Peter Nowak, Gülten Sesen, Martin Beckmann (Hrsg.): Bei lebendigem Leib. Von Stammheim zu den F-Typ-Zellen. Gefängnissystem und Gefangenenwiderstand in der Türkei. Unrast Verlag, Münster, Okt. 2001, 173 Seiten, 13 €
Als politische Gefangene am 20. Oktober 2000 in der Türkei in den Hungerstreik traten, hätte wohl kaum jemand gedacht, dass er fast zwei Jahre später noch nicht beendet ist.
Die Hungerstreikenden wehren sich gegen die Verlegung in neugebaute Isolationsgefängnisse mit so genannten F-Typ-Zellen. Die türkische Regierung behauptet, „Mafia-Strukturen“ innerhalb der Knäste durch Einführung der F-Typ-Einzelzellen zerschlagen zu wollen.
Die politischen Gefangenen sehen sich in den neuen Zellen ungeschützt der Willkür der WärterInnen ausgesetzt und befürchten zu Recht den Einsatz der „weißen Folter“ Isolation.
Nachdem sichtbar wurde, dass ihre, gegen die Einführung der Isolationshaft gerichteten Forderungen ignoriert werden, wandelten viele Gefangene und Angehörige ihren Hungerstreik in ein „Todesfasten“.
Obwohl sich mehr als 2.000 der 12.000 politischen Gefangenen und zahlreiche Angehörige am Hungerstreik beteiligten und zum Teil noch immer beteiligen, obwohl heute (22. August 2002) bereits 94 Menschen an den Folgen der Aktion gestorben bzw. durch den Angriff auf die Gefängnisse durch das Militär im Dezember 2000 getötet worden sind, ist ein Einlenken des türkischen Staates nicht in Sicht. Die Unterstützung des Hungerstreiks durch linksliberale Intellektuelle in der Türkei ging nach einem Anschlag gegen einen Polizeibus, bei dem zwei Polizisten getötet wurden, weitgehend verloren. Die TKP-ML (Kommunistische Partei der Türkei/Marxistisch-Leninistisch) hatte den Angriff am 11. Dezember 2000 verübt, als Vergeltung für die Ermordung eines Aktivisten, der sich an einer Plakatieraktion gegen Typ-F-Gefängnisse beteiligt hatte.
Am 19. Dezember 2000 begann die Armee, die Gefängnisse zu bombardieren und zu stürmen. Dabei wurden 33 Menschen ermordet und ca. 1.000 der hungerstreikenden Inhaftierten wurden in die neu fertiggestellten F-Typ Gefängnisse verlegt (vgl. GWR 256 & Otkökü 1). Seitdem wird der Informationsfluss stark behindert. Von ca. 2.000 Inhaftierten, die sich im Hungerstreik befanden, beteilig(t)en sich ungefähr 350-400 am Todesfasten und es muss weiterhin mit dem Sterben vieler gerechnet werden.
Seit Juni 2001 fordern die Gefangenen auch ein Ende der Zwangsernährung: „Zwangsernährung ist Folter. Einem Menschen bleibende Behinderungen zuzufügen, ist ein Verbrechen. Dutzende Freunde von uns sind verkrüppelt worden. Sie sind in einen Zustand gebracht worden, in dem sie sich nicht mehr an die Vergangenheit erinnern und nicht mehr denken können. Der Zwangsernährungsfolter muß ein Ende gesetzt werden.“ (Bei lebendigem Leib, S. 162)
Und die Weltöffentlichkeit?
Sie ignoriert, dass das vom Militär dominierte NATO-Land Türkei die Menschen(rechte) mit Füßen tritt.
Eine größere (Gegen-) Öffentlichkeit konnte auch in Deutschland nicht hergestellt werden. Das Buch „Bei lebendigem Leib“ soll nach dem Willen der HerausgeberInnen dazu beitragen, dass sich das ändert. Es will mit Hintergrundinformationen über den Gefangenenwiderstand und das Gefängnissystem (nicht nur) in der Türkei zur Debatte über politische Gefangenschaft und Isolationsfolter anregen.
Die nach dem Hungerstreik von RAF- und anderen Gefangenen 1989 in Deutschland eingeschlafene Diskussion über soziale Deprivation soll wieder aufgenommen werden.
Die Textsammlung besteht aus einem Dokumentationsteil, in dem sich Erklärungen der Gefangenen, ein Interview und eine „Liste der Gefallenen“ finden, sowie folgenden Kapiteln: 1. Entwicklung und Einführung der Isolationshaft; 2. Staatliche Repression und Gefangenenwiderstand in der Türkei; 3. Die revolutionäre Linke in der Türkei und 4. Solidaritätsarbeit in der Türkei zum Todesfastenwiderstand in der Türkei.
Die Beiträge stammen von unterschiedlichen AutorInnen, die der deutschen antiimperialistischen Szene oder/und militanten türkischen orthodox-kommunistischen Gruppen nahe stehen.
Das Isolationszellensystem
Die Autorin Ilse Schwipper beschreibt anschaulich „Das Isolationszellensystem als wissenschaftliches Forschungsprojekt“ (siehe auch nebenstehendes Interview): Bereits im 19. Jahrhundert in den USA als spezielle Form der Bestrafung praktiziert, bewirkt die Isolierung durch Abschottung äußerer Reize bei Gefangenen körperliche Reaktionen: Konzentrationsstörungen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Sprachschwierigkeiten, Verlust von Zeit- und Raumgefühl. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte sich die psychologische Forschung verstärkt mit sozialer Deprivation auseinander. Mit der „boxcar“- bzw. „Sensorische Deprivations“-Zelle, die durch ihre spezielle Architektur das Eindringen jeglicher äußerer Reize verhinderte, wurde die Isolation in den 60er Jahren perfektioniert.
Wissenschaftler des Sonderforschungsbereichs „Isolation und Aggression“ der Deutschen Forschungsgesellschaft an der Uni Hamburg experimentierten seit den 60er Jahren mit der „camera silence“, einem nach außen schallisoliertem, nach innen schallschluckendem Raum. Im „Toten Trakt“ der JVA Köln-Ossendorf wurden von 1971 bis 1973 erstmals zwei Gefangene, Ulrike Meinhof und Astrid Proll, in totaler Isolation gehalten: totales Geräuschvakuum, weiße Zellen, kein Außenkontakt, 24-Stunden-Beleuchtung, leicht unterkühlte Temperatur. 1976 wurde Ulrike Meinhof tot in ihrer Zelle aufgefunden.
Perfektioniert wurde die Isolation im Hochsicherheitstrakt Stuttgart-Stammheim, wo sich vor 25 Jahren im „Deutschen Herbst“ nach Angaben der Behörden die inhaftierten RAF-Mitglieder Jan Carl-Raspe, Andreas Baader und Gudrun Ensslin selbst getötet haben sollen. Irmgard Möller, die 1977 die „Selbstmorde“ als einzige Stammheimer RAF-Gefangene schwer verletzt überlebt hat, sagt bis heute, dass es sich nicht um Selbstmord, sondern um Mord bzw. in ihrem Fall Mordversuch durch Beamte gehandelt habe.
Seit den siebziger Jahren wird das bundesdeutsche Modell der Isolationshaft in viele Länder exportiert. Auch die Türkei versucht seit Anfang der neunziger Jahre, Gefängnisse mit F-Typ-Zellen zu errichten und zu belegen. Bis Dezember 2000 konnte das durch viele Gefangenenaufstände verhindert werden.
Die HerausgeberInnen von „Bei lebendigem Leib“ kritisieren „das Schweigen der hiesigen Linken zum Gefangenenkampf in der Türkei“. Diese Kritik ist gerechtfertigt. Zwar finden sich in einigen linken Medien auch Artikel und Kommentare zum Hungerstreik in der Türkei, und es gab auch einige kleinere Protestkundgebungen vor türkischen Konsulaten. Aber im Großen und Ganzen schweigen die Linken hier zum Todesfasten.
Aber warum ist das so?
Diese Frage wird unfreiwillig auch von einigen Autoren des Buches beantwortet. Besonders gruselig von Martin Beckmann. Sein Artikel über „Die revolutionäre Linke in der Türkei“ (S. 86 ff.) ist eine Lobeshymne auf die stalinistische DHKP-C, die seiner Meinung nach „derzeit relevanteste revolutionäre Organisation“ (S. 86). Kostproben:
Den 1973 von türkischen Militärs ermordeten Führer der maoistischen Guerilla TKP/ML, Kaypakkaya, beschreibt er folgendermassen: „Ibrahim Kaypakkaya (…) war der entschiedenste Kämpfer gegen den Kemalismus (…) Kaypakkaya war zudem einer der größten Verfechter des Rechtes auf die Selbstbestimmung nicht nur des kurdischen Volkes, sondern der gesamten unterdrückten kurdischen Nation (einschließlich der Bourgeoisie)…“ (S. 94)
So geht es weiter. TKP, THKP-C, Devrimci Sol, DHKP-C, TKIP, TKP/ML,… Stalinistische Kaderorganisationen – oft hervorgegangen aus internen Machtkämpfen und Spaltungen – werden ohne einen Hauch von kritischer Distanz beschrieben. So schwärmt Beckmann von den „taktischen und strategischen Grundsätzen der THKP-C“, die in dem Buch „Die ununterbrochene Revolution“ von Cayan zusammengefasst worden seien:
„Darin werden unter der Berücksichtigung der spezifischen sozioökonomischen und sozio-kulturellen Bedingungen in der Türkei komprimiert die politisch-militärischen Leitlinien für die sofortige Aufnahme des revolutionären bewaffneten Kampfes am Beginn der 70er Jahre beschrieben. In dem Buch werden eingehend die Evolutions- und Revolutionstheorien von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao behandelt und auf ihre Relevanz für neokoloniale Länder der sog. III. Krisenperiode des Imperialismus geprüft, (…). Cayan hat von den drei historischen Persönlichkeiten der revolutionären Linken die umfassendste Studie für den bewaffneten Kampf in der Türkei vorgelegt, eine kohärente Theorie für die antiimperialistische und antioligarchische Volksrevolution. Die inhaltliche und praktische Stoßrichtung der THKP-C kommt in ihrem ersten Kommuniqué vom April 1971 zum Ausdruck: ‚Unsere Partei versucht gegen den Imperialismus, gegen die einheimischen herrschenden Klassen und deren Ausläufer in der Linken, in den drei Fronten zugleich, den Krieg zu führen'(Cayan,….)“ (S. 95)
Was es für die von Beckmann ebenfalls glorifizierte DHKP-C bedeutet, den „Krieg gegen die herrschenden Klassen und deren Ausläufer in der Linken zu führen“, konnte ich 1993 persönlich erleben. Nach dem von Nazis verübten Brandanschlag in Solingen, fand dort eine antifaschistische Demonstration mit 20.000 Menschen statt. Während der Abschlusskundgebung gingen TürkInnen mit Knüppeln und Messern aufeinander los. Dabei handelte es sich aber keineswegs um einen Angriff türkischer MHP-Faschisten, sondern um Mitglieder der Dev-Sol (Revolutionäre Linke), die sich damals in zwei Lager gespalten und im wahrsten Sinne des Wortes „bis aufs Messer“ bekämpft hatten. Der „Krieg“ der sich um zwei konkurrierende Führer – Bedri Yagan auf der einen und Dursun Karatas (DHKP-C) auf der anderen Seite – gescharten Dev-Sol kostete Tote auf beiden Seiten. Mit dem Brustton der Überzeugung ergreift Beckmann Partei für die stärkere Karatas-Fraktion und gegen den von ihm als „Putschisten“ bezeichneten Bedri Yagan.
Hier wird eine Darstellung von Geschichte präsentiert, die mit der Realität wenig zu tun hat. Die platte Propaganda verhindert eine kritisch-solidarische Auseinandersetzung. Und das Abfeiern der – ganz in militaristischer Tradition – als notwendige „Liquidierungen“ verklärten Morde an politischen GegnerInnen der DHKP-C ist abstoßend.
Fazit
Eine kritische Diskussion findet in diesem Buch nicht statt. Im Gegenteil: Eindimensionalität, Märtyrerkult um die „Gefallenen“ und Verherrlichung des bewaffneten Kampfes zieht sich wie ein blutroter Faden durch die Zeilen. Dass die Gefangenen dabei von ihren Organisationen nicht gezwungen werden müssen, am Todesfasten teilzunehmen, sondern bisweilen „glücklich“ sind, als „Märtyrer“ sterben zu dürfen, dokumentiert der folgende Abschnitt:
„Nachdem die Freiwilligen zum Todesfasten gewählt worden waren, habe ich bemerkt, dass Gülpinar Adiyaman sehr traurig war. Ich habe sie gefragt, warum sie so traurig ist, und sie antwortete mir, weil sie nicht für die 1. Gruppe des Todesfastens gewählt worden sei. Eine ganze Woche lang habe ich gesehen, wie sie geweint hat. Auf der anderen Seite habe ich auf den Gesichtern der Frauen, die für das Todesfasten gewählt worden waren, nur Freude und Glücklichkeit gesehen.“ (S. 167)
Abgesehen von zwei Ausnahmen, sind die Beiträge des Buches in einem Verlautbarungsstil geschrieben, der die Gefangenen sakrosankt erscheinen lassen soll. Relativ positiv fällt Peter Nowaks überwiegend sachlicher Artikel über „Der Todesfastenwiderstand von 2000/2001“ auf. Der oben bereits erwähnte Artikel von Ilse Schwipper ist der interessanteste in diesem Buch. Trotzdem kann ich mir auch hier eine Kritik nicht verkneifen. Das nebenstehende GWR-Interview mit ihr zeigt m.E., dass sie sich wenig (selbst-)kritisch mit der eigenen Geschichte, der militärischen Stadtguerillapolitik und überhaupt nicht mit gewaltfrei-libertären Positionen auseinander gesetzt hat. Doch das ist auch nicht unbedingt die Voraussetzung für eine gute Publikation. Wären alle Beiträge auf dem Niveau ihres Buchbeitrages, wäre „Bei lebendigem Leib“ ein empfehlenswertes, gut lesbares Dokument, das zur Auseinandersetzung anregen könnte.
Gewünscht hätte ich mir persönlich ein Buch aus der Perspektive von AktivistInnen, die Mitherausgeber Beckmann wohl, wie einst sein Genosse Lenin, als „kleinbürgerlich, pseudorevolutionär“ und „bedeutungslos“ bezeichnen würde. Libertäre, Feministinnen, AntisexistInnen und AntimilitaristInnen aus der Türkei kommen in diesem Buch aber weder zu Wort noch vor.
Viel zu oft schimmert eine Ideologie durch die Zeilen, deren Verbreitung getrost dogmatisch autoritären Sektierern überlassen werden sollte.
Der in der libertären Szene entstandene Verlag muss sich fragen lassen, ob es richtig war, ein derart unkritisch-verklärendes Buch zu veröffentlichen. Ist es legitim auch ein schlechtes Buch zu einem wichtigen Thema herauszugeben, wenn es sonst nichts dazu gibt?
Unsere Solidarität gehört den Inhaftierten, nicht weil sie zum großen Teil Mitglieder der DHKP-C sind, sondern weil sie Menschen sind. Und alle Menschen haben ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben.