Thomas Wagner, Irokesen und Demokratie. Ein Beitrag zur Soziologie interkultureller Kommunikation, LIT Verlag, 2. Aufl., Münster 2006, ISBN 3825868451, 398 S., 29,90 EUR
In Erinnerung an meinen besten Freund, Stanley Diamond, Ethnologe und Poet aus New York, gestorben im März 1991, ohne den ich das Meiste, „In Search of the Primitive“, so nicht verstanden hätte.
Vor dem Hintergrund einer seit ca. 20 Jahren intensiver gewordenen HistorikerInnen-Debatte in den USA will Thomas Wagner ,,herausarbeiten, dass und wie die Indianer allgemein, die Irokesen und ihre 5, später 6 „Nationen“ die Entwicklung der USA erheblich beeinflusst haben.
Hierbei kommt ihm neben einer Fülle neuerer Forschungen eine alte ethno-historische Einsicht zugute. Dass ungeachtet herrschaftlicher Ungleichgewichte, die ansonsten nie vergessen werden dürfen, alle erobernden und eroberten Kollektive von Menschen als „Sieger“ und „Besiegte“ erheblich aufeinander eingewirkt haben. Die Richtung des Ein-Flusses weist nie allein von Sieg-Herrschaftsoben nach unten. Die „Sieger“ schreiben freilich „die“ Geschichte. In Sachen der Wechselwirkung sind qualitativ verschiedene Etappen zu unterscheiden. Zuerst zwischen den europäischen ImmigrantInnen, meist noch als Untertanen der britischen Krone, und den überall präsenten Stämmen der IndianerInnen. Sodann zwischen den USA, nach ihrer Gründung 1787, ihren Land und Leute nehmenden – sehr euphemistisch ausgedrückt – Grenzverschiebungen westwärts einerseits und den dezimierten, den äußerlich und innerlich zerschlagenen indianischen Stämmen des 19. Jahrhunderts andererseits. schließlich die Verhältnisse der in die Gegenwart reichenden Zeit, da die USA zur Vormacht der westlichen Welt und des Globus im Verlauf der heißen und kalten Kriege des 20. Jahrhunderts insgesamt wurden, die indianischen Bevölkerungen wieder zunahmen, allerdings durchgehend in Reservaten umzirkt.
Versuchte man eine allgemeine Einschätzung über 4 Jahrhunderte, dann lässt sich pauschal festhalten: Eine Vorgeschichte und Geschichte der USA ohne aktiven Part der IndianerInnen kann nicht geschrieben werden. Allerdings lässt sich durch keine Darstellung korrigieren, dass und wie sehr IndianerInnen durch eingeführte Seuchen, die früh ihre Angehörigen dezimierten, durch bald aggressiv, bald freundlicher aufgenötigte, individuelles Eigentumsstreben ins Zentrum stellende „Zivilisierungsversuche“, die herkömmliche Gesellungsformen auflösten, nicht zuletzt durch Kriege, Vertragsbrüche, Verdrängungen und Ein-Lagerungen in ihrerseits immer erneut vertragsbrüchig geschmälerte Reservate, zu einem bestenfalls randständigen, meist eher folkloristisch wahrgenommenen Teil der USA wurden.
Wagner kümmert all dies. Er will jedoch vor allem herausarbeiten, wie sehr die Irokesen in der Zeit der vorrevolutionären englischen Kolonien bis zum Prozess der nordamerikanischen Verfassung Begriff und Praxis des späteren US-amerikanischen Föderalismus durch ihr lebendes Vorbild mitgeformt haben. Das gelebte friedliche Neben- und Miteinander der Irokesenstämme und ihre ‚Diplomatie des Konsens‘ waren demokratieentscheidend. Angehäufte Besitztümer gab es nicht.
Diplomatie des Konsens heißt, alle Probleme diskutierend zu lösen. Das Palaver mitsamt einer Reihe zeremonieller Verkehrsformen ist der heute allgemein bekannte Ausdruck dafür. Dort, wo keine übereinstimmende Lösung möglich ist, dort wird entschieden, nicht zu entscheiden. Bis dann die umstrittene Sache, wenn sie strittig und wichtig anhält, erneut debattiert wird.
Wagner hilft mit, eine nicht nur in den USA vorherrschende Wahrnehmung zu korrigieren.
Sie legt die USA in ihren Eigenarten und Vorzügen nur (nach-)europäisch aus. Damit werden die USA nicht ‚getroffen‘.
Dadurch wird versäumt, am Exempel der USA aus europäischen Augen Aspekte und Elemente wahrzunehmen, die gerade heute eigenes Lernen stimulieren könnten, da kriegs- und polizeikräftig an der Festung Europa gebaut wird.
Wie müsste das Verständnis von Menschenrechten und Demokratie von der begrifflichen Wurzel an neu gefasst werden, damit sie nicht ‚guten Gewissens‘, mit ‚Leitwerten‘ gesüßt, neue Kriege, Ausschlüsse von Menschen, Unterdrückungen und Formen des „Cultural Genocide“ in sich bergen?
Das, was „Prozess der Zivilisation“ genannt wird, von stehendem Beifall all des weltweit versammelten Westens begleitet, wirkt nach innen und nach außen abschüssig ambivalent.
Wagners informations- und aspektreiches Buch mag allenfalls dort nicht ganz zufrieden zu stellen, wo er zu sehr, wenngleich weithin erfolgreich, darauf konzentriert scheint, nachzuweisen, dass die Irokesen vorrevolutionär, noch nahezu durchgehend selbstorganisiert, die ‚revolutionäre‘ Verfassung der USA gerade in ihren am meisten zur Demokratie neigenden Elementen beeinflussten. Dies taten sie nicht durch irgendeine machtvolle Auseinandersetzung. Sie wirkten allein durch das Vorbild, das von den werdenden AmerikanerInnen aus der Nähe eingesehen werden konnte. Das Vorbild aber verkörperte in lebendigem Funktionieren Kants Utopie des „Ewigen Friedens“ in schon verwirklicht vorscheinender Konföderation.
Im Schlussteil seiner langgestreckten Studie trifft Wagner eine Feststellung, die ich mit einer Hilfe argumentativ anreichern will: „Die Geschichte des Irokesenbundes ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie das Festhalten an ethnischen Selbstorganisationsformen und Traditionen nicht notwendig das Beharren in einer zum Untergang verurteilten primitiven ‚Ursprünglichkeit‘ bedeutet, sondern politische Entwicklungspotentiale freisetzt, die als eine ganz eigenständige Antwort auf die für akephale Gemeinschaften besonders bedrohlichen Zumutungen der Moderne gedeutet werden müssen.“
Richtig! rufe ich aus. Mehr noch, füge ich hinzu, scheint mir angebracht. Versteht man die Neuerkundungen in der Geographie und Geopolitik radikal anderer Gesellschaften, verglichen mit der kapitalistisch-etatistischen Moderne von hier und heute aus im Sinne meines eingangs erwähnten Freundes, Stanley Diamond, und vieler ihm ähnlich Argumentierender, dann ist „Primitive“ nicht mit „Ursprünglichkeit“, gar mit „Natürlichkeit“ zu übersetzen.
Nicht Suche und Sucht nach Entlastung menschlicher Schwere, nach Entlastung von Schwierigkeiten, Widersprüchen und Konflikten bedeutet „in search of the primitive“ und – mit Wagner – ein fasziniert faszinierender „Rückgang“ zur Konföderation der Irokesen. Es geht vielmehr darum, für Menschen in ihrer Vielheit und Verschiedenheit politische Gesellungsformen zu finden, die sich unter anderem folgenden Zielen in immer neuen Anläufen annähern:
Menschen als gesellige Wesen zu organisieren, die zugleich die Eigenheit jedes Menschen in seiner Gesellung achten;
Menschen und Menschengruppen in ihren unvermeidlichen Aggressionen und Konflikten so zu organisieren, dass Aggressionen und Konflikte gewaltfrei ausagiert werden können (was Freud unter Sublimation verstand);
Menschen und Menschengruppen so zu assoziieren, dass Freiheit positiv im Mittun sich äußert, aber durchgehend die jeweiligen Andersartigkeiten selbstbewusst und gewaltfrei geachtet werden können;
Herrschaft von Menschen über Menschen dadurch auf allen Ebenen und in allen Formen zu vermeiden, dass die Fülle der Verschiedenartigkeiten unter Menschen geachtet wird, jedoch jede Ansammlung von x-beliebigen Mitteln unterbleibt, die Strukturen lebenslanger und Leben übergreifender Ungleichheit auskristallisiert;
Arbeitsteiligkeit unter Menschen, die menschliche Gesellschaften in ihren Kunstfertigkeiten sich mehren lässt, nicht aufzuheben, aber keine einseitig und auf längere Dauer bestehende Teilung der Arbeit zuzulassen, die manche ihren Kopf und selbstbewussten Habitus ausbilden, andere aber, historisch immer die Mehrheit, zu diversen kleinköpfigen Arbeiten zwingt, die kein eigenes Selbstbewusstsein entwickeln lassen;
Entscheidungsvorgänge und die Verwirklichung der Entscheidungen nicht nur transparent und für alle verstehbar zu organisieren, sondern dafür zu sorgen, dass notwendige Institutionen nicht abheben und insgeheim Herrschaftseinrichtungen werden.
Die Frage der Gegenwart und der Zukunft ist die Frage danach, wie in dieser ca. 6 Milliarden Menschen zählenden Welt plural verschiedene Gesellschaften so organisiert werden könnten, dass sie nach innen ihren Mitgliedern gerecht werden, dass sie sich nach außen nicht abschotten; dass sie insgesamt einen global irokesischen Födus Pacificum bilden, wie Kant friedliches Zusammenexistieren ansonsten getrennter kollektiver Einheiten genannt hat.
In herrschaftlich verharschten Strukturen und Funktionen, deren Symbolen, Versprechungen und Strafen wachsen wir immer schon auf. Darum muss der an Kindern früh beobachtbare „anarchistische Trieb“, selber zu laufen, selber zu bestimmen, die „Ekstase des aufrechten Gangs“ (Ernst Bloch) zu erleben, neu und neu erweckt, bestätigt und bestärkt werden.
Auch darum strengt Anarchismus so an, die menschenrechtliche Basisqualität schlechthin, eine Anstrengung freilich, die froh, weil frei macht.
Sogenannt segmentäre Gesellschaften wie die Irokesen werden durch verwandtschaftliche Bande und ihre Vernetzungen getragen und zusammengehalten. Diese, wie man zu sagen pflegt, genealogischen Strukturen, bei den Irokesen „matrilinear“, also müttergerichtet, sind „allen Gesellschaftsangehörigen aus eigenem Erleben im sozialen Nahbereich unmittelbar vertraut“. „Aus diesem Grund“ tragen sie in einem erheblichen Maße dazu bei, dass die Angehörigen der Gruppe an den mit ihrer Hilfe eingerichteten Institutionen teilnehmen wollen.
Die Gruppen sind klein an Umfang. Circa 500 Personen umfassen sie. Sie nehmen nur geringfügig zu. Sie sind in gegenseitiger Hilfe aufeinander bezogen. Kollektive Rituale sorgen dafür, dass gemeinschaftliche Zusammenhänge lebendig bleiben.
Ungleichheiten, die einen Spalt erster Verherrschaftlichung bieten, werden beseitigt, indem sie umverteilt werden. „Es wurde geteilt, was da war, und entweder musste keiner oder (mussten, WDN) alle hungern.“ „Der Praxis des Teilens wird bei den Irokesen stets der Vorzug gegeben vor dem Prinzip der Besitzanhäufung.“
Jederzeit gegebene Chancen, mitzubestimmen oder bei bleibender Abweichung die Gruppe zu verlassen, gewährleisten, dass keine sozialen Spannungen sich explosiv stauen können.
Frauen und Männer üben zwar verschiedene Verrichtungen aus. Eine strukturelle Ungleichheit der Geltung und Anerkennung beider Geschlechter gibt es jedoch nicht.
Dort, wo es in „institutionalisierten“, also auf Dauer gestellten, in wiederkehrender Gewohnheit berechenbarer Anarchie zeitweilig „Führungspositionen“ gibt, sind diese bar aller Mittel eines „Erzwingungsstabes“.
Diese Beobachtung gilt insbesondere dort, wo die einzelnen „Nationen“ der irokesischen Fünfer-, bzw. Sechserkonföderation mit den anderen zusammenwirken. Jetzt zählt das strikte Gleichheitsprinzip. Es wird durch den immer nötigen Konsens garantiert. „Der Irokesenbund verbindet verwandtschaftliche Organisationsformen mit dem föderalen Integrationsprinzip auf eine Weise, die politischer Führung den herrschaftlichen Modus verwehrt und nur konsensualen Beschlüssen allgemeinverbindlichen Charakter zugesteht.“
Das, was Wagner bezogen auf den Irokesenbund schreibt, ist unbeschadet jeweils spezifischer Gestaltungsformen, die auch mit den unterschiedlichen Kontexten korrespondieren, exemplarisch für „segmentäre Gesellschaften“. Am originellsten ist es dort, wo der Irokesenbund die herrschaftsfreien Verfahrensweisen von der je einer „Nation“ internen Organisierungsweise auf die alle 5/6 Nationen übergreifende Organisationsform überträgt. „Innen“ und „außen“ werden einander kongruent. Auf diese Weise kann der Irokesenbund zu einem Muster „internationaler“ Organisation werden. So wichtig die historische Tatsache herrschaftsfreier „internationaler“ Organisation der Irokesen ist, so wichtig ist es, ihre Bedingungen und ihre Grenzen wahrzunehmen. Nur dann ist es eventuell möglich, das irokesische Muster in andere Kontexte zu übertragen, ohne von vornherein die Zerstörung des Musters durch nur noch nominell symbolischen Missbrauch befürchten zu müssen.
Die erste Bedingung besteht in der Realistik der irokesischen Verfahren. Gerade weil die Irokesen dauernde Herrschaftsneigungen unterstellten, trafen sie Vorkehrungen, um herrschaftlich besetzbare Ungleichheiten, nicht zuletzt die Ungleichheit in Sanktionsmitteln zu verhindern.
Der Versuch, Herrschaftsneigungen zuvorzukommen, hatte als zweite Bedingung zur Voraussetzung eine auf soziale Selbstsubsistenz angelegte, nicht auf Wachstum ausgerichtete Ökonomie. Formen der Produktion waren vonnöten, die mit verschiedenen Akzenten in der Arbeitsteilung der Geschlechter keine soziale/geschlechtliche Teilung in den Produktionsverhältnissen erlaubten.
Die ökonomische ‚Statik‘ wiederum, so die dritte Bedingung, wurde durch die geringe Bevölkerungszahl erlaubt und bestätigt. Weder eine Ökonomie noch eine ähnlich gerichtete Politik großer, expandierender Stufenleiter waren erforderlich.
Damit ist auch die vierte, vielleicht wichtigste Bedingung verbunden, dass die individualistisch privatisierten Interessen keine Rolle spielten.
So von Eigentum/Besitz sinnvoll die Rede sein kann, dem treibenden Kern aller kapitalistischen Vergesellschaftung, dann nur im Sinne der allen zugänglichen Allmende und der dauernden Umverteilung individuell erworbener Güter.
Damit hängt als fünfte Bedingung zusammen, dass das Selbstbewusstsein, der Irokesinnen und Irokesen von Kindesbeinen an ein Selbstbewusstsein war, das sich weitgehend mit dem Gemeinschaftsbewusstsein deckte. Es ging im gemeinschaftlichen, aufeinander bezogenen Handeln, nicht zuletzt den Zeremonien auf.
Zurecht haben sich Indianergesellschaften gegen nordamerikanische, herrschaftsbegründete Sanktionen wie den Vollzug der Todesstrafe gewehrt (der moderne Staat entstand mit zuerst dadurch, dass sich zentralisierende Herren die höchsten Bestrafungsformen aneigneten). Sie wurde ihnen in Auseinandersetzungen und bei angeblichen Vergehen von Indianern an Nordamerikanern aufgeherrscht. Ob indes eine äußerste Strafe wie die des „sozialen Todes“, zu der indianische, etwa irokesische ‚Nationen‘ verurteilten, unserer, jedenfalls meiner Vorstellung der Herrschaftsfreiheit entsprächen, kann füglich in Frage gestellt werden.
Gleiches von Sklaven, die zum Teil von Indianern gehalten wurden oder von zeremonialen Feind-Opfern, noch bevor angenommen werden kann, dass die nordamerikanischen Eindringlinge Aggressionen und Gewalt steigerten.
Was hätte sich, wenn Macht, Herrschaft und Profit nicht in enger Liaison den exklusiven Takt geschlagen hätten, von anderen lernen lassen.
Was würde sich heute, zu später „Entwicklungsstunde“ noch lernen lassen, da die Kapital- und Nation-Building auf ihre Bildner zurückschlägt, auch wenn sie sich aktuell noch selbst auskonkurrieren. Nähme man Nachhilfe bei den „historischen“ IndianerInnen und ihren vielfach gebeutelten heutigen VertreterInnen, man begriffe, dass Menschenrechte als die Bedingungen menschenangemessenen Lebens nicht individualistisch herausgepickt und zugeschrieben werden können. Menschenrechte sind nur Ausdruck der gesamten materiellen und immateriellen Kultur einer Gesellschaft insgesamt;
dass Menschenrechte nicht wie passive Seismographen bei Gefahren einzelner Rechte von Individuen behandelt werden dürfen, sondern durchgehend aktiv von allen einzelnen mitbestimmt werden müssen;
dass es darum verfehlt ist, individuelle Menschenrechte kollektiven entgegen zu stellen. Während kapitalistische Vergesellschaftung darin besteht – und die staatliche weithin dementsprechend -, Menschen zu vereinzeln, soziale Bindungen aufzulösen, um sie verrückt mit einem primären Interesse treiben und regulieren zu können, besteht indianisch Vergesellschaftung darin, die einzelne Person zur Person in, mit und durch die Gesellschaft werden zu lassen. Kurzum: Individuelle und kollektive Bedingungen und Möglichkeiten korrespondieren wechselweise miteinander. Während die kollektiven Bedingungen, formuliert man sie als kollektive Menschenrechte konstitutiv, im Sinne der Möglichkeit kollektiver Autonomie ausgerichtet an herrschaftsfreien Zielen sind, sind die individuellen als notwendiges Korrektiv sorgsam zu achten. Damit nie und nimmer gelten könne: „du bist nichts, dein Volk ist alles“, im ‚ewig‘ schreckenden Nazijargon gesprochen;
dass freilich die unausgesprochen „westlich“ selbstverständliche Verbindung Nationalstaat und Menschenrechte die Menschenrechte mehrfach zerstört: Zum einen werden die „eigenen“ „Staatsbürger“ (typisch deutsche Bezeichnung)/ citizens von vornherein anderen Menschen gegenüber privilegiert. In der BRD gelten viele Grundrechte nur für die Bundesdeutschen als anerkannte „STAATSbürger“; zum zweiten: Die Bevorzugung der „national-staatlich“ Angehörigen wirkt nicht nur inklusiv, sie schließt vielmehr andere aus.
Das gilt bis zum Extrem der Displaced Persons. Sie gehören keinem Nationalstaat an, haben keinen Ort, darum sind sie „displaced“. Sie werden wie die Spreu im Wind zwischen den Staaten verweht oder im Mittelmeer und anderwärts ersäuft.
Demokratie, die nicht in Assoziationen lebt, kann nicht einmal das nötige Minimum bürgerlichen Verständnisses und bürgerlicher Teilnahme realisieren. Sie bleibt abstrakt.
So wirklichkeitsfern die geringen Größenordnungen z.B. der irokesischen Nationen heute wirken, sie besaßen allenfalls dörflichen Umfang, so wirklichkeitsfern sind die „repräsentativen Demokratien“ infolge der Riesenaufgaben sowohl in repräsentativer wie demokratischer Hinsicht. Sie repräsentieren allenfalls die strukturelle und funktionelle Unfähigkeit zur Demokratie.
Man beachte allein die sozialen Raumerstreckungen, die Bevölkerungszahlen, die nötigen Mittel, Distanzen und Quantitäten zu “bewältigen‘, den nicht abnehmenden Sandhaufen täglich erforderlicher Entscheidungen, die Notwendigkeit, Zeiten abzukürzen, die Hektik der Beschleunigung also, die aller Kunst demokratisch nötiger Langsamkeit widerspricht und vieles andere mehr -; dann bleibt nur der demokratisch informierte Schluss: So geht es nicht.
Der demokratische Anspruch wird zur repressiven, heute mehr und mehr präventiv gekehrten Prätention und Kontrolle. Also lohnte es sich, mitten in unübersichtlich komplexen Quantitäten sich aufgabensandig mischender, anhaltend nachwachsender Berge auf dem indianischen Weg anzufangen. Von seinen Bedingungen informiert gilt es, daran zu arbeiten, funktionstüchtige Demokratien zu bauen.
Zwangsvereinheitlichungen wären nur dann zu vermeiden, wenn konsensuale Diskussions- und Entscheidungsformen bestünden. Sie müssten jeder/jedem Abweichender/em eine Chance lassen, nicht mitzutun. Das aber setzte Bedingungen voraus, wie sie – von Wagner beschrieben – bei den Irokesen gegeben waren.
Im Gegensatz zu nationalstaatlichen Ansprüchen und Zwangsvereinigungen mehr oder minder sublimer Art mit entsprechenden Gewaltkosten nach innen und nach außen stehen heute mehr denn je friedliche innere und äußere Konföderationen auf der Tagesordnung.
Welcher unverantwortliche Herrschaftsunsinn wird allein schon damit betrieben, dass Gesellschaftsbündel wie Nigeria mit circa 60 kulturell verschiedenen Gruppierungen diverser Größenordnung darauf ausgerichtet und dahingehend behandelt werden, wie „Nationalstaaten“ zu fungieren. Einsichtig sollte geworden sein, dass die meisten heute als „realistisch“ und wirksam geltenden politischen Orientierungs- und Organisationsmuster aller humanen, in bester europäischer Aufklärung herrschaftskritischer Vernunft widersprechen. Will man aber daran gehen, andere Organisationsweisen zu finden, zu erfinden und zu planen, dann, so zeigt sich, ist ein Rückgriff auf indianische Erfahrungen überaus fruchtbar.
Diese lassen sich nicht wie ein abstraktes Muster unmittelbar anwenden. Sie könnten jedoch erfahrungsgesättigt orientieren.
Sie vermögen dazu stimulieren, heutigen Zerstörungen unerhörten Umfangs mit konkreter organisierender Phantasie zu begegnen.
Terminhinweis
1.9., 17.30 Uhr, "35 Jahre Graswurzelrevolution"-Fest, Attac-Villa, Bahnhofstr. 6, Könnern:
Der Irokesenbund und seine heutige Relevanz
Referent: Prof. Dr. Wolf Dieter Narr