Wu Ming; Manituana. Aus dem Italienischen von Klaus-Peter Arnold, Assoziation A, Berlin/Hamburg 2018, 512 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 978-3-86241-465-9
Die Stadtindianer sind zurück! Nicht die aus Westberlin oder Rom oder gar ihre Vorbilder, die Tupamaros Montevideos in Uruguay, die überraschenderweise nach Jahrzehnten des Kampfes und der Gefängnisse mit José Alberto Mujica Cordano, genannt El Pepe, von 2010 bis 2015 den wohl sympathischsten Präsidenten des Planeten hervorbrachten. Nein, diesmal sind es unberechenbare und skrupellose, in den verlorensten Gassen des nächtlichen Londons umherschweifende „Mohocks“, Schreibweise mit Absicht so seltsam. Gemeinhin und nicht ganz unberechtigt als Bodensatz der Gesellschaft geltend, machen diese antiaristokratischen Kleinkriminellen im späten 18. Jahrhundert die Metropole des britischen Empire unsicher. Das ist manchmal witzig, oft abstoßend, aber immer farbenfroh und in seinen einzelnen Geschichten und Szenen so noch nicht zu lesen gewesen. Der Clou – der Versuch dieser „Mohocks“ sich mit den tatsächlichen Mohawks, einen Stamm der Irokesenföderation auf der anderen Seite des Atlantiks zu verbünden, eine der vielen Wendungen, mit denen das Schriftstellerkollektiv Wu Ming aus Bologna in ihren bereits 2007 in Italien erschienenen und jetzt via Assoziation A durch Klaus-Peter Arnold ins Deutsche übertragenen Roman „Manituana“ überraschen. Jene chaotischen Tumulte des Proletariats in London sind eine Geschichte innerhalb der Geschichte, als Helden eignen sich diese Stadtindianer nur bedingt, dann schon eher Joseph Brant, als Thayendanega Kriegshäuptling der Mohawk, der aus dem Gebiet des heutigen US-Bundesstaates New York kommend England besucht, sowie sein Bruder Philip alias Ronaterihonte.
Eine unglaubliche, aber dennoch wahre Begebenheit: Die Mohawks werden von König Georg III und seiner Familie im Palast ehrenvoll empfangen. Sie schließen einen Bündnispakt, in deren Folge vier der sechs Nationen der Irokesen auf Seiten der Engländer gegen die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung kämpfen. Für die Mohawks ist es ein Kampf ums Überleben, wobei ihre stärkste Anführerin eine Frau ist, Josephs und Philips Schwester Molly Brant, welche die alten Traditionen bewahrt. Von den europäischstämmigen Siedler*innen wird sie dafür als Hexe gefürchtet.
In erster Linie handelt der Roman also vom amerikanischen Unabhängigkeitskrieg von 1775 bis 1783, nur befinden sich die Protagonist*inneen nicht auf Seiten der Revolutionäre, eine weitere Überraschung, sondern sind eben vor allem Mohwak, (die echten), die sich entscheiden, ihrem Schwur gegenüber dem englischen König treu zu bleiben. Nicht alle Stämme der Irokesenliga tun das, die Oneida und die Tuscarora kämpfen auf Seiten der neu entstehenden USA, obwohl diese das Land der Ureinwohner*innen bedroht. Die Einheit der sechs Nationen zerbricht also, dennoch wurde ihre demokratische Organisation Vorbild für die neue amerikanische Konföderation. Die Kriegshandlungen werden von Wu Ming nicht verklärt, sondern in all ihren Abgründen beschrieben, im Mittelpunkt stehen mutige Menschen, die für das Bewahren ihrer eigenen Welt die Aufrechterhaltung der britischen Kolonialherrschaft in Kauf nehmen müssen. Welche Partei man auch immer ergreift, Krieg gebiert vor allem Zerstörung, auch ein Teil der Sieger verliert mit ihrem Mitgefühl das Kostbareste, was uns gegeben ist. In der Wirkung ergibt das einen starken Antikriegsroman. Zumal, wie bei der Zerstörung der Dörfer der Irokesen durch John Sullivans Armee geschildert, „Das Land der Freien“ durch Völkermord und Vertreibung der Ureinwohnerinnen begründet wurde. Dies ist einer der beiden bis heute wirkenden, da nicht ausreichend anerkannten, schweren Flüche, die auf den USA lasten, der andere ist die Sklaverei.
Man möchte die Fünf aus Bologna ob ihrer Intuition, ihres Einfühlungsvermögen etwa in der Beschreibung der Irokesengesellschaften nach über 160 Jahren Beeinflussung durch Europäer, ob ihres Wissens um historische Prozesse gerne weiter kennen lernen – und wird dies hoffentlich auch in zwei folgenden Romanen (Italienisch: „L‘armata dei sonnambuli“, 2014) über die revolutionäre Epoche des späten 18. Jahrhunderts noch tun können. Denn, obgleich in sich abgeschlossen, ist Manituana der erste Band einer Trilogie, die in Nordamerika, Europa und Afrika spielt. Literaturagenturen im Telefonbuch haben die Autoren allerdings wohl eher nicht, sind sie ja auch in den die Reihen der Widerständigen geblieben, es geht ihnen noch immer mehr um Veränderung und um die Aneignung der Geschichte von unten, als um persönlichen kommerziellen Erfolg. Revolutionäre Ereignisse haben sie in ihren bisherigen Romanen bewahrt, bei Manituana benutzen sie ihr literarisches Genie eher wie zum Teil auch schon bei „Q“ und „Altai“, um die Komplexität von Kriegen im Ganzen aufzuzeigen. Dabei haben viele Kommentatoren wie auch Wu Ming selbst Parallelen der Handlung zu den Irakkriegen gezogen, wo Schiiten, Kurden und andere zeitweise von imperialen Mächten wie den USA instrumentalisiert wurden. Aber der Roman ist tiefergehend als eine reine Parabel und befand sich nicht zufällig in den Top 5 der italienischen Bestseller. Die geschilderten Charaktere sind, abgesehen von einigen wenigen, eher gescheckt, als einfarbig gut oder böse und wirken daher glaubwürdig. Manituana gewann den Premio Sergio Leone and den Premio Emilio Salgari auch wegen der faszinierend schönen Sprache, den poetisch und spirituell bewegenden Bildern, von Klaus-Peter Arnold ebenso wunderbar eingefangen. Worum es letztendlich geht, ist bereits im Titel erkennbar: Um ein Utopia, jene mystischen Inseln in Sankt-Lorenz-Strom, wo Frieden verwirklicht wird.
Dort kommen Menschen verschiedener Stämme zusammen und leben über Zeitalter hinweg in Harmonie. Für die Mohawks wird diese Legende notgedrungen eine Hoffnung, die sie, wenn auch nicht am Sankt Lorenzstrom, so doch am nahen Ontariosee zu verwirklichen suchen.
Manituana ist zugleich historisch und literarisch überzeugend, mehr noch: großartig. Wu Ming erschaffen einen Sog ins Herzen der Bestie, dem sich schwer zu entziehen ist.
Oliver Steinke