Der Musiker, Komponist und Autor Konstantin Wecker (* 1. Juni 1947 in München) ist einer der bekanntesten Liedermacher im deutschsprachigen Raum. Weitgehend unbekannt ist, dass er sich als Anarchist versteht. Am 21. Februar 2010 traf sich Wecker in Kassel zu einem zweistündigen Gespräch mit Graswurzelrevolution-Redakteur Bernd Drücke. Wir drucken Auszüge aus dem Interview in dieser und den folgenden Ausgaben. (GWR-Red.)
GWR: Gestern Abend hast Du in Kaufungen ein dreistündiges Konzert gegeben. Da waren wir von der Graswurzelrevolution mit einigen Leuten im Publikum vertreten. Wir waren sehr angetan.
Du hast dort auch über Herrschaftsfreiheit gesprochen und gesungen. Viele kennen Dich sicher eher aus anderen Zusammenhängen, auch im Zusammenhang mit der Linkspartei. ABER: ich habe jetzt in der Zeitpunkt, einer sehr lesenswerten libertären Zeitung aus der Schweiz, ein Interview mit Dir gelesen, wo Du Dich zum Beispiel zum Thema Anarchie und Anarchismus geäußert hast. Was bedeutet für Dich Anarchie?
Konstantin Wecker: Ich habe mich immer schon, auch in der 68er-Zeit, dem Anarcho-Lager zugehörig gefühlt, weil ich als junger Mann von Henry Miller schwer beeindruckt war. Von dem sollte man sich übrigens wieder beeindrucken lassen, der ist leider sehr in Vergessenheit geraten, ein großartiger Denker und Romancier. Er hat mal diesen schönen Satz gesagt: „Als Künstler hat man quasi die Verpflichtung, Anarchist zu sein. Es gibt gar keine andere Möglichkeit.“
Henry Miller ist immer sehr radikal gewesen in seinen Ansichten. Das hat mich mit bestätigt.
Als ich mit 14 in einem sehr strengen Gymnasium, dem Wilhelms-Gymnasium in München, wo noch etliche Alt-Nazis Lehrer waren, ein extrem konservatives Gymnasium, humanistisch, gewesen bin, da habe ich angefangen, mich zu politisieren, auf rein emotionale Weise. Wir hatten keine Vorbilder, wir hatten kaum ältere Jungs, die einen da in irgendeiner Weise hätten unterrichten oder einem etwas hätten mitgeben können. Die waren alle sehr brave Söhne reicher Eltern und wollten alle Jurist oder Arzt werden. Aber ich habe, aus irgendeinem Grund und auch durch mein freies Elternhaus bedingt, etwas von Bakunin mitgekriegt, habe dann Stirner und Bakunin gelesen und unglaublich angegeben damit.
Eigentlich kein Wort so richtig verstanden, aber richtig auf den Putz gehauen. Da war ich dann plötzlich Anarchist, hatte aber noch relativ wenig Ahnung, was das Ganze ist. Ich wusste nur, es ist gegen das, was mit der Schule zu tun hat. So habe ich mich mit dem Wort angefreundet.
Später dann, in der 68er-Zeit, da waren wir auch intellektuell mehr an der Sache dran. Da war mir klar, dass die einzige Möglichkeit für eine freie Welt auch eine herrschaftsfreie Welt sein müsse. Bestätigt hat mir das die Entwicklung, die auch viele linke Gruppen gegangen sind.
Am Anfang war die 68er-Bewegung wirklich eine sehr anarchische, kann man sagen, mit sehr viel Lust und Spaß dabei. Jeder konnte sich eigentlich und wollte sich so frei wie möglich entwickeln.
Dann kamen die ersten Kadergruppen. Und ich habe das gemerkt, dass meine Feinde in erster Linie, zwischen 1970 und 1980, weniger die Konservativen waren, sondern die verschiedenen Linksgruppen, die mich alle angegangen sind, die beim Konzert die Bühne gestürmt haben, das war die KPD/ML, das waren die Marxisten-Leninisten, die Trotzkisten.
Vor allem die Trotzkisten haben mir das Leben schwer gemacht. Die kamen dann immer zu mir und haben gesagt: „Ja, eigentlich bist du schon begabt, das ist alles in Ordnung, aber du hast keine Ahnung, wie es ideologisch wirklich läuft.“
Das war mir von Haus aus unsympathisch. Die wollten meine Texte umschreiben. Und das habe ich überhaupt nicht eingesehen. Du hast gestern das Lied „Der alte Kaiser“ [siehe Kasten] von mir gehört, und da gab es ganz viele Diskussionen, weil ich es gewagt habe, dass mir ein Herrscher, ein Diktator leid tat. Ich hatte ja Mitgefühl in diesem Lied für den 1974 gestürzten äthiopischen Kaiser Haile Selassie. Das Lied wurde konsequent ausgepfiffen, genau wie „Wenn der Sommer nicht mehr weit ist“, das war „zu poetisch“, da war auch ein Cello dabei, „so etwas macht man nicht“. So habe ich gespürt, dass die Ideologisierung wie jede Form von Fundamentalismus der Todfeind der Kunst ist, und der Poesie und der freien künstlerischen Entwicklung.
Du hast die Linkspartei angesprochen. Ich bin kein Mitglied der Linkspartei, ich habe das immer wieder betont. Ich habe auch keinen Wahlkampf für die Linkspartei gemacht. Ich hab aber gesagt, dass ich mich freue, dass es das gibt, weil wir einen Gegenpol im Parlament haben müssen, der wenigstens den anderen ein bisschen Schrecken einjagt. Und das hat die Linkspartei getan, das tut sie heute noch. Das sieht man an den Medienreaktionen, wie zum Beispiel Oskar Lafontaine in einer Art und Weise gebasht wurde, wie ich das noch nie in Deutschland erlebt habe, dass man sich auf eine Person so einschießt und versucht, sie fertig zu machen. Das war unanständig, was sie mit ihm gemacht haben.
GWR: Ja. Was ich denke, ist aber auch, dass spätestens dann, wenn Parteien – wie auch die Linkspartei – an die Macht kommen, dass sie dann an der Macht kleben und jede Schweinerei mitmachen, wenn ansonsten der eigene Machterhalt gefährdet wäre. Das sieht man auch an der Koalition von Linkspartei und SPD in Berlin. Spätestens wenn die Linkspartei an der Macht beteiligt wird, würde sie sich kaum noch von den Grünen unterscheiden. Und die Grünen haben innerhalb kürzester Zeit ihre Prinzipien über Bord geworfen. 1998 sind sie noch mit der Forderung „Keine Auslandseinsätze der Bundeswehr“ in den Wahlkampf gezogen. Kaum waren sie an der Macht beteiligt, haben sie 1999 den NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien mitgeführt und ihre pazifistischen Positionen vergessen. Ich glaube, das wäre bei der Linkspartei nicht anders, wenn sie an der Regierung wäre. Würdest Du sie auch noch unterstützen, wenn sie Regierungspartei wäre?
Konstantin Wecker: Nein, das möchte ich nicht. Ich unterstütze eine starke Opposition.
Und ich habe ja auch schon meine große Enttäuschung mit den Grünen hinter mir. Ich habe die Grünen unterstützt, auch im Wahlkampf mit Petra Kelly, als es darum ging, dass sie überhaupt ins Parlament kommen, wegen der berühmten 5 Prozent. Das war die Grüne Raupe, eine wunderbare Bewegung mit Künstlern aus allen Lagern. Das war wirklich sehr schön. Ich habe es wegen Petra Kelly gemacht. Ich bin ein sehr personenbezogener Mensch.
Ich bin auch der Meinung, dass die Petra uns fehlt, das war eine tolle Frau, die hätte die ganzen Schwenks nicht mitgemacht. Deswegen hat man sie auch in der Partei abserviert.
Unter Petra Kelly hätte es keine Zustimmung zum Kosovokrieg gegeben, da bin ich mir sicher.
GWR: Ich nicht.
Konstantin Wecker: Bei manchen Leuten kann man sich darauf verlassen. Petra Kelly war kein Machtmensch. Auf der anderen Seite gebe ich Dir in einem Punkt recht. Ich habe jetzt eine interessante Untersuchung gelesen, Arno Grün hat mir das zugeschickt, ich habe das auch auf meiner Website veröffentlicht, eine Untersuchung einer amerikanischen Psychologin, die behauptet, dass Macht verrückt macht.
GWR: Ja.
Konstantin Wecker: In dem Moment, wo man Macht hat, wird man ein Soziopath, weil die Wirklichkeit so eingeschränkt wird und einem die Wirklichkeit dann von den Zubringern erklärt wird.
Ich war mal mit Scharping unterwegs, ein paar Tage lang habe ich ihn mal begleitet auf einer Wahlkampftour, nicht als Wahlkampfhelfer, wir waren befreundet, bevor er zum Kriegsminister wurde. Da war er ja Kanzlerkandidat. Und da habe ich das erlebt, der arme Mann hat keine Gelegenheit mehr gekriegt, von der Wirklichkeit irgendetwas mitzukriegen, der Wirklichkeit der anderen. Der kriegt am Morgen als Spitzenpolitiker sein Dossier von irgendjemand, der das auch schon aussucht, dann kommt der Geheimdienst und gibt noch bestimmte Informationen, dann kommt ein Haufen Schleimer, die kreuzen deinen Weg, also wie sollst du da noch irgendetwas mitbekommen.
Das ist übrigens auch bei Künstlern gefährlich, wenn sie eine Position erreichen, wo ihnen allgemein zu viel gehuldigt wird, wo sie vor allem auch ökonomisch interessant sind für Plattenfirmen. Das war sicher einer der Gründe, warum ich mich so oft zurückgezogen habe nach Italien, wo es dann hieß: „Der Wecker, was ist denn mit dem los, der ist so unpolitisch“, als ich mit der Platte ‚Liebesflug‘ herauskam, weil ich den ganzen Druck nicht mehr aushalten wollte. Das hat sicher auch mit meiner Drogenproblematik zu tun, zu spüren, dass ich mich durch einen Erfolg verändert habe und dadurch, was im Umkreis eines Erfolgs plötzlich auf einen zukommt, was einen daran hindert, dass man mit den Menschen, mit denen man eigentlich zu tun haben möchte, weiterhin zu tun hat. (…)
Wenn du mal mit Politikern unterwegs bist: wie die hofiert werden, also allein wenn es um so Kleinigkeiten geht, einen Platz im Restaurant zu kriegen, das eigentlich voll ist, wenn du Politiker bist, die würden im Restaurant sofort auf der Stelle einen Extraanbau machen, um dich dort bewirten zu dürfen. Und so geht das wahrscheinlich überall, du willst in die Oper, du willst ins Theater, du bist wer, das ist wahrscheinlich ein Gefühl, auf das man nicht gerne verzichtet. Dann kommt noch etwas dazu, das ich in den letzten Jahren nie so bedacht habe: das Gehalt eines Bundestagsabgeordneten ist sehr hoch, und nach sieben Jahren, glaube ich, kriegst du eine Superrente. Da will keiner drauf verzichten, da will man an der Macht bleiben, koste es, was es wolle. Da muss man schon sehr viel Anstand in sich haben, um das in Frage zu stellen.
Wenn ich mir jetzt überlege, bei der Linken sind zwei Leute, was ich ihnen von Herzen gönne, ehemalige Hartz 4-Empfänger. Ich meine, das ist ja für die wie ein Lottogewinn, allein rein finanziell. Ich gönne es ihnen wirklich. Das ist auch toll, wenn ein Hartz 4-Empfänger plötzlich 7.000 Euro Gehalt im Monat kriegt. Da muss man menschliche Größe haben, auf das zu verzichten.
Das sind alles Sachen, die sollte man bedenken, wenn es um Abstimmungen geht, für Krieg, gegen Krieg und wie auch immer. Wenn es darum geht, um jeden Preis an der Macht zu bleiben, gut, in die Opposition geht man vielleicht noch, aber aus dem Bundestag will man, glaub ich, nicht raus. Aufgestellt werden, auf einen vorderen Listenplatz, das möchte man. Das ist sehr menschlich. Das ist keine große Anklage von mir. Niemand weiß, wie er in der Situation reagieren würde. Aber es ist wichtig, das auch zu wissen, wenn wir wieder an Wahlen denken und wenn wir von Politkern erwarten, dass sie doch endlich mal mehr Charakterstärke zeigen sollten.
Das Negativbeispiel ist Gerhard Schröder, der verdient jetzt 1,5 Millionen im Jahr, und Fischer ist nun Berater auch von BMW. Das ist schon eher ekelig. Dieser Werdegang von zwei Menschen, denen man anfangs noch Sympathie entgegengebracht hat, ist eine Katastrophe. Ich sage manchmal in meinen Konzerten, dass ich oft von der Presse gefragt werde, warum ich nicht zynisch geworden sei, was wohl ein allgemeiner Werdegang ist, zynisch zu werden, wenn man sieht, dass man eigentlich nicht viel im politischen Sinne bewirkt hat. Dann sage ich meinem Publikum: „Daran seid Ihr schuld. Ihr geht seit 30 Jahren in meine Konzerte. Ihr habt nicht aufgegeben!“
Es ist nicht jeder in diesem Land zum Schröder oder Fischer mutiert. Es gibt auch die anderen, die sind halt nicht so bekannt, und ich erlebe die und das macht mir Mut. Die Hoffnung, die ich weiterhin habe, und der Glaube an den Menschen haben damit zu tun, dass ich immer wieder, wie gestern Abend, erleben kann, da sind 700, 800, manchmal 1000, manchmal 2000 Leute, die ein wirkliches Bedürfnis haben, etwas zu verändern, die sich berühren lassen wollen, die nicht aufgegeben haben, die keine Zombies geworden sind.
GWR: Ich denke, Macht macht nicht nur blöd, wie Du es gerade beschrieben hast, sondern Macht sorgt auch dafür, dass sich der Charakter eines Menschen negativ verändert.
Konstantin Wecker: Macht macht soziopathisch.
GWR: Sobald eine Partei sich etabliert und in Machtstrukturen reinkommt, dann findet bei den Mitgliedern, die an der Macht oder im Parlament sind, auch ein Realitätsverlust statt. Sie bekommen dann meist ein Gefühl, dass sie jetzt etwas Besseres als der „kleine Mann“ auf der Straße seien. Sie sitzen dann im Raumschiff Bundestag oder im Raumschiff Europaparlament und schweben sozusagen über dem Ganzen.
Konstantin Wecker: Dieser Realitätsverlust, das ist auch etwas, das in dieser Studie herauskam, der geht mit der Macht natürlich Hand in Hand.
Es ist eben nicht nur die politische Macht. Ich weiß nicht, ob Du diesen Schiedsrichterskandal mitgekriegt hast?
Selbst in so etwas popelig Uninteressantem wie dem Schiedsrichterwesen entwickeln sich Machtstrukturen, die bis hin zu einer sexuellen Abhängigkeit führen können.
Überall, in unserem gesamten Gesellschaftssystem ist das so. Jeder, der auch nur ein kleines Machtpöstchen inne hat, wird es versuchen auszunutzen, wenn er nicht für sich persönlich eine andere, auch spirituelle Entwicklung gemacht hat. Es ist wichtig, über die Gefahren der Macht Bescheid zu wissen, auch wenn man jetzt gar nicht vor hat, in die Politik oder in eine Partei zu gehen. Du kannst auch im ADAC eine Machtposition haben, wo du hundert Abhängige hast. Ich nehme an, das wird es dort geben, gerade beim ADAC, das ist eine sehr hierarchische Struktur.
Man muss da an sich selbst arbeiten. Ich denke, vor allem auch als Mann gibt es eigentlich nur diesen Weg zu erkennen, dass Ohnmacht auch etwas sehr Vorteilhaftes haben kann. Das ist ja zunächst mal ein völlig negativ besetztes Wort, aber ohnmächtig zu sein heißt ja auch, dass man sich auf eine ganz andere Weise entdecken kann, dass man die Zärtlichkeit und die Liebesfähigkeit in sich entdecken kann. Was ich gestern Abend im Konzert gesagt habe, das wird für mich immer wichtiger: wenn wir eine andere Gesellschaft wollen, dann muss es durchaus aus dem Wunsch heraus geschehen, eine liebevollere Gesellschaft zu sein. Es kann ja nicht aus dem Wunsch heraus geschehen, wie im letzten Jahrhundert der großen Diktatoren, aus dem Wunsch, der Welt einen ideologischen Stempel aufzudrücken, in dem ich bestimme, wo es langgeht. Das ist der falsche Weg. Dagegen müssen wir uns mit allen Mitteln wehren, wenn so ein Anliegen wiederkommt. Aber der Wunsch, eine zärtlichere Welt, ein zärtlicheres Miteinander zu schaffen, ist notwendig.
Es ist interessant, was ich jetzt bei den Unibesetzungen [vgl. GWR 344 ff.] bemerkt habe. Ich war in Wien und in München.
In Wien habe ich auch ein paar Lieder im Hörsaal gespielt. Dann habe ich da etwas gesagt, wenn ich das 68 gesagt hätte, hätten sie mich von der Bühne geprügelt. Ich habe gesagt, wir müssen auch lernen, wenn wir eine gerechtere Welt wollen, dass wir untereinander einen zärtlicheren Umgang miteinander haben. Davon waren diese jungen Leute in Wien richtig begeistert angetan. Wie gesagt, 68 hätte ich keine Chance gehabt, das zu sagen.
Ich habe das Gefühl, diese neue Bewegung, und es wird eine bleiben, auch wenn sie im Moment ein bisschen eingeschlafen ist, hat gelernt, auch aus den ideologischen Fehlern, die nach 68 gemacht worden sind.
Und dann, das ist der Hauptgrund, haben die Frauen eine völlig andere Funktion in dieser neuen Bewegung, sie sind nicht nur Teil dieser Bewegung, sondern meistens der größere Teil. Ich habe das Gefühl, dass es fast 60% Frauen sind, und sie sind nicht wie 68 irgendwelche Anhängsel von ein paar Machos. 68 war schon eine Machobewegung, muss man wirklich sagen. Das war auch spannend, ich fand Rudi Dutschke richtig klug und toll, aber die Frauen hatten dort oft eher so eine Uschi Obermeier-Funktion oder sie waren im radikalen Feminismus gegen die Männer zusammen vereint. Was sicher notwendig war.
Da hat sich, glaube ich, viel geändert.
Ich war sehr angenehm überrascht von dieser Art, wie die Leute in den besetzten Unis miteinander umgehen, weil ich das ja noch aus den 70er Jahren im Kopf hatte. Da bist du ja, egal was du gesagt hast, immer von irgendjemand niedergebrüllt worden. Es kam gar nicht zu einem richtigen Gespräch, weil es immer irgendeine Gruppe gab, die dich fertig gemacht hat. Da habe ich mir damals schon gedacht, auch wenn die jetzt eine neue Welt schaffen, das möchte ich nicht, die ist genauso beschissen wie die alte.
Also, nur in einer zärtlicheren Welt können wir leben. Nur wenn wir eine größere Zärtlichkeit auch unter uns miteinander entwickeln, werden wir auch die Zärtlichkeit gegenüber der Natur wiederentdecken, die ja auch verloren gegangen ist, die vom Kapitalismus zerstört wird. Wahrscheinlich liegt es im Wesen des Kapitalismus zu zerstören. Der Kapitalismus ist eine zerstörerische Kraft.
Trotzdem müssen wir zwei Dinge machen. Auf der einen Seite an unseren Utopien einer herrschaftsfreien und gewaltfreien Gesellschaft festhalten, sie weiterentwickeln, zusammen mit anderen weiterentwickeln.
Auf der anderen Seite leben wir jetzt aber in einer Welt, wo wir genau wissen, dass diese Utopie nicht morgen, nicht übermorgen eintreten wird. Also muss man diesen realen Bezug herstellen, weil wir hier leben, weil wir hier leben wollen, weil wir wissen, dass wir nicht mit einem radikalen Umsturz mit Waffengewalt morgen die bessere Welt herbeizaubern können. Also müssen wir da ein bisschen schizophren sein, denke ich. Zum Beispiel muss man sich dann auch, obwohl man eigentlich gegen Macht ist und dagegen, dass eine Machtposition entsteht, freuen, dass es ein paar Politiker gibt, bei denen man einigermaßen das Gefühl hat, man kann ihnen vertrauen.
Ich bin aus der Kirche ausgetreten. Ich mag die katholische Kirche wirklich nicht besonders gern, vor allem die oberen Kreise nicht. Aber ich kenne ein paar wunderbare Pfarrer, mit denen ich bestens befreundet bin, die ich für großartige Menschen halte und die ihre Gründe haben mögen, nicht aus der Kirche auszutreten. Für die gibt es sicher gute Argumente, es nicht zu tun. Und die bewirken auch viel Gutes. Da ist es übrigens auch wieder spürbar: je höher in der Hierarchie das Ganze ansteigt, desto dogmatischer, fundamentalistischer, unangenehmer und bösartiger wird dann so ein System.
Es ist immer so. Bei den unteren Mitgliedern eines hierarchischen Systems, da kannst du noch die besten menschlichen Kontakte knüpfen.
GWR: Das versuchen wir ja auch.
Es ist außerdem wichtig, basisdemokratische Strukturen zu schaffen, in denen wir ein Stück gelebte Utopie realisieren können. Wie man etwas anders aufbaut, dafür ist die Graswurzelrevolution ein gutes Beispiel.
Die Zeitung gibt es seit 1972. Sie ist basisdemokratisch organisiert, alle Artikel erscheinen im Konsens, werden vorab im HerausgeberInnenkreis auch über E-Mail diskutiert, alle Entscheidungen, die die Zeitung betreffen, werden kollektiv getroffen. Und was schön ist, also, du hast ja gestern nach Deinem Konzert auch Helga Weber und Wolfgang Zucht kennen gelernt, das heißt, es gibt Leute, die 40 Jahre und länger dabeibleiben.
Wolfgang Zucht ist 81. Er hat im April 1965 schon eine Vorläuferzeitung der Graswurzelrevolution in Hannover mitgegründet, die Direkte Aktion – für Anarchismus und Gewaltfreiheit, also zu einer Zeit, als ich noch gar nicht geboren war. Das finde ich toll. Auf der anderen Seite hast du auch viele junge Leute, zum Beispiel die utopia, die gewaltfrei-anarchistische Jugendzeitung im Verlag Graswurzelrevolution. Ich habe den Eindruck, da ist ein großer Bedarf. Die Auflage der utopia liegt mittlerweile bei 25.000, das ist also die auflagenstärkste libertäre Jugendzeitung seit den 20er Jahren, als unter anderem der Anarchopazifist Ernst Friedrich anarchistische Jugendzeitungen wie Freie Jugend, Junge Anarchisten und Schwarze Fahne mit Auflagen bis zu 10.000 produziert hat.
Auch im Vergleich dazu; ich denke, da ist heute eine positive Entwicklung festzustellen, in dem Sinne, wie Du das ja eben beschrieben hast.
Konstantin Wecker: Das hat alles damit zu tun. Es gibt ein schönes Argument, wenn die Leute immer sagen: „‚herrschaftsfreie Gesellschaft‘, das liegt in der Natur des Menschen, dass das nicht möglich ist“, also, da wird ja dann immer die „Natur des Menschen“ angeführt.
Mit Arno Grün hatten wir einmal eine Pressekonferenz bei einem Pazifismus-Kongress. Meine Frage war, darum war mir das so wichtig, „Gibt es das überhaupt noch – Pazifismus? Wie sieht ein moderner, heutiger Pazifismus aus?“ Das war das, was wir diskutieren wollten, „Ist Pazifismus ein ‚Weicheitum‘?“, was uns immer vorgeworfen wird.
Wir sind zu keinem Schluss gekommen, haben uns aber darauf geeinigt, es wenigstens „radikalen Pazifismus“ zu nennen. Dann hat ein junger Reporter den Arno Grün gefragt: „Herr Professor Grün, seit 6.000 Jahren sind doch die Menschen so.“ Und da sagt er: „Ja, und seit 6.000 Jahren machen sie es falsch.“ Das war für mich so ein klarer und radikaler Satz. So ist es, seit 6.000, 7.000 Jahren ist alles verkehrt, die Erziehung ist verkehrt, das Gesellschaftssystem, die Art und Weise, miteinander umzugehen.
Da könnte man jetzt die Thesen von Claudia von Werlhof einführen [vgl. GWR 335], den radikalen Ökofeminismus, eigentlich ein zu hässliches Wort für ein so schönes Anliegen, also, eine Gesellschaft des Miteinander, anstatt einer des Gegeneinander, der Konkurrenz und des Konkurrenzdenkens.
Je älter ich werde, umso überzeugter bin ich: 6.000 Jahre sind im Vergleich zu 100.000 Jahren Menschheitsgeschichte nicht so wahnsinnig lang. Das war eine Fehlentwicklung. Es muss doch eine sein. Schau Dir doch an, was wir mit der Erde machen, was wir mit den Menschen machen. Ich weiß gar nicht, wie es die Herrschenden immer wieder schaffen, uns einzureden, dass das selbstverständlich sei, was da abläuft. Man versucht uns einzureden, es sei normal – diese Welt voll von Kriegen, voll von Hass und Terror, voll von Zerstörung, bis hin jetzt zur planetarischen Zerstörung, weil wir nämlich das Klima zerstören.
Was immer vergessen wird bei Kriegen, ist, was da auch an Natur zerstört wird, an Tieren, an Pflanzen, was da vernichtet wird mit einer Brutalität, überleg Dir diese schrecklichen Napalm-Geschichten, damals Agent Orange in Vietnam. Man hat immer über Menschen geredet, zu Recht. Aber was ist da auch kaputt gemacht worden an unwiederbringbaren Ressourcen. Schau Dir diese Welt an, diese wenigen Superreichen und die unendlich vielen armen Menschen. Jeden Tag verhungern 50.000 Kinder. Das muss doch das falsche System sein. Sie schaffen es aber, uns zu sagen, das ist ganz natürlich, ganz selbstverständlich. Der Neoliberalismus will uns erklären, dass das so ist, das sei die „Natur des Menschen“.
Das lasse ich mir nicht einreden. Ich habe kleine Kinder und weiß: Der Mensch ist ein empathisches Wesen, fähig zu Liebe und Mitgefühl.
GWR: Was mich gefreut hat, da haben wir eben schon in unserem Vorgespräch drüber gesprochen, dass am 15. Februar 2010 rund 15.000 Leute in Dresden verhindert haben, dass die Nazis dort ihren europaweit größten Aufmarsch machen können. Du warst schon im Vorfeld an der antifaschistischen Mobilisierung beteiligt. Du hast zum Beispiel auf youtube.com einen viel beachteten Aufruf gemacht. Kannst Du Deine Position dazu erläutern?
Konstantin Wecker: Ja, meine Position war, dass ich es geradezu als empörend empfand, dass das einzige Mittel, das uns gewaltfrei Demonstrierenden überhaupt noch bleibt, nämlich die Blockade, dass das auch noch kriminalisiert wird. Ich meine, dann dürften wir uns wirklich nur noch Händchen fassend in irgendwelche Ecken stellen, währenddessen marschieren Nazis hinter uns vorbei, gut getrennt von der Polizei, und wir dürfen dann „we shall overcome“ singen und die anderen singen das Horst-Wessel-Lied. Das kann ja wohl nicht sein.
Also, irgendwo gehört zur Demokratie der Ungehorsam. Ich hätte jetzt natürlich nicht dazu aufgefordert, wenn da Gefängnis von drei Jahren drauf stünde, dann hätte ich mich zurückgehalten, dann muss man für sich selbst entscheiden, wie mutig man ist oder nicht. Aber nachdem es ja nur eine Ordnungswidrigkeit ist, kann man die Leute ja auch auffordern und sagen: „Hey Moment mal, falsch parken tut ihr ja auch öfters, dann könnt ihr auch Nazis blockieren“.
Das habe ich in meiner Verantwortlichkeit noch gesehen, Menschen zu einer Ordnungswidrigkeit aufzurufen, ohne Menschen in große Gewissensprobleme zu stürzen. Man muss schon aufpassen, wenn man eine gewisse Funktion hat, wie bei mir, und Menschen dann auch schon mal hinhören auf das, was ich sage, vielleicht auch ein paar junge Menschen, da muss ich schon aufpassen, zu was ich sie auffordere. Wie gesagt, das konnte ich ethisch mit mir vereinbaren.
Wir müssen immer wieder daran denken, wie wichtig der Ungehorsam ist. Natürlich will jedes Staatssystem seine Bürger zum Gehorsam erziehen. Jeder Staat will sagen, „die anderen Staaten sind die schlechteren, die unmenschlicheren, die grausameren. Wir sind das beste System, das es gibt. Und damit das so bleibt, müssen wir alle gehorsam sein“.
Wenn wir aber alle gehorsam sind, bleibt es nicht so, selbst wenn das System ganz gut ist. Natürlich ist unser System gut im Vergleich mit einem faschistischen System, gar keine Frage. In den 70er Jahren hatten wir einen richtig guten Sozialstaat. Das weiß man erst jetzt richtig zu schätzen. Erst jetzt wissen wir, wie gut der war. Damals wusste ich das nicht, muss ich ehrlich sagen.
GWR: Ich denke, dass der Sozialstaat seit 20 Jahren peu á peu abgebaut wird, hängt auch damit zusammen, dass die Systemkonkurrenz nicht mehr da ist. Dadurch, dass es auf der anderen Seite des „Eisernen Vorhangs“ den staatskapitalistischen „Realsozialismus“ gab, war der Kapitalismus im Grunde gezwungen, das eigene System auch für unterprivilegierte Menschen in den Metropolen relativ erträglich zu gestalten.
Konstantin Wecker: Nun müssen wir aber auch schauen, dass die Linke als Korrektur wirklich bleibt, auch wenn man sie im Grunde des Herzens nicht so mag oder wie auch immer. Aber es ist wichtig, es ist eine wichtige Korrektur. Es sei denn, man ist der Meinung, es müsse jetzt alles zusammenbrechen, damit sich überhaupt etwas ändert. Diese Anschauung gibt es ja auch.
GWR: Wenn du mit „die Linke“ jetzt die Partei meinst, möchte ich widersprechen. Ich denke, die wichtigsten Akteurinnen für positive soziale Veränderungen sind die sozialen Bewegungen von unten. Die Partei „Die Linke“ und die parteinahe Rosa Luxemburg Stiftung sind als Teile in vielen sozialen Bewegungen mittlerweile nicht unwichtig. Aber im Parlament oder in der Regierung ist die Entwicklung der „Linken“ mit großer Skepsis zu betrachten. Wie wir das ja eben auch diskutiert haben, kann die Macht Menschen so korrumpieren, dass sie dann auch – wie 1999 Grüne und SPD – zu Kriegsverbrechern werden können, wenn es der eigenen Machterhaltung dient. Das liegt im Wesen von Parteien.
Konstantin Wecker: Wir müssen aber sehen, dass die Linke bisher die einzige Partei ist, die soziale Bewegungen integriert. Das muss natürlich bleiben. Aber ich gebe dir recht, das Wichtigste ist, wie wir es jetzt in Dresden gesehen haben, die sozialen Bewegungen mehr noch miteinander zu vernetzen. Und dann auch zu spüren, was wir für Möglichkeiten haben, die vielleicht noch gar nicht ausgeschöpft sind.
Ein bisschen entmutigt wurde ich bei den ganzen Vorkommnissen in Straßburg 2009, weil ich da das Gefühl hatte, da hat der Staat eine so hässliche Fratze gezeigt in einer Art und Weise und im Verbund mit den Medien, wie sie immer wieder dieses angeblich von „Chaoten“ zerstörte Hotel, in dem kein Mensch mehr gewesen ist, das ein Abbruchhaus gewesen ist, gezeigt haben. Ich habe in meinem Leben genug Demonstrationen mitgekriegt, um zu wissen, wie viele Agents provocateur es definitiv gibt, die dann die ersten sind und sagen „Kommt, lasst uns mal ein bisschen Steine schmeißen“, damit dieses Bild dann wieder in der Zeitung ist.
Also, schon in Genua 2001 hast du gesehen, dass da schon faschistoide Kräfte am Werk waren. Wenn man dem Buch von Jutta Ditfurth Glauben schenken kann, und das kann man, glaub ich, dann mussten die in den Gefängnissen Mussolini-Lieder singen und den Hitler-Gruß machen. Allein, dass das kein Thema in den Medien war, das heißt, ab bestimmten Punkten halten sie alle zusammen.
Anmerkungen
Teil 2 dieses Interviews erscheint im Mai in Graswurzelrevolution Nr. 349
Der alte Kaiser
Der alte Kaiser steht im Garten und wirft Schatten.
So überflutet ihn der Mond. Der Kaiser träumt:
In die vergoldeten Paläste strömten Ratten,
und in den Sälen seien wilde Pferde aufgezäumt.
Die ritten Tote, und ein dumpfes Klagen
zerriß die Erde, und der Kaiser flieht
und schreit zum Mond hinauf: Dich muß ich haben.
Und hofft auf einen, der ihn in den Himmel zieht.
Schlaf, Kaiser, schlaf,
denn morgen werden sie kommen.
Du hast ihnen viel zuviel
von ihrem Leben genommen.
Der alte Kaiser steht im Garten und wird älter
und ängstigt sich und hebt verwirrt die Hand.
Die kaiserlichen Nächte werden kälter,
ein harter Atem überfällt das Land.
Schon schmieden sie am Horizont die Schwerter,
der Glanz der fetten Zeiten ist verpufft.
Der Kaiser spürt: er war schon mal begehrter,
und gräbt sich eine Kuhle in die Luft.
Schlaf, Kaiser, schlaf,
denn morgen werden sie kommen.
Du hast ihnen viel zuviel
von ihrem Leben genommen.
Der alte Kaiser steht zum letztenmal im Garten.
Noch ein paar Stunden, und der Kaiser war.
Er läßt die Arme falln, die viel zu zarten,
und wittert und ergibt sich der Gefahr.
Die Tränen der Paläste werden Meere.
Sogar die Ratten fliehen mit der Nacht.
Und mit der neuen Sonne stürmen stolze Heere
die alte Zeit und ringen um die Macht.
Stirb, Kaiser, stirb,
denn heute noch werden sie kommen.
Du hast eben viel zuviel
von ihrem Leben genommen.
(auf der Konstantin Wecker-LP "Genug ist nicht genug", 1977, www.wecker.de)