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Wenn die Revolution nicht warten kann…

Wie Ende Gelände den Aufstand erprobt und Klimagerechtigkeit erfahrbar macht

| Mattis Berger

Früh morgens, bei eisiger Kälte und Dunkelheit, versammeln sich am 5. November 2017 bunt gekleidete Gruppen von Menschen am Bahnhof von Bonn, wo tags darauf die 23. UN-Klimaverhandlungen beginnen sollen. Gemeinsam treten sie eine Reise an: hinein ins Epizentrum der Zerstörung, in die Kohlegruben des Rheinlandes, der größten CO2-Quelle Europas.

Nach der Anreise in das kleine Städtchen Buir, in unmittelbarer Nähe der Kohlegrube Hambach, starten über 4000 Menschen aus zahlreichen Ländern tanzend, singend und mit lauten Rufen nach Klimagerechtigkeit zunächst als Demozug in Richtung Grube. Gemeinsam machen sie die Novemberaktion zu einem Fest der transnationalen Solidarität und lassen durch ihre Blockaden und gegenseitige Unterstützung Klimagerechtigkeit erfahrbar werden. Kurz nach Verlassen von Buir brechen erste Finger, farblich unterschiedene Aktionsgruppen bestehend aus mehreren hundert Aktivist*innen, aus dem Demozug aus und machen sich über Feldwege auf in Richtung des RWE-Betriebsgeländes.

Vier solcher Finger gelangen an diesem Tag in die Kohlegrube Hambach. Tausende stellen sich dort mit ihren Körpern der Zerstörung und Profitgier entgegen und legen so drei Kohlebagger bis in die späten Abendstunden lahm. Sie zeigen: Kohleausstieg bleibt Handarbeit – das Klima wird in der Grube verhandelt, nicht an Verhandlungstischen in Bonn, wo Profitinteressen der Konzerne Vorrang vor der Rettung der Lebensgrundlage von Mensch und Umwelt haben.

Die Aktion schlägt ihre Wellen:

Medien von den Aachener Nachrichten, über das ZDF, bis zum britischen Guardian berichten über die mutigen Aktivist*innen und greifen die Botschaft auf: Deutschland ist ein Kohlemonster und kein Klimavorreiter, wie auf internationaler Bühne so oft verkündet. Gerne hätte die deutsche Verhandlungsdelegation diesen Fakt wohl verdeckt gehalten. Doch zusammen mit vielen weiteren Protestaktionen, die während der Klima-Konferenz stattfanden (vgl. GWR 424) hat Ende Gelände mit der massenhaften Blockade der Kohlegrube einen gehörigen Beitrag dazu geleistet, Deutschlands Regierung an den Verhandlungstischen zu blamieren und ihre Doppelstandards zu entlarven. Doch warum sieht Ende Gelände zivilen Ungehorsam unter den gegebenen Umständen als unentbehrlich an und welche Perspektiven eröffnen sich dadurch?

Nach 22 Jahren falscher Hoffnung

Im Rahmen der UN-Klimaverhandlungen verhandeln nationalstaatliche Regierungen nun bereits seit 22 Jahren über Maßnahmen zur Begrenzung des Klimawandels – ohne dass dabei zumindest eine reale Reduzierung der globalen CO2 Emissionen erreicht worden wäre. Stattdessen überbietet man sich dort mit kreativen Ideen, wie die Natur noch besser in Wert gesetzt und neue Profitquellen erschlossen werden können.

Sei es durch den Handel mit CO2-Zertrifikaten, Aufforstungsprojekte zum CO2-Ausgleich, oder jüngste Pläne zu Klimaversicherungen.

Solche auf Marktmechanismen beruhenden (Schein-)Lösungsansätze ebnen lediglich einem „Grünen Kapitalismus“ den Weg, der versucht sich selektiv der CO2-Reduzierung anzunehmen, jedoch weiter einem Wachstumszwang und der damit einhergehenden unbegrenzten Ausbeutung materieller und menschlicher Ressourcen unterliegt.

Der Gerechtigkeitsfrage, die den Kern der Auseinandersetzungen der Klimagerechtigkeitsbewegung bildet, wird hingegen im „Grünen Kapitalismus“ überhaupt keine Aufmerksamkeit geschenkt. Vielmehr werden durch Maßnahmen wie die zuvor genannten Aufforstungsprojekte neue Ungerechtigkeiten produziert, wenn zu deren Realisierung Kleinbauer*innen vertrieben und dadurch ihrer Lebensgrundlage beraubt werden.

Quer gestellt

In den Ende Gelände Aktionen stellen Menschen sich diesen Ungerechtigkeiten mit ihren verletzlichen Körpern direkt in den Weg und machen dadurch deutlich, dass sie diese nicht länger hinnehmen wollen.

Mit dieser entschlossenen Haltung setzen sie ein klares Zeichen für den sofortigen Kohleausstieg und für ein Klima der Gerechtigkeit. Sie nehmen dabei auch in Kauf Gesetze zu brechen und sehen dies als ein legitimes Mittel, um der Zerstörung des Raubtierkapitalismus Einhalt zu gebieten. Denn staatliche Parlamente und Regierungen, die diese Gesetze erlassen und umsetzen, delegitimieren sich selbst, wenn sie durch ihre Entscheidungen Millionen Menschen die Lebensgrundlagen entziehen und zur Bedienung von Profitinteressen Menschenleben billigend in Kauf nehmen.

Die grundlegenden Probleme dieser Menschheit lassen sich daher nicht innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung lösen, die für ein solches Handeln die Anreize setzt.

Ein italienischer Aktivist, der sich an der Ende Gelände Aktion im November beteiligte, kommt in seiner Reflektion zum zivilen Ungehorsam in der Kohlegrube daher zu dem Schluss „capital vs. life is the new capital vs. work“. (1)

Unsere Alternative heißt Solidarität

Die kapitalistische Zerstörung wird durch sich wechselseitig bedingende gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen ermöglicht. Gleichermaßen intersektional und thematisch breit aufgestellt ist jedoch auch der Widerstand durch Ende Gelände. Wie das Workshop-Angebot auf den Klimacamps, oder die Banner und Sprechchöre auf den Ende Gelände Aktionen zeigen, kommt hier die Forderung nach einem sofortigen Kohleausstieg zusammen mit beispielsweise antirassistischen Kämpfen zur Überwindung staatlicher Grenzen und gegen patriarchale Unterdrückungsstrukturen.

Denn allen ist das Bewusstsein gemein, dass es innerhalb des ungerechten kapitalistischen Weltsystems keine gerechten Teillösungen geben kann. In diesem Sinne hat sich der intersektionale, themenübergreifende Kampf für Klimagerechtigkeit, der bei Ende Gelände durch Aktionen massenhaften zivilen Ungehorsams zum Ausdruck kommt, als eine der zentralen Auseinandersetzungen der heutigen Zeit mit dem Ziel der Überwindung des Kapitalismus herausgebildet.

„Wir ertrinken nicht, wir kämpfen!“

Zugleich zeigen die Aktionen von Ende Gelände aber auch, dass diese Auseinandersetzung nicht auf einen alles entscheidenden Tag X verschoben werden kann. Dies machen die dramatischen Berichte der Pacific Climate Warriors, eine Gruppe von Klimaaktivist*innen aus dem Pazifik, zu der Lage auf ihren Inseln eindrücklich deutlich. Es braucht sofortige Maßnahmen auch innerhalb der bestehenden Herrschaftsordnung, um die schlimmsten sozialen Konsequenzen durch den Klimawandel zumindest abzufedern.

Um diese zu erreichen folgen die Pacific Climate Warriors ihrem Motto: „we are not drowning, we are fighting!“.

Für sie und ihre Familien, genauso wie für Millionen von Menschen an vielen Orten dieser Welt, ist der Klimawandel schon heute eine Realität, die ihre Lebensgrundlagen und ihr Leben akut bedroht. Soziale Bewegungen müssen Parteien und Regierungen daher vor sich hertreiben und zum Handeln zwingen. Nur so können die zerstörerischen Auswüchse des Kapitalismus in Schranken gewiesen und existentielle, realpolitische Verbesserungen erkämpft werden, die zugleich neue Handlungsoptionen eröffnen, die über das bestehende System hinausweisen.

Für eine bessere, solidarischere Welt

Ende Gelände und die Klimacamps zeigen auch, dass wir nicht bis zur Überwindung des Kapitalismus warten müssen, um eine bessere, solidarischere Welt aufzubauen. Das Konzept der präfigurativen Politik beschreibt, dass schon im hier und jetzt Alternativen erprobt und gelebt werden können und diese so auch zum Aufbau eines gegenhegemonialen, solidarischen Projekts beitragen. Sowohl durch kollektive konsensorientierte Entscheidungsfindungsverfahren, durch die gleichmäßige(re) Verteilung und Wertschätzung von Care Arbeit, durch einen achtsamen Umgang miteinander, als auch durch solidarische Unterstützungsstrukturen während, als auch nach den Aktionen, wird die bessere Welt schon mal erprobt und wichtige Fähigkeiten auf dem Weg dorthin erlernt. Dabei wird mensch sicher nicht immer den eigenen Ansprüchen gerecht. Ende Gelände ist auch ein kollektiver Lernprozess, wie eine solidarischere Welt der Zukunft gestaltet werden könnte. Die niedrigschwelligen Aktionen massenhaften zivilen Ungehorsams ermöglichen es dabei jedes Mal erneut zahlreichen neuen Menschen Teil dieses kollektiven Prozesses zu werden, sich in ihn mit einzubringen, ihn zu gestalten und dadurch gesellschaftliche Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen.

Transnationale Solidarität für Klimagerechtigkeit

Ein weiteres Element dieser präfigurativen Ordnung, zu der Ende Gelände beitragen möchte, ist die gelebte transnationale Solidarität. Rund die Hälfte aller Teilnehmenden kamen im November aus dem Ausland ins Rheinische Revier gereist, um dort die Kohleverstromung zu blockieren. Ebenso wie der globale Kapitalismus und der Klimawandel, kennt daher auch unsere gelebte Solidarität keine Grenzen. Ende Gelände tritt für den sofortigen Kohleausstieg in Deutschland in Aktion, sieht sich jedoch als Teil einer globalen Bewegung für Klimagerechtigkeit, die zur Bekämpfung von Ungerechtigkeiten den globalen Ausstieg aus allen fossilen Energieträgern einfordert. Ersichtlich wurde diese Vernetzung bei der Ende Gelände Aktion im November 2017 durch eine Auftaktzeremonie der Pacific Climate Warriors sowie durch ein Konzert von Standing Rock Aktivisten, die in den USA gegen den Ausbau von Ölpipelines kämpfen, auf dem Abschlussplenum. Eine der Herausforderungen für die nächsten Jahre wird sein, die Erfahrungen, die bei Ende Gelände gesammelt wurden, in die europäischen und globalen Vernetzungsprozesse mit einzubringen und weiter an der Handlungsfähigkeit der Klimagerechtigkeitsbewegung zu arbeiten. Denn wir sind uns sicher: „We are unstoppable, another world is possible!“

Mattis Berger