40 jahre 68

Warum flogen die Tomaten?

Frauenbewegung und Studentenbewegung

| Gisela Notz

1968 ist zu einer Chiffre geworden für eine Revolte, die soviel in Gang gesetzt und so viel angestoßen hat, dass sie auch 40 Jahre danach noch zum Buhmann taugt.

Geradezu peinlich sind die Fremd- und Selbstbeschimpfungen mancher Beteiligter, die das Engagement von „damals“ für die „Zerrüttung“ alles Möglichen verantwortlich machen oder gar mit den Verbrechen derer gleichsetzen, gegen die es sich richtete. Das gilt auch für die im Zusammenhang mit den Studentenbewegungen entstandenen Neuen Frauenbewegungen.

Allerdings war die Entstehung der „Neuen Frauenbewegungen“ bereits in der Kritik der studentischen Bewegungen begründet. Denn die Probleme, die Frauen – die schließlich führend beteiligt waren – aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Arbeits- und Aufgabenverteilung hatten, spielten bei den „Helden der Bewegung“ praktisch keine Rolle.

Die so genannten 68er setzten damit eine Tradition fort, die sich auch bei den älteren Frauenbewegungen gezeigt hatte. In der Arbeiterbewegung war die „Frauenfrage“ stets ein Nebenwiderspruch neben dem Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit. Dies änderte sich erst gegen Ende der 1960er Jahre.

Der Beginn der Neuen Frauenbewegungen

In der Literatur werden die Neuen Frauenbewegungen mit einer gewissen Berechtigung als Folge der Studentenbewegung behandelt, schließlich waren die beteiligten Frauen Teil der StudentInnenbewegung.

Ohne die Dynamik der „Neuen Linken“, insbesondere des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), wäre die Entwicklung des Feminismus der 1970er Jahre nicht denkbar gewesen. Sicher haben die Frauenbewegungen auch wichtige Impulse aus der amerikanischen und französischen Frauenbewegung empfangen, denn auch dort entwickelte sich ein „feministisches Bewusstsein“. Der SDS, dessen Mitglieder bereits 1961 aus der SPD ausgeschlossen worden waren, bildete während der 1960er Jahre eine zentrale Gruppierung der entstehenden außerparlamentarischen Opposition (APO).

Mit der Bildung der Großen Koalition 1966 stand der SDS an der Spitze der Protestbewegung, die die Gegenöffentlichkeit zur Politik der Bundesregierung formierte. Kurz vor seinem Auseinanderbrechen im September 1968 hatte der Verband rund 2.500 Mitglieder, darunter waren viele Frauen.

Der Beginn der neuen Frauenbewegungen wird oft mit der Rede der späteren Filmemacherin Helke Sander gleichgesetzt, die sie am 13.9.1968 als Delegierte des Westberliner „Aktionsrates zur Befreiung der Frau“ auf der 23. Delegiertenkonferenz des SDS in Frankfurt/Main gehalten hat. (1) In dieser Rede warf sie den männlichen SDS-Mitgliedern vor, die spezifische Ausbeutung der Frauen im privaten Bereich zu tabuisieren. Sie bezeichnete den SDS als „ein Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse“, als eine Organisation, die bestimmte Bereiche des Lebens vom gesellschaftlichen abtrenne und tabuisiere, indem sie ihnen das Etikett „Privatleben“ gebe.

Da die männlichen Delegierten nicht bereit waren, ihre Thesen zu diskutieren, und weder der nächste Redner, Hans-Jürgen Krahl, mit einem einzigen Wort auf ihren provokanten Beitrag einging, noch der ausschließlich männlich besetzte SDS-Vorstand sich einmischte, bewarf die hochschwangere Berliner Studentin Sigrid Rüger Hans-Jürgen Krahl mit Tomaten, von denen auch die am SDS-Vorstandstisch Sitzenden etwas abbekamen.

Die heftig umstrittene, bis heute anhaltende Diskussion um den Frankfurter Tomatenwurf lässt sich als Anzeichen für die außerordentliche Bedeutung lesen, die diesem Gründungsereignis der Neuen Frauenbewegungen später beigemessen wurde.

Schließlich lösten weniger die Tomaten den Tumult aus, als vielmehr die Tatsache, dass diese Form des Protests nicht gegen das so genannte Establishment gerichtet war, sondern gegen den Kopf eines bewunderten Theoretikers der Bewegung.

Die Rede Helke Sanders und der durchaus nicht von allen – auch nicht von allen SDS-Frauen – gebilligte Tomatenwurf führten noch am gleichen Tag zur Gründung von „Weiberräten“ durch Frauen der verschiedenen SDS-Landesverbände. Sie verfassten Resolutionen, die am nächsten Vormittag verlesen wurden. Diesen Aktionen folgte die Gründung von Frauengruppen in vielen deutschen Universitätsstädten und später auch in anderen größeren und kleineren Orten der Bundesrepublik.

Es waren gerade die engagiertesten Frauen im SDS, die aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen den Widerspruch zwischen politischen Ansprüchen und Theorien und praktischem frauendiskriminierenden Verhalten der SDS-Männer nicht weiter ertragen wollten. Sie kritisierten, dass diese sich einerseits als Avantgarde begriffen, gegen Unterdrückung und Unrecht kämpften sowie die Emanzipation der Arbeiterklasse forderten, sich aber selbst den weiblichen SDS-Mitgliedern und ihren Partnerinnen gegenüber reichlich autoritär verhielten. Gerade sie wollten die Tatsache der doppelten Unterdrückung der Frauen nicht zur Kenntnis nehmen. Die Tomaten waren somit schon lange reif.

Am 15. Januar 1968 hatte Helke Sander in einem SDS-Rundschreiben bereits über erste Ansätze zum Aufbau von Selbsthilfeorganisationen zur ungelösten „Kinderfrage“ berichtet. Sie hatte verschiedene Vorschläge aufgeführt, die es den politisch aktiven Frauen ermöglichen sollten, die Frage der Kinderbetreuung zu lösen. Die Vorschläge entstanden aus der Überzeugung, dass Frauen ihre Belange selbst in die Hand nehmen müssten. In diesem Sinn gründeten sieben SDS-Frauen, darunter Helke Sander, in Berlin den „Aktionsrat zur Befreiung der Frau“. Er verstand sich als Teil der StudentInnenbewegung und identifizierte sich mit den Zielen des SDS. Freilich ging die Thematisierung der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung und der gewaltförmigen Geschlechterverhältnisse durch den Aktionsrat darüber hinaus.

Die SDS-Frauen wehrten sich gegen die Ignoranz der SDS-Männer, die das spezifische Ausbeutungsverhältnis, dem Frauen im Blick auf ihre vermeintlich privaten Probleme unterworfen waren, nicht zur Kenntnis nahmen. Sie wehrten sich gegen ihre alleinige Zuständigkeit für Kindererziehung und Reproduktionsaufgaben, die sie daran hinderte, bei der politischen Arbeit eine gleichberechtigte Rolle einzunehmen. Sie wollten, dass die Gebärfähigkeit Frauen nicht länger zum gesellschaftlichen Nachteil gereicht und Kindererziehung nicht länger Privataufgabe der Mütter ist, sondern als gesellschaftliche Frage betrachtet wird. „Das Private ist politisch“ wurde zum Slogan der neuen Bewegungen.

In Erweiterung des traditionell männlichen Politikbegriffs sollte damit die politische Dimension scheinbar privater Beziehungsstrukturen hervorgehoben werden.

Es ging um eine zentrale Kritik der patriarchalen Abhängigkeit und Unterdrückung und damit um eine grundlegende Veränderung des linken Politikverständnisses.

Die Rolle der Frauen im SDS wurde recht unterschiedlich dargestellt. Monika Steffen verwies darauf, dass es in keinem anderen studentischen Verband so viele Frauen gab wie im SDS und dass Frauen „ohne großes Getue als gleichberechtigte Mitglieder behandelt“ worden seien.

Dem Verband bescheinigte sie, dass er sich dem Problem der Minderheitensituation der Frauen an den Hochschulen gestellt und sich ihrer gesellschaftlichen Ungleichbehandlung angenommen habe, „indem er ihre Situation theoretisch aufarbeitete und in seiner praktischen Studentenpolitik berücksichtigte“.

Zudem seien Frauen, zu einer Zeit, in der sie in den Gremien der Universitäten noch so gut wie nicht berücksichtigt wurden, immer wieder ermuntert worden, im Verband Ämter zu übernehmen.

Die Tatsache, dass die ‚Helden der Bewegung‘ sich nicht mit der sozialen Lage der Studentinnen, der Organisation des Zusammenlebens und anderem ‚Weiberkram‘ beschäftigen konnten (oder wollten), führte Steffen eher auf individuelles ‚Schlagzeilenhaschen‘ mediengeiler Funktionsträger und zum Teil selbsternannter Führer sowie auf das Verlangen nach Personifizierung durch die Massenmedien zurück. Dies alles habe schließlich zum ‚Abheben‘ der SDS-Männer sowie zur Entladung von aufgestautem Zorn der Frauen im SDS geführt. (2)

Helke Sander wehrte sich dreißig Jahre später dagegen, dass Frauen im SDS die „Kaffeekocherinnen oder Flugblatt-Tipperinnen“ gewesen sein sollen. Sie hätten politisch arbeiten können und im SDS auch „eine intellektuelle Heimat“ bekommen. SDS-Frauen hätten ihre Positionen in die Verbandspolitik eingebracht, aber sie selbst hätten bis dahin wie auch die Männer des SDS die Geschlechterfrage ausgeklammert. Sie bezeichnete den „aggressiven Akt gegen die SDS-Männer in Frankfurt“, als einen Vorgang, durch den sie „zum ersten Mal Zivilcourage in Aktion erlebt“ habe.

Das Anliegen ihrer damaligen Rede sah sie darin, „den geschätzten Genossen unmissverständlich klarzumachen, dass wir [Frauen] ein Potential sind im gemeinsamen Interesse, neue Probleme mitbringen, aber auch, daraus resultierend, neue Fähigkeiten“. (3)

Für die Mehrheit der SDS-Frauen sei der Tomatenwurf keine Revolte der Frauen im SDS gewesen – im Gegenteil: Die meisten SDS-Frauen hätten den Auftritt eher peinlich gefunden.

Die Entstehungsgeschichte der neuen Frauenbewegungen ist also keinesfalls als eine Opfergeschichte zu sehen.

Die von ihr vorangetriebene Politisierung des Alltags in den undogmatischen Flügeln der StudentInnenbewegung, auch das Hinterfragen ihrer eigenen Autoritäten, begünstigte es, die männliche Dominanz aufzudecken und anzugreifen.

Der Weiberrat appellierte allerdings bereits an einen Verband, der seine Forderungen gar nicht mehr umsetzen konnte. Es kam zur Verwirklichung eigener frauenspezifischer Projekte und zur Gründung selbständiger Frauengruppen. Der Graben zwischen der antiautoritären und der traditionalistischen Fraktion, von der mehrere Mitglieder ausgeschlossen wurden, sowie der zwischen den Hochschulgruppen aus den Zentren West-Berlin und Frankfurt auf der einen und denen aus den kleineren Unistädten, wie Heidelberg und Tübingen, auf der anderen Seite, vergrößerte sich zusehends.

Am 21.3.1970 wurde der SDS zu Grabe getragen, SDS-Bundesvorstand und Bundesverband lösten sich auf. Damit endete die Phase der antiautoritär geprägten Rebellion der StudentInnen und der außerparlamentarischen Opposition. Die Frauenbewegung war jedoch nicht mehr aufzuhalten.

Zwar löste sich der erste Frankfurter Weiberrat bald nach seiner Gründung wieder auf; jedoch wurde ein zweiter im Frühjahr 1970 gegründet. Aus dem Berliner ‚Aktionsrat zur Befreiung der Frau‘ wurde 1970 der ‚Sozialistische Frauenbund Westberlins‘, der sich zum Ziel gesetzt hatte, Frauen über den Zusammenhang von Kapitalismus und Unterdrückung aufzuklären, um sie zu befähigen, an der Seite der Männer eine aktive Aufgabe im Klassenkampf zu übernehmen.

Was bleibt?

Auch wenn die angestrebte gewaltfreie, lebendige, vielfältige, basisdemokratische Gesellschaft von Frauen und Männern, die sich als Ebenbürtige begegnen und anerkennen, auch für die am besten ausgebildete Frauengeneration, die es in der Geschichte je gab, nicht erreicht ist. Auch wenn die Töchter nicht zu rebellieren scheinen, kann die Wirkung der Aktivitäten der Frauenbewegungen der 1970er Jahre auf Erziehungsweisen, Verhaltens- und Umgangsformen sowie auf die Gesetzgebung nicht übersehen werden. Kinderläden hatten entscheidenden Einfluss auf die bestehende öffentliche und private Kinderbetreuung. Wohngemeinschafts- und Kommunebewegungen hatten starke gesellschaftliche Ausstrahlungen im Kampf um die Veränderung der Geschlechterrollen und für ebenbürtige Geschlechterverhältnisse.

Die Frauenbewegungen haben viele eigene Einrichtungen geschaffen, die sich im Laufe der Jahre zunehmend professionalisiert haben und öffentliche Institutionen entscheidend beeinflusst haben. Ihre Aktionsformen und ihr Politikstil förderte nicht nur die Kompetenzbildung innerhalb der eigenen Reihen, sondern beeinflussten die Mitte der 1970er Jahren entstandenen sozialen Bewegungen grundlegend.

(1) Helke Sander, Rede des "Aktionsrates zur Befreiung der Frauen", abgedruckt in: Ann Anders (Hg.), Autonome Frauen. Schlüsseltexte der Neuen Frauenbewegung seit 1968, Frankfurt/M. 1988, S. 39-47.

(2) Mona Steffen: "SDS, Weiberräte, Feminismus?", in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung, Hamburg 1998, S. 126 - 140.

(3) Helke Sander, Der Seele ist das Gemeinsame eigen, das sich mehrt, in: Heinrich-Böll-Stiftung Feministisches Institut (Hg.): Wie weit flog die Tomate? Berlin 1999, S. 43 - 56.

Literatur

Gisela Notz: "Warum flog die Tomate? Die autonomen Frauenbewegungen der Siebzigerjahre", AG SPAK, Neu-Ulm 2006