schwerpunkt: prostitution

Einige Gedanken zur Prostitutionsdebatte

| Luzie Morgenstern

Kann denn eine repressive Gesellschaft doch nur repressiv denkende Menschen hervorbringen?

Diese "alte" Frage ging mir durch den Kopf, als nicht nur Feministinnen, sondern auch Linke und sogar Libertäre in Diskussionen im Zusammenhang mit dem von Alice Schwarzer initiierten "Appell gegen Prostitution" und der Kriminalisierung von Prostitution in Frankreich, direkte und indirekte Forderungen nach Repressionen stellten.

Ungeachtet jahrzehntelanger Sexismusdebatten werden Frauen in diesen Diskussionen als Opfer festgeschrieben, die es (auch präventiv) durch Machtmittel zu schützen gilt. Dass es faktisch ein Berufsverbot bedeutet, wenn auch selbstgewählt und selbstbestimmt arbeitende SexualdienstleisterInnen / SexarbeiterInnen bzw. die KundInnen, Repressionen fürchten müssen, wird entweder gar nicht hinterfragt oder in Kauf genommen. Wenn nicht gar die Existenz von freiwillig in diesem Bereich arbeitenden Menschen komplett geleugnet wird.

Muss nicht gerade, wer eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft anstrebt, bei schwierigen Fragen differenzieren und darauf achten, nicht ebenfalls in repressive Denkstrukturen zu verfallen?

In der allgemeinen Debatte wird selten zwischen Prostitution und Zwangsprostitution unterschieden. Es wird ausschließlich die Betroffenheitsopferperspektive als die einzig akzeptable im Rahmen der Diskussion zugelassen, während Frauen (Männer sowieso), die sich trauen, anders zu denken und das aussprechen, schnell als UnterstützerInnen der Täter diffamiert werden.

Es sei dahingestellt, inwieweit es nicht ein Missbrauch von Opfern der Zwangsprostitution ist, wenn diese in der Öffentlichkeit vorgeführt werden, und dort so manche Reaktion der Betroffenen vermuten lässt, dass sie die eigene Vergangenheit noch nicht verarbeitet haben.

Legalisierung gegen Zwangsprostitution?

Das 2002 in der BRD in Kraft getretene Prostitutionsgesetz wurde von vielen als Fortschritt gefeiert.

Prostituierte dürfen ihren Beruf straffrei ausüben und haben Rechtsansprüche auf das vereinbarte Entgelt. Die Änderung des Zuhälterei-Paragraphen ermöglichte, straffrei ein Arbeitsumfeld für Prostituierte zu schaffen.

Durch legale Prostitution verdient der Staat kräftig mit, genaue Zahlen werden jedoch nicht veröffentlicht und lassen sich nur aus einzelnen Angaben vermuten.

Die Höhe der staatlich vermuteten Steuerausfälle von 2 Mrd. Euro durch nicht gezahlte Abgaben wurde 2009 jedoch bekannt gegeben.

Dass die Änderungen der Gesetze jedoch absolut keine Auswirkungen auf den Bereich der Zwangsprostitution haben können – so wie viele diesen Bereich betreffende Gesetze nichts bewirken – , dass dieses Gesetz ausschließlich den freiwillig in diesem Bereich arbeitenden Menschen nutzt, in dem es sie aus der Illegalität holt, ist so offensichtlich, dass es mich am Denkvermögen derjenigen zweifeln lässt, die jetzt den Vorwurf erheben, das Gesetz hätte nichts gegen die Zwangsprostitution bewirkt.

Dienstleistung Sex

Elke Stevens hat dankenswerter Weise in ihrer „Bewegungskolumne“ am 11. Dezember 2013 im Neuen Deutschland auf die sexuellen Dienstleistungen außerhalb des Rotlichtmilieus hingewiesen, wie z.B. Prostituierte, die von Bewohnern in Seniorenheimen gebucht werden oder Sexualassistentinnen, die Menschen mit Handicap unterstützen, damit diese ebenfalls ihre Sexualität leben können. (1)

Sowohl Prostituierte, die sich spezialisiert haben, als auch Frauen, die vorher in einem sozialen Beruf tätig waren und sich beruflich weiter entwickelt haben, arbeiten in diesem Bereich.

Ausgeklammert wird ebenfalls in dieser Diskussion, dass es auch männliche Prostituierte gibt, die Männern und/oder Frauen ihre Dienstleistung anbieten. Auch manche Frau, die sich in der bestehenden männerdominierten Leistungsgesellschaft ein eigenständiges Leben aufgebaut hat, in der ein Partner keinen Platz hat, bucht sich heute bei Bedarf einen attraktiven Begleiter für den Tag oder die Nacht.

Staat und Zwangsverhältnisse

Anstatt zu überlegen, wie man Menschen, die in Zwangs- und Gewaltverhältnissen arbeiten, schützen kann, wie ihnen ein Ausstieg ermöglicht und welche Hilfen angeboten werden können, wird lieber weiterhin innerhalb bestehender (moralinsaurer) Denkmuster argumentiert und gehandelt, die die bestehenden Verhältnisse nicht verändern.

Die Fixierung auf Zwangsprostitution von Frauen, unter Ausklammern betroffener Jungen bzw. junger Männer, zeigt eine zutiefst sexistische Grundhaltung gegen Männer auf. – Waren AnarchistInnen nicht einmal gegen JEDE Form von Sexismus angetreten?

Zwangsarbeit findet nicht nur im sexuellen Dienstleistungsbereich statt: Sogenannte Haushaltshilfen, als „Töchter/Nichten“ aus ihren Ländern hierher verschleppt, ausgebeutet, misshandelt und auch oft sexuell genötigt oder vergewaltigt, befinden sich in ähnlicher Lage, brauchen genauso Hilfe. Will jetzt jemand ein Verbot von Haushaltshilfen oder von Familienzusammenführung fordern um das zu unterbinden?

Das Problem ist NICHT die Dienstleistung Prostitution, sondern eine Gesellschaftsstruktur, die Zwang, Gewalt und Ausbeutung ermöglicht bzw. fördert.

Von dieser grundsätzlichen Frage lenkt die Debatte ab. Da frage ich mich, wem diese Ablenkung dient.

Wer staatliche Eingriffe fordert, um Menschen in Zwangsverhältnissen zu helfen, müsste der nicht eher für ein prinzipielles Bleiberecht für hierher verschleppte Menschen, für echten ZeugInnenschutz, für gute unkomplizierte staatliche Unterstützung in Form von Wohnungen, psychosozialer Betreuung und Weiterbildungsprogrammen eintreten?

Etwas provokativer gefragt, warum nicht im Bereich der Sexarbeit einen Ausbildungsberuf mit psychologischem Eignungstest einführen?

Oder in Form von staatlich geführten Bordellen mit BeamtInnenstatus für die MitarbeiterInnen?

Selbstorganisiert und unabhängig von staatlicher Finanzierung und Kontrolle bieten stattdessen schon lange Prostituiertenorganisationen Hilfen und Beratungsangebote für Frauen, die in diesem Bereich arbeiten an. Sie erwirken Änderung im Milieu, um die Arbeitssituation der Frauen zu verbessern, sie engagieren sich politisch, um bessere, die Anbieterinnen wirklich unterstützende, statt ausgrenzende Verordnungen und Gesetze auf den Weg zu bringen.

Es hat da schon „Geschmäckle“, wenn z.B. die Organisation Dona Carmen mit Frankfurter Bordellbesitzern Qualitätsstandards aushandeln kann, bei den hessischen Grünen, die im Rahmen der Koalitionsverhandlungen auf der CDU-Repressionswelle mit schwimmen, jedoch auf Granit stößt, wenn sie dort gesetzliche Änderungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen vorschlagen.

Wo bleibt die Emanzipation?

Spätestens mit der PorNO-Kampagne wurde deutlich, dass sich allgemein Männer völlig heraushalten, wenn es um Veränderungen männlichen Denkens geht. Sie folgen den Überlegungen und Anweisungen der „Feministinnen“ und holen sich das Lob „Guuuter Mann, braaav“ ab – oder sie verweigern die Gefolgschaft.

Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit männlichem Denken aus dem Blickwinkel des Mannes findet (außer bei ein paar „Exoten“) nicht statt.

Viele Männer wenden sexistische Denkmuster gegen sich selbst an, betrachten Frauen unter einem positiven Sexismus und erheischen Anerkennung dafür, dass sie auf diese Art und Weise „frauenverträglich“ leben.

„Die Frau“ darf/soll definieren, was „richtiges“ männliches Verhalten ist und erzieherisch vermitteln, ein solcher Mann folgt unkritisch.

Wo sind Ansätze, in denen MÄNNER Männern aus männlicher Sicht verständlich machen, dass auf Ausbeutungs- bzw. Zwangsverhältnissen beruhende Ausübungen sexueller Handlungen nicht attraktiv bzw. nicht nötig sind und eher eigene „Defizite“ aufzeigen?

Wo sind Kampagnen von Männern FÜR Männer, in denen Bewusstsein geschaffen und gefordert wird, dass beziehungsfreie Kund/inn/enverhältnisse, egal in welchem Dienstleistungsbereich, FAIR sein sollen?

Wo ist die Emanzipationsbewegung der Männer, die sich nicht mit den vorgegebenen Alternativen „Braves Männchen“ vs. „Sexistisches Monster“ abfinden wollen?

Dieses „feministische“ Denkmuster an sich wurde bisher vor allem von Männern selten in Frage gestellt.

Eine Emanzipationsbewegung, in der Männer und Frauen gemeinsam statt gegeneinander an der Überwindung von Sexismus jeglicher Couleur arbeiten, die gemeinsame Wege suchen, die diese „Kämpfe“ satt haben, die sich in erster Linie als Menschen mit Gemeinsamkeiten begreifen, scheint in weiter Ferne. Auch wenn manche das im Privaten für sich mit dem/der einen oder anderen Freund/in bzw. Partner/in umgesetzt haben.

So eine Bewegung wäre kaum im Interesse mancher „Feministin“ noch so manches Mannes, der jetzt wieder die „alten Werte“ fordert. Sie würde den „Kampf“ beenden, der mancher /manchem wohl wichtiger ist als die jeweiligen Inhalte.

Moralischer Backlash

Die Prostitutionsdebatte folgt jetzt wieder den alten Sexismen und Sexualnormen.

Männer sind Täter und müssen kontrolliert werden. Frauen sind Opfer und müssen (zwangs)geschützt werden. Jede/r, der/die diesen Glaubenssatz nicht als Prämisse in einer Diskussion übernimmt, gehört zu den Tätern.

Sex darf nur in einem bestimmten Rahmen stattfinden, am besten in Liebe und Beziehung, und wenn ohne diese, dann bitte nicht gegen Geld. (Wobei die verdeckte Prostitution, die in vielen Ehen stattfindet, ebenfalls im Denken ausgeklammert wird).

Der Beruf der/des Prostituierten wird trotz Legalisierung weiter tabuisiert.

Solange jedoch Menschen, die diese Dienstleistung erbringen, von oben herab betrachtet und verachtet werden, die verschiedenen Berufsbezeichnungen gar als Schimpfwort verwendet werden, solange Menschen, die in diesem Dienstleistungsbereich in die Heimlichkeit gedrängt werden, anstatt Respekt und Anerkennung für ihren schweren Job zu erhalten, solange nicht grundsätzlich die bestehende Moral sowie die bestehenden Verhältnisse, die Zwang und Ausbeutung ermöglichen, in Frage gestellt werden, solange werden weder Legalisierungs- noch Repressionsversuche an der Zwangsprostitution und dem Männer/Frauen/Menschenbild, das dahinter steht, etwas ändern.

Dienstleistung Bedürfnisbefriedigung

Sexualität ist ein menschliches Grundbedürfnis. Wie andere Bedürfnisse auch, kann dieses nicht immer im Rahmen des Privaten befriedigt werden. Für andere Bereiche der Bedürfnisbefriedigung nennt man das neutral Dienstleistungssektor und Sozialer Bereich.

Ein/e Koch/Köchin verwöhnt ihre/seine Gäste mit ihrem/seinem Angebot. FamilienhelferInnen unterstützen Familien im Familienalltag und bekommen Geld dafür. PsychologInnen verkaufen nicht nur ihr Wissen und Techniken, sondern auch Empathie. Die Pflege alter und kranker Menschen, die Erziehung und Bildung von Kindern sind Berufe.

Mittlerweile ist der Begriff „Dienstleistungsgesellschaft“ eine Selbstdefinition der Gesellschaft, in der die außerfamiliäre Befriedigung von Bedürfnissen und das Erfüllen von Wünschen völlig selbstverständlich geworden ist – bis auf einen Bereich.

Kampf um Einfluss und Macht innerhalb der Strukturen

Der Feminismus á la Alice Schwarzer hat an Einfluss in der Gesellschaft verloren. Die einstigen Vorreiterinnen im Kampf um gleiche Rechte für Frauen, werden heute ob ihrer Thesen und Methoden kopfschüttelnd von Frauen betrachtet, die von den damals erreichten Veränderungen profitiert haben, die mit diesen neuen Möglichkeiten aufgewachsen sind und Gesellschaft völlig anders wahrnehmen.

Diese Debatte dient m.E. hauptsächlich als Kampfplatz für einige dieser „alten“ Feministinnen, um sich endlich wieder gesellschaftlichen Einfluss zurückzuholen, ohne die Verhältnisse wirklich in Frage stellen zu müssen und damit anzuecken.

Um dies zu erreichen nutzen sie das alte Täterbild „Mann“, schrecken nicht einmal davor zurück, das Selbstbestimmungsrecht anderer Frauen einzuschränken, die Selbstdefinition von Frauen als „Opfer“ wieder einzuführen, diese Menschen medial vorzuführen, und selbst die Denkver- und -gebote der bürgerlichen Presse noch zu übertreffen.

Selbstbestimmungsrecht

Jeder Mensch hat, zumindest aus anarchistischer Sicht, Verfügungsgewalt über seinen eigenen Körper und das Recht, sein Leben selbst zu bestimmen.

Und ganz gleich, ob das „der Staat“, ein Zuhälter, die Taliban oder Alice Schwarzer und AnhängerInnen sind, die in verschiedensten Koalitionen diese Verfügungsgewalt im Kampf um die gesellschaftliche „Macht“ einschränken wollen, für ein/e/n AnarchistIn kann nur die konsequente Verweigerung der geforderten Gefolgschaft und die Suche nach emanzipatorischen Lösungsansätzen außerhalb dieser Kämpfe die Antwort sein.