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Zwischen revolutionärer Rhetorik und indigenen Mythen

| Björn Manuel

„Wir hatten uns verirrt, waren verloren am Ufer eines Flusses, der sehr nah am Dorf vorbeifließt. Sein Dorf war tief in der Selva, so trafen wir uns und wussten nicht, was wir sagen sollten. Sollten wir lügen? Er sagte, dass er auf der Jagd sei, obwohl er nah bei seinem Feld war. Ich sagte, ich sei Ingenieur. Mein Bart war reichlich lang, wir waren bewaffnet. Wie ein Ingenieur sah ich nicht gerade aus. Später trafen wir uns erneut, und unsere Beziehung begann. Anfänglich war der Traum jedes Guerilleros, einen Bauern zu treffen, ihm die Politik zu erklären und von der Sache zu überzeugen…“

Diese Schilderung der ersten Begegnung mit dem Alten Antonio beschreibt anschaulich, mit welcher Vorstellung die Begründer der EZLN in den lakandonischen Urwald zogen.

Aus städtischem Milieu stammend und mit intellektuellen Fähigkeiten ausgestattet, zogen sie hinaus um den Bauern die Revolution näher zu bringen. Im Laufe der intensiven Beziehung zwischen Subcomandante Marcos und dem Alten Antonio, diesem Mann „undefinierbaren Alters, das Gesicht gefurcht wie Zedernrinde“, sollte jedoch der „Sup“ der Lernende werden.

Der Bauer gewährte ihm erste Einblicke in die Welt der indigenen Bevölkerung. Dies nicht etwa durch politische Schriften oder Theoriegebilde, sondern mittels wunderbarer Geschichten, welche mündlich überliefert Jahrhunderte überdauerten und jedem Feind widerstanden.

Diese Geschichten beeinflussten das Denken des „Sup“, wie er von seinen Gefährten genannt wird, maßgeblich. Nachdem der Alte Antonio verstorben war, wurde er zum Verbreiter dieser Geschichten. Das nun erschienene Buch umfasst 26 Erzählungen, welche poetisch formulierte Einblicke in den Alltag der EZLN geben und immer wieder Äußerungen und Geschichten des Alten Antonios enthalten.

Mensch kann beim Lesen förmlich nachempfinden, wie das zapatistisch-revolutionäre Gedankengut mit diesen Geschichten zu dem verschmolzen, was die EZLN in den zehn Jahren vor dem 1.1.1994 zum Aufstand inspirierte und was seit dem aus Südmexiko in die weltweiten Bewegungen ausstrahlt. Es ist das Zusammentreffen zwischen städtischen Intellektuellen und der dörflichen, indigenen Welt der chiapanekischen Mayas, das Marcos und der Alte Antonio repräsentieren und welches sich in den Erzählungen widerspiegelt. So zum Beispiel die erste Geschichte des Buches, in welcher Marcos eine Begegnung mit dem Alten Antonio schildert, die in Zeiten der unmittelbaren Vorbereitungen des Aufstandes stattfand. Darin spricht der Alte Antonio zu Marcos über die Frage, ob der Aufstand nun erfolgen solle: „Wenn unten im Tal alles ruhig ist, gibt es in den Bergen ein heftiges Gewitter, und die Rinnsaale werden immer stärker und machen sich in Richtung Tal. Seine Stärke kommt nicht von dem vielen Regenwasser, das in sein Flussbett fällt, es sind die Rinnsaale, die von den Bergen kommen und ihn nähren […]. So ist unser Kampf. In den Bergen wird die Kraft geboren, aber man sieht sie nicht, bevor sie unten ankommt. […] Ihr seid die Rinnsaale, wir sind der Fluss. Ihr müsst zu uns herunterkommen, jetzt!“

Der Ausgang dieser Erzählung ist bekannt.

Die Geschichtensammlung eröffnet den Lesenden durch diese Zeilen die Chance, die gedankliche Entwicklung der EZLN, im Speziellen des Subcomandantes nachzuempfinden und das Zusammenspiel zwischen revolutionärer Rhetorik und Mythen der indigenen Gemeinden selbst zu erfahren. Was mensch an diesem Buch nicht gefallen könnte, ist die Tatsache, dass es wieder Subcomandante Marcos ist, der inszeniert wird. Kritik am Personenkult ist berechtigt, doch ist dieser auch maßgeblich von Außen produziert.

Vielleicht bezieht sich der Alte Antonio in weiser Voraussicht auch darauf, wenn er eine Geschichte erzählt, die von der Entstehung der Sterne handelt: „Die Götter merkten es nicht, weil sie sich höchst zufrieden zur Ruhe begeben hatten. In der Annahme, das Problem gelöst zu haben, waren sie zufrieden eingeschlafen.

Also mussten die Fledermausmänner und -frauen das Problem allein lösen, das sie selbst geschaffen hatten. Sie machten es wie die Götter und hielten Rat und merkten, dass es nicht hilft, wenn alle Sterne sein wollten, und dass einige erlöschen müssen, damit andere strahlen können.“

Eine gelungene Kollage poetischer Texte, die sich vor allem dann als höchst wertvoll erweist, wenn sie als Einführung in oder als Ergänzung zu Sachliteratur über die Zapatistas gelesen wird.

Subcomandante Marcos: Geschichten vom Alten Antonio, Verlag Assoziation A, Berlin 2007, 150 Seiten, 14 Euro, ISBN 978-3-935-936-50-