graswurzelrevolution

Ausgrabungsarbeiten

Wie ich über die Graswurzel gestolpert bin

| Bernd Drücke

Das erste Mal? Wann hielt ich meine erste Graswurzelrevolution in Händen? Eine schwierige Recherche.

Autobiographische Fragmente

Ich erinnere mich gut an meine erste Großdemo: 1981 in Bonn mit Hunderttausenden gegen den NATO-Doppelbeschluss.

Damals war ich noch keine 16 und lag im Klinsch mit meinem Klassenlehrer, einem erzreaktionären Christdemokraten, der mir eine Demo-Teilnahme (während der Schulzeit) verbieten wollte. So handelte ich mir einen Tadel wegen unerlaubten Entfernens vom Unterricht ein.

Im selben Jahr hatte ich so etwas wie ein „Schlüsselerlebnis“, das für mich ein weiterer Beleg für die mögliche Effizienz von gewaltfreiem Widerstand ist. Ein großer Mann vom Typ „Schlägerfaschoproll“ klaute mir zusammen mit einem anderen im Park die Mütze vom Kopf. Ich ging daraufhin zu ihm und sagte, von Gandhi infiziert, ruhig, aber nachdrücklich: „Gib mir bitte die Mütze zurück, die gehört meiner Mutter, und ich brauche sie.“ Daraufhin schlug er mir mit voller Wucht in den Magen. Nach außen hin unbeeindruckt wiederholte ich kurz darauf, immer noch freundlich, meinen Appell, woraufhin er genauso reagierte, wie beim ersten Mal. Als ich dann zum dritten Mal äußerlich gelassen mein Anliegen äußerte, wurde ich nicht mehr geschlagen. Er gab mir die Mütze zurück und entschuldigte sich.

Solche Auseinandersetzungen können politisierend sein, sensibilisieren gegenüber Gewalt-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Mich langhaarigen Zumselritter bestärkten sie in antiautoritären, radikalpazifistischen Positionen.

Geradezu aufgesogen habe ich Anfang der 80er Jahre Schriften z.B. von Martin Luther King, Thoreau, Tucholsky, Adorno, Horkheimer, Marcuse, Marx, Dutschke, Gernot Jochheims Buch „Gewaltfreie Aktion“, und nicht zuletzt: „Krieg dem Kriege“, das bewegende Werk des libertären Antimilitaristen Ernst Friedrich.

„Je mehr Gewalt desto weniger Revolution.“ (Bart de Ligt, in: GWR 56)

Auf Friedensdemos habe ich neben anderen antimilitaristischen Blättern wie Zivilcourage und antimilitarismusinformation, auch meine erste Graswurzelrevolution in die Finger bekommen. Es war wohl die Sondernummer Soziale Verteidigung (GWR 56, August 1981), aber 100%ig sicher bin ich mir nicht.

Beim Stöbern in den rund 290 von mir archivierten (und gelesenen!) GWR-Ausgaben, musste ich feststellen, dass ausgerechnet meine erste Ausgabe fehlte. Ich hatte sie einem Schulfreund geliehen, aber nie zurückbekommen. Für die Abfassung dieses Artikels hab ich mir also extra ein Exemplar der GWR 56 besorgt. Und siehe da, alles, was mich damals beeindruckt hat, steht noch drin: Beiträge über Friedensforschung, über anarchistische u.a. TheoretikerInnen der Sozialen Verteidigung, Beispiele für soziale Verteidigungsaktionen wie der Widerstand gegen den Kapp-Putsch 1920, Prager Frühling 1968, „Republik Freies Wendland“, …

Da ich kein Abonnent der GWR war, es sie in meiner verschlafenen Heimatstadt Unna nicht zu kaufen gab und mir keine GWR-HandverkäuferInnen über den Weg liefen, spielte sie für mich in den folgenden Jahren keine weitere Rolle. Obwohl sie meinen Lebensweg vielleicht beeinflusst hat?

Ich textete platt pathetische Politsongs, klampfte und trommelte in Bluesbands, gründete 1984 eine verbalradikale SchülerInnenzeitung, engagierte mich in Dritte Welt-, Theater- und Friedensgruppen, als Jahrgangsstufensprecher, Schülervertreter,… Zu meinen Lieblingscombos gehörte Cochise (1), die anarchistische Folkrockband aus dem benachbarten Dortmund.

Ich verstand mich wohl als basisdemokratischer Pazifist, undogmatischer Sozialist, antiklerikaler Blasphemist, linksradikaler Sympathisant der grünen Fundis, aber noch nicht als Anarchist. So ist vielleicht zu erklären, dass ich die anarchistische GWR nicht schon früher abonniert habe. Sie war für mich zunächst eine, aber noch nicht DIE Zeitung.

Zu einer persönlichen Wiederentdeckung kam es erst, als ich 1986 nach Münster zog, um dort zu studieren.

Diese 290.000 EinwohnerInnen, 350.000 Fahrräder und 50.000 Studis zählende Stadt verströmt(e) neben dem CDU-Spießer-Muff und der Tristesse einer katholischen Provinzmetropole auch den verführerischen Duft einer Parallelgesellschaft: linke und linksradikale Gruppen (nicht nur) an der Uni, das Umwälzzentrum, die Kronenburg, die zehn Jahre lang instandbesetzte Frauenstraße 24, …

Als leicht zu beeindruckender Kleinstadtfuzzi empfand ich diese beschauliche Polit-Szenerie als das pulsierende Leben, als Paralleluniversum, in dem Utopien von einem selbstbestimmten Leben ohne Chef, Gott und Staat gedeihen können. So wurde ich dort 1986 in verschiedenen Gruppen aktiv, u.a. in einer VoBo-Ini, die mit Infoständen und direkten gewaltfreien Aktionen für den Boykott der Volkszählung 1987 agitierte. Als Betreiber eines Infostandes bzw. wegen „Aufforderung zu Straftaten“ (Herausschnibbeln der Kennnummer aus dem Volkszählungsbogen) stand ich 1987 erstmals vor Gericht. Mit einem radikalen Statement erfreute ich die anwesenden FreundInnen und empörte den cholerischen Richter, der bei der Verkündung des Strafmaßes über die Forderung des Staatsanwalts hinausging und zuvor – aufgrund von Zwischenrufen – damit drohte, den Saal räumen zu lassen.

Unsere Wohngemeinschaft war eine libertäre Keimzelle. Wir hörten Ton Steine Scherben, und bei unseren politischen Diskussionen spielten (die von uns abonnierten) Zeitungen eine große Rolle: taz, Arbeiterkampf, Konkret, Direkte Aktion, Schwarzer Faden und Graswurzelrevolution. (2)

Zwei MitbewohnerInnen engagierten sich bei Alibi, der Anarchistisch Libertären Initiative, die 1987 zum Papstbesuch in Münster eine antiklerikale Woche3 organisierte und 1988 das libertäre Zentrum Themroc4 sowie das anarchistische Magazin PROJEKTil5 gründete.

„Was ist eigentlich Anarchie?“, ein Buch aus dem Karin Kramer Verlag, brachte endgültig Gewissheit: Ich bin Anarchist!

Der libertär-sozialistische Virus hatte mich befallen. Ab jetzt war jede Ausgabe der Graswurzelrevolution fester Bestandteil meines Lebens.

Während viele „68er“ längst den „langen Marsch in den Arsch der Gesellschaft“ (Die 3 Tornados) angetreten und einstmals linke Blätter wie taz und Co. „die Chefredaktion“ eingeführt haben, funktioniert die GWR auch nach 33 Jahren immer noch nach basisdemokratischen Prinzipien6. Und die Themenvielfalt, die Utopiefreudigkeit, die Analysen aus gewaltfreier und libertärer Sicht, die Vitalität globaler Graswurzelbewegungen, die sich in unserem Organ widerspiegelt, das sucht mensch in allen anderen Zeitungen vergebens.

Und persönlich?

Sei es bei Hausbesetzungen, Demonstrationen und Aktionen, bei der Gründung einer Freien Alternativschulinitiative, bei der jahrelangen Arbeit an meiner Dissertation über „Libertäre Presse“, als Autor, Soziologe, AnArchivar, Infoladenkollektivist, als Mitbewohner in einem alternativen Wohnprojekt, als Freund, Lebensgefährte, (mittlerweile) Vater zweier Kinder, und seit November 1998 als Koordinationsredakteur der Graswurzelrevolution: Der Traum von einer gewaltfreien, herrschaftslosen Gesellschaft gibt mir Kraft und bestimmt mein Denken und Handeln.

Und: „ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird.“

(1) Cochise-CDs gibt es als GWR-Aboprämie, siehe S. 20. Zu Cochise vgl.: B. Drücke/M. Beinhauer: "Wirklich filmreif, die Geschichte". Ein Interview mit Pit Budde zur Geschichte von "Cochise", in: GWR 278, April 2003, S. 10 f.

(2) Ein Mitbewohner war bereits GWR-Abonnent, bevor wir Ende 1986 zusammenzogen. Nachdem sich unsere WG 1988 getrennt hat, gab es statt einem WG-Abo mindestens zwei neue GWR-Abonnenten. WG-Trennungen können also zu einer Erhöhung der GWR-Auflage führen!

(3) Die ReferentInnen der sehr gut besuchten und turbulenten antiklerikalen Woche 1987 wurden anschließend mit Hilfe des Gesinnungsparagraphen 166 a StGB wegen "Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen" von aufgebrachten ChristInnen angezeigt.

(4) Das Themroc musste Anfang 1992 geschlossen werden.

(5) Bis Mai 1992 erschienen 19 Ausgaben des auch überregional bekannt gewordenen PROJEKTil. Vgl.: B. Drücke: Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Ulm 1998, S. 298 ff.

(6) Siehe dazu auch: Über uns, Zur Geschichte der Graswurzelrevolution, Unter dem Rasen liegt der Strand (FR)