Vom 22. bis zum 24. Juni 2012 fand in der Französischen Normandie in Montabot unweit von Le Chefresne ein "Widerstandswochenende gegen die HSL" statt. Die Polizei setzte Granaten ein. Es kam zu Schwerverletzten.
Das 350 EinwohnerInnen-Dorf Le Chefresne ist bekannt geworden, weil es sich vom Stromnetzunternehmen RTE nicht kaufen ließ und gegen den Bau einer Hochspannungstrasse à zwei mal 400.000 Volt kämpft. 197.518 Euro bot RTE an.
Das ist der Jahreshaushalt der Kommune. Damit soll für die Hochspannungsleitung (HSL) Akzeptanz geschaffen werden. 46 Gemeinden sprachen sich zu Beginn gegen die neue Hochspannungsleitung aus. Heute sind es nur noch vier. Der Widerstand wurde „gekauft“ sagen viele. Das ist keine neue Taktik der Atommafia.
AKW-Standorte oder auch die Gegend um Bure (geplantes Atommüllendlager in Lothringen) wurden in ähnlicher Art und Weise „konvertiert“. Doch tot ist der Widerstand in der Normandie nicht – im Gegenteil. Seit Beginn der Bauarbeiten Ende 2011 hat er sich auf die Baustellen verlagert. Dabei gerät „das Ganze“, nämlich die Atom- und Energiepolitik nicht aus dem Blickfeld.
Ich habe die Widerstandstage im Juni zum Anlass genommen, mir ein persönliches Bild von der Situation zu machen. Zurück komme ich begeistert und schockiert, voller Hoffnung und wütend zugleich.
Unterwegs war ich mit Schreibblock, Diktafon und Fotoapparat – Schwimmbrille und Mundschutz gehörten bei der Demonstration am 24. Juni auch dazu. Denn mein Presseausweis hätte mich vor der Polizeigewalt nicht schützen können!
Das Widerstandscamp in Montabot
Sorge, das Camp nicht zu finden, brauchen sich die BesucherInnen nicht machen. Der Hubschrauber im Tiefflug zeigte wo es hin geht. An etlichen Straßenkreuzungen standen schwerbewaffnete Menschen in Uniform, die meinen Ausweis sehen wollten. Das war die Militärpolizei. Wer Atomkraft sagt, sagt auch Polizeistaat. Der Schock war nach 20 Stunden Zugreise groß, die Anspannung sofort zu spüren.
PressevertreterInnen waren auf dem Camp unerwünscht. Das sorgte für Diskussionen, denn ein Anliegen war ja auch, Inhalte des Antiatomkampfes nach Außen zu tragen. Es herrschte aber Misstrauen der Presse gegenüber. Und die Angst vor Repression. Erst wenige Tage vorher waren drei AktivistInnen für einen Tag in Gewahrsam genommen worden. Ihr Vergehen?
Sie haben anlässlich der Demonstrationen gegen den letzten Gorleben-Castor in Valognes mit der Presse geredet und werden für die „unerlaubte bewaffnete Zusammenrottung“ und Sachbeschädigungen an der Bahnanlage (mit)verantwortlich gemacht.
Ich schloss mich „Altermedia“ an, der Berichtserstattung aus der AktivistInnen-Perspektive. Altermedia achtet auf Anonymität. Es hat mit dem Nazi-Internetportal „altermedia“ nichts zu tun, sondern ist eine Wortschöpfung der alternativen Szene in Frankreich und steht für alternative Medien, selbstgemacht, selbstbestimmt, in Abgrenzung zum Mainstream.
Ca. 400 Menschen hatten ihr Zelt aufgeschlagen. Die Workshops waren gut besucht.
EinwohnerInnen kamen auch vorbei. Die Einheimischen beleuchteten die Geschichte der Atompolitik in der Normandie.
Es ging gleich nach dem Krieg mit der militärischen Nutzung der Atomkraft los. Die Ökobewegung hat es dann schwer gehabt. Bei ihrem Entstehen waren bereits Tatsachen geschaffen worden.
Landwirte erzählten von ihren Problemen mit den bestehenden Hochspannungsleitungen.
In der Normandie gibt es bereits zwei Leitungen. Verringerte Milchproduktion, plötzlicher Tod bei vielen Tieren sind die Folge. In solchen Fällen bieten das Stromnetzunternehmen RTE, die Landwirtschaftskammer und das Landwirtschaftsministerium Geld. In den Verträgen steht dann, dass über dessen Inhalt niemand unterrichtet werden darf, ohne dass dies schriftlich von den Parteien genehmigt wird. Wer sein Schweigen bricht, muss das Geld zurück zahlen. Eine effektive Art, die Auswirkungen der Hochspannungsleitung zu verstecken.
Ein Bauer erklärte, die öffentliche Auseinandersetzung um die Trasse habe immerhin ein paar Betroffene dazu gebracht, das Tabu zu brechen. Das feuchte Klima und der eisenreiche Boden begünstigen Streustrom. Das wird als Ursache für die Probleme angesehen. Gesicherte Erkenntnisse gibt es aber nicht.
Dass es denn TeilnehmerInnen ums Ganze ging, zeigte sich bei einem gut besuchten Workshop um internationale Energie-Großprojekte. Angelpunkt war die so genannte europäische Stromautobahn. Von der Normandie, über Spanien und „Desertec“ nach Deutschland. Die Normandie produziert bereits 300% ihres eigenen Stromverbrauchs! Ein neues AKW befindet sich im Bau; ein riesiges Gezeitenkraftwerk ist in Planung. Als ich die Situation in Deutschland schilderte, die neuen Kohlekraftwerke und den geplanten Bau von neuen Hochspannungsleitungen erwähnte, wurde die Brücke zur „Europäischen Stromautobahn“ geschlagen. Der gemeinsame Nenner der genannten Projekte ist der Zentralismus und ihre Durchsetzung über die Köpfe der Menschen hinweg. Energiewende ja, aber dezentral! Darüber waren sich alle Beteiligten einig.
Aktion und Explosion am 24. Juni
„Wer hat noch keine Schwimmbrille? Wo ist das Augenspülmittel hin? Wer hat Atemschutzmasken übrig?“ Die Polizeipräsenz um das Camp ließ befürchten, dass diese Ausrüstung benötigt wird.
Es sollte an diesem verregneten Tag zwei Demonstrationszüge geben. Eine ruhige Demo mit Kind und Kegel und eine „offensive“ Demonstration mit einer geplanten Straßenblockade. Die DemonstrantInnen waren dementsprechend mit Schutzbrillen, Masken und Gegenständen zum Barrikadebau ausgerüstet. Barrikaden gehören in Frankreich regelmäßig zu einer Demonstration dazu. Sitzblockaden werden von der Polizei mit Tränengas angegriffen.
Die „Divergenz-Aktionen“ sollten die Logistik der Polizei beeinträchtigen. Nur so hätten sich andere dem Objekt des Protestes nähern können: den Strommasten.
So weit kam es an diesem Sonntag nicht. Die „ruhige Demonstration“ wurde nach wenigen Hundert Metern mit Tränengas angegriffen und musste den Rückzug antreten.
Der „offensiven“ Demonstration erging es nicht viel anders – trotz Ausrüstung, die mir in der Situation wie eine Ritterrüstung aus dem Mittelalter vorkam.
Die Polizei griff nach Hundert Meter ohne Vorwarnung an. Der schmale Waldweg wurde den DemonstrantInnen zum Verhängnis. Bereits beim ersten Angriff gab es Schwerverletzte. Ein Teil der DemonstrantInnen wich in ein Feld aus. Die Verletzten wurden versorgt.
Doch selbst auf die SanitäterInnen, die sich um die Verletzten kümmerten, schoss die Polizei. Eine Praxis die selbst in einer Kriegssituation als Verbrechen gegen die Menschheit gilt.
Innerhalb einer halben Stunde wurden ca. 25 Menschen verletzt. Die meisten durch die Splittergranaten. Eine Frau wurde von 15 Splitterteilen am ganzen Körper (Brust und Vagina inklusive) verletzt. Ein Splitterteil wurde im Krankenhaus entfernt, weil ein Nerv durchgeschnitten wurde – was ihr Schwierigkeiten bei der Steuerung ihrer Finger bereitet.
„In unserer schönen Demokratie darf mit Kriegswaffen auf die Bevölkerung geschossen werden“, erklärten die DemonstrantInnen später.
Zwei Personen wurden am Auge schwer verletzt. Einen Demonstranten traf eine Granate am Kopf, ihm bleibt an einem Auge nur noch 1/20 der Sehfähigkeit. Er wurde bewusstlos zum Camp zurück gebracht, der Krankenwagen wurde über eine halbe Stunde von der Polizei in Campnähe festgehalten. Ein zweiter Krankenwagen erreichte nie sein Ziel. Die anderen Verletzten mussten auf eigene Faust mit FreundInnen zum Krankenhaus. Was keine einfache Sache war, die Polizei hatte Sperren um die Krankenhäuser eingerichtet, um an die Identität der Verletzten zu kommen.
Der Tag nach dem Schock
„Es hat mich an Malville erinnert; das war das Aus der Antiatombewegung“, erklärte mir ein etwa 60jähriger Aktivist.
Malville steht für den schnellen Brüter Superphoenix und den Tod von Vital Michalon 1977. Eine Splittergranate traf damals Vital Michalon auf Brusthöhe, kurz darauf starb er, offiziell an einem Herzinfarkt. Mehre Demonstranten verloren eine Hand oder einen Fuß, als die Granaten explodierten. Genau solche Granaten setzte die Polizei in Montabot ein: Bei der Explosion dieser Granante ist eine extrem laute Detonation zu hören (160 Dezibel), Gummigeschosse sowie Splitterteile aus Metall verteilen sich. Eine Explosion am Boden macht einen Krater von einigen Zentimeter. Die Splitterteile der Granate können Menschen treffen und sich mehrere Zentimeter durch das Fleisch in den Körper fressen.
Malville war für viele Menschen ein Schock. Viele resignierten. Es wurde nach „Schuldigen“, nach „Erklärungen“ gesucht. Eine Spaltung der Antiatombewegung war die Folge. Zwischen „guten“ und „bösen“ DemonstrantInnen, zwischen „militanten“ und „gewaltfreien“.
Genau diese Schwächung wollte der Staat erreichen. Es war das Ende einer Massenbewegung (mit wenigen Ausnahmen in der Zeit danach), die von der Staatsgewalt niederschlagen wurde und sich dann selbst zerfleischte.
Wie es sich in der Normandie nun, nach der Wende vom 24. Juni entwickeln wird, ist ungewiss. Es fühlte sich an diesem Tag besonders seltsam an. Die Geschichte war nicht weit – damit ist Malville gemeint.
Die Bewegung in ihrer Vielfalt muss sich zunächst mit sich selbst beschäftigen und einen gemeinsamen Weg finden. Die Nachbereitung hat bereits angefangen.
Ihre bittere Enttäuschung formulierten zahlreiche AnwohnerInnen. „In der Presse ist nur die Rede von Chaoten, das war ein Fehler, den Journalisten den Zutritt zum Camp zu verbieten. Die haben nur die Bilder der Auseinandersetzung mit der Polizei!“
Der Schock bringt Unterschiede zu Tage. Die einen lehnen das ganze System ab, die anderen engagieren sich allgemein gegen die Atomkraft, andere stört es nur weil es den eigenen Garten betrifft.
Was den Widerständigen am meisten zu schaffen macht sind Ohnmachtgefühle. Die Explosion vom 24. Juni war eine Folge der Entwicklungen seit Baubeginn im November.
Der Staat steigert die Intensität der Repressionsmaßnahmen: Festnahmen, Hausdurchsuchungen, Hubschrauber im Tiefflug über die Häuser zur Tages- und Nachtzeit und nun der Einsatz von Splittergranaten bei Demonstrationen – dazu war es vorher noch nicht gekommen. Bei den EinwohnerInnen liegen die Nerven blank.
Die Anspannung, auch innerhalb der Bewegung, muss aus dieser Perspektive betrachtet werden. „Der Staat reagiert mit dieser Gewalt, weil wir einfach zu gut sind“, schmunzelt ein Aktivist. Er hält eine 21 Seiten lange einstweilige Anordnung in der Hand. Das Stromnetzunternehmen RTE untersagt ihm, sich einem Strommast zu nähern. Pro Verstoß und angefangener Stunde muss er 2000 Euro zahlen. Begründet wird dies mit den über 60 Sabotageaktionen an Masten oder Baustellenmaterial seit Beginn der Bauarbeiten.
Polizeibekannte Menschen haben diese Verfügung vor den Aktionstagen von Polizisten persönlich ausgehändigt bekommen. Die Liste ist nicht einmal vollständig, erklärt ein anderer Aktivist mit glänzenden Augen. Über 60 Sabotageaktionen und es wurde keiner erwischt – bei der Polizei liegen die Nerven auch blank.
Das ist nicht zu übersehen.
Streit und Anspannung überwiegen an diesem Tag. Werden die Sabotageaktionen aber erwähnt, gibt es viel Gelächter. Ein Grund zu denken, dass es weiter gehen wird. Ihr Ziel haben die Menschen nicht aus den Augen verloren.
Anmerkungen
Dossier mit weiteren Informationen:
blog.eichhoernchen.fr/post/Erlebnisse-Einblicke-im-Widerstand-gegen-HSL-FR