haben zwar keinen Reichtum. Aber wir haben alles, was wir brauchen, um satt und zufrieden zu sein. Und das, was wir haben, gehört uns wirklich.

GWR: Es gibt auch in Deutschland alternative Bewegungen, wie zum Beispiel solidarische Landwirtschaft, eine davon, den Sophienhof in Oldendorf bei Bremen, hast Du besucht.

Gunarti: Ich war sehr erfreut über diese Begegnungen und darüber, dass es junge Leute gibt, die in Verbundenheit mit der Natur leben und hart arbeiten wollen, obwohl sie das Land nicht einmal selbst besitzen. Mir schienen diese Menschen sehr zufrieden zu sein, irgendwie entspannter als die Menschen in den Städten.

GWR: Während der Filmtour bist Du vielen Menschen begegnet. Viele dieser Menschen haben sich mit dir und deinen Freund*innen am Kendeng-Gebirge solidarisch erklärt. Wie hast Du diese Begegnungen erlebt?

Gunarti: Ich bin sehr berührt von den Begegnungen, die ich in Deutschland hatte. Es war, als würde ich alte Freunde treffen, die ich schon lange kenne. So viele Menschen haben uns geholfen, uns eingeladen, uns begleitet und öffentlich ihre Solidarität demonstriert. Wir sind gemeinsam zur 1. Mai-Demonstration in Berlin gegangen, mit einem großen Transparent.

Wir sind durch zehn Städte gereist, haben dort den Film „Samin vs Semen“ gezeigt und mit den Menschen diskutiert, darunter auch viele Indonesier*innen. Mein Wunsch war es, dass Menschen, die den Film sehen, in sich gehen, dass sie darüber nachdenken, warum unsere Erde schützenswert ist und wie wir sie schützen können.

Die kritischen Aktionäre haben mich eingeladen, auf der Aktionärsversammlung (AV) von HeidelbergCement (HC) zu sprechen, das war für unsere Bewegung wichtig. Denn es ist das Tochterunternehmen von HC, das unsere Lebensgrundlagen bedroht, deswegen sollten die Aktionäre das wissen. (3).

Was mich sehr berührt hat war, dass meine Freunde hier in Deutschland mir viel Kraft gegeben haben, indem sie draußen vor der AV eine Protestkundgebung veranstaltet haben, bei der sich fünf von ihnen sogar die Füße einzementieren ließen. Wir haben dort sehr emotionale Momente miteinander erlebt, haben zusammen geweint, zusammen gelacht und zusammen gesungen. Dass sich Menschen hier derart für etwas einsetzen, von dem sie nicht direkt betroffen sind, hat mich bewegt. Viele haben gesagt, sie fühlten sich verantwortlich, hier in Deutschland etwas zu tun, weil es ein deutsches Unternehmen ist. Im Namen meiner Freunde vom Kendeng Gebirge möchte ich mich herzlich bedanken, für all das, was ihr in Deutschland für uns getan habt (4).

GWR: Wie hast Du die Aktionärsversammlung erlebt? Haben sich deine Hoffnungen erfüllt?

Gunarti: Unsere große Hoffnung, dass das Unternehmen sich aus dem Kendeng Gebirge zurückzieht, hat sich noch nicht erfüllt. Aber zumindest konnte ich direkt mit den Aktionären und mit dem Vorstand sprechen und ihnen vor Augen führen, welche Auswirkungen ihr Handeln hat.

Das haben sie auf diesem direkten Weg ja noch nicht erfahren. Und vielleicht denkt der eine oder andere Aktionär jetzt zweimal nach, ob er wirklich Aktien von diesem Unternehmen besitzen will, das so viel Leid über Menschen bringt.

GWR: Wie haben die Aktionäre und der Vorstand reagiert?

Gunarti: Sie waren überrascht. Ein Aktionär hat spontan das Wort ergriffen und gesagt, dass er wirklich schockiert ist über das Vorgehen des Unternehmens und dass wir doch alle wissen, wie dauerhaft die Zerstörung von Landschaften ist. Die Vorstandsmitglieder sagten, sie wüssten noch nicht mal genau, ob überhaupt eine Fabrik gebaut werden soll.

Sie haben selbst zugegeben, dass es derzeit in Indonesien bereits eine Überkapazität in der Zementproduktion gibt. Sie haben aber immerhin versprochen, mit ihrem Tochterunternehmen Indocement über unsere Vorwürfe zu sprechen.

GWR: Was ist deine Hoffnung?

Gunarti: Das Land am Kendeng-Gebirge ist unser Land. Es soll unser Land bleiben. Wir sind seit Generationen Bauern und wir wollen es bleiben. Wir wehren uns nicht gegen die Fabrik oder die Regierung, weil wir sie hassen. Sie sollen uns einfach nur in Ruhe lassen. Dann lassen wir sie auch in Ruhe.

GWR: Worauf freust Du dich am meisten, wenn Du wieder zu Hause in Sukolilo bist?

Gunarti: Vor allem natürlich auf meine Familie. Und ich freu mich darauf, meiner Familie, meiner Bürgerinitiative und unserer Frauengruppe von allem zu berichten, was mir in Deutschland widerfahren ist. Die Reise durch Deutschland war eine große Bereicherung. Ich bin physisch zwar erschöpft, habe aber durch all die Solidarität enorm viel Energie bekommen. Es gibt viel zu erzählen. Dann freue ich mich darauf, wieder auf die Felder zu gehen, zu pflanzen und dafür zu sorgen, dass etwas wächst.

Interview: Anett Keller, Yvonne Kunz

(1) Mit deutschen Untertiteln hier zu sehen: https://www.youtube.com/watch?v=EUE9D0wzJ3s&feature=youtu.be

(2) vgl. Vergessen gemachte Geschichte, Vor 50 Jahren wurden in Indonesien bis zu drei Millionen Menschen ermordet. Ein Interview von Bernd Drücke mit Anett Keller, in: GWR 404, Dezember 2015, http://www.graswurzel.net/404/indonesien.php. Eine aktualisierte und um weitere Fragen und Antworten erweiterte Version des Interviews findet sich in dem Buch: Bernd Drücke (Hg.): Anarchismus Hoch 3. Utopie, Theorie, Praxis. Interviews und Gespräche, Unrast, Münster, Oktober 2016, S. 153-168

(3) Gunartis Rede: http://www.paxchristi.de/file/download/AMIfv942bwqGrPtY0f4JVIidKwF7sFrHAxkq60NH0mQONC7Tj8ro-ZfqyM4N7K9WKa3ykPjYAk4W3fZJlrdCMiCZiFDSpLpmT-D249ia7epOqgARSwE8wmjLXxvYHon34iLsMLvtPx1MOj0PjG3gkmdyUQ93MojIKZ5txkELNNOw2PZ5U9stApQ/Gunarti_Rede.pdf

(4) Video von der Roadshow: https://www.youtube.com/watch?v=9AkKXJ1IXz0

Anett Keller ist freie Journalistin und Vorstandsmitglied der Südostasien-Informationsstelle. Sie ist Herausgeberin des Buches "Indonesien 1965ff. - Die Gegenwart eines Massenmordes", regiospectra 2015

Yvonne Kunz ist promovierte Geografin und derzeit Referentin für Umwelt und Klima bei Watch Indonesia! Beide haben Gunarti während ihrer Reise durch Deutschland begleitet.