Als Peter Lösche Anfang der 70er Jahre der Frage nach den "Demokratiepotentialen" im Anarchismus nachging, war dies natürlich durch die "Studentenbewegung" angeregt, die "häufig als anarchistische bezeichnet und auf diese Weise diskriminiert und disqualifiziert" (1) worden war. "Dabei soll nicht geleugnet werden, dass aus der Studentenbewegung anarchistische Gruppen hervorgegangen sind und in ihr ein bunter Strauß anarchistischer Zeitschriften blühte." (2) Dann als Fußnote: "Hierzu gehören solche vorübergehend und unregelmäßig erscheinenden Publikationen wie 'Radikalinski', 'MAD - anarchistische Hefte', 'Graswurzelrevolution', 'Elda - Große Freiheit Presse Hamburg' ..."
"Vorübergehend und unregelmäßig" sind wir nun bei Nr. 400 angekommen. Gelegenheit, den "langen Graswurzelatem" (Heinz Brandt) zu feiern, aber auch über Veränderungen nachzudenken und gute Ansätze neu aufzunehmen?
Was war nicht alles schon „Anarchismus“!
So sehr wir uns noch manchmal an der Verwendung des „Anarchismus“-Begriffs im Sinn von Chaos oder Gewalt stören: Insgesamt gibt es eine viel größere Bereitschaft auch in etablierten Medien, Anarchismus als eine historische und aktuelle soziale Bewegung, eine theoretische Strömung oder eine individuelle Haltung ernst zu nehmen. Weil wir dazu einen Beitrag geleistet haben, soll noch einmal daran erinnert werden, dass es 1974/75 möglich war, Schlagzeilen wie die folgende zu finden: „Anarchisten-Chef Wegener jetzt Söldner-Boß in Algier?“ (3) Der Text erläutert: „Seit einem Jahr glaubt sich die Öffentlichkeit in Sicherheit vor dem anarchistischen Wirrkopf, der in Göttingen bei der Bundeswehr diente … Ex-Unteroffizier Wegener ist der bundesdeutschen Justiz entwischt. Gegenwärtig sucht Wegener offensichtlich neue Kumpels für seine hausgemachte Revolution. Aus zuverlässiger Quelle verlautet jetzt: Der Anarchist hat sich nach Algier abgesetzt, wo er eine Söldner-Truppe aufziehen will!“
Der Hintergrund des Mannes, „der die Revolution um jeden Preis will“ (4): Er war Feldjäger- Unteroffizier der Bundeswehr gewesen, hatte in der Nacht vom 30. auf den 31. März 1974 den KBW-Buchladen „Polibula“ mit einer Brandbombe schwer beschädigt, nach der Tat auf dem jüdischen Friedhof 100 Grabsteine umgestürzt, am 15. April 1974 aus der Zollstation Schöningen acht Maschinenpistolen und Munition geraubt … – kurz: Ein terroristischer Nazi (ja, das gab es damals bereits!). Offensichtlich ist seine Geschichte die der Jagd auf Fahnenflüchtige im Dienste der Bundeswehr, nicht eine, die auf antiautoritäre Gruppen verweist.
Das Milieu der Feldjäger lernte ich etwas genauer kennen als ich bei einem ÖTV-Bildungsseminar auf einen der „Kollegen“ traf, die eben dort gewerkschaftlich organisiert waren und der stolz berichtete, wie man einen Fahnenflüchtigen bei dessen Freundin auflauerte und antraf: Es erging dann die Aufforderung: „Abspritzen, rausziehen, mitkommen!“
Nirgendwo hat es so weitreichende Veränderungen gegeben wie zwischen den Geschlechtern, natürlich ungleichzeitig in unterschiedlichen sozialen Milieus und immer von „Backlash“-Strömungen bedroht. Aber es dürfte selten zuvor eine weltweit so große Bereitschaft gegeben haben, überkommene Körperbilder und Rollenmuster in Frage zu stellen, Festlegungen zu vermeiden, Veränderungen zuzulassen. Allerdings ist dies auch ein Feld, wo soziale Bewegungen antiautoritäre Dynamik an bürokratische Gleichstellungspolitik verloren haben, „Macht“ zunehmend ganz konventionell begriffen und ein „Bringing the state back in“ vollzogen wurde.
Erfolge auf diesem Weg haben einen Preis und wenn das Erfolgskriterium ein umfassender Begriff von Emanzipation ist, so bleibt am Ende oft die Frage: Welcher Erfolg?
Im letzten Jahr widmete der „Mittelweg 36“ Shulamith Firestone ein Heft (5). Bevor sie wegen ihrer zu sehr auf Reproduktionstechnologien setzenden Emanzipationshoffnungen kritisiert wurde, gehörte ihre Programmschrift „Frauenbefreiung und sexuelle Revolution“ auch zu unserem Kanon, denn unsere amerikanischen FreundInnen vom „Movement for a New Society“ hatten sich positiv auf dieses Werk schon vor der deutschen Übersetzung bezogen, etwa auch im Manifest für eine gewaltlose Revolution (6). Diese frühe Theoretikerin eines radikalen Feminismus starb einsam und verarmt und hatte keinen Anteil an den Scheinsiegen der Bewegung mehr. Ja, sie galt als psychisch krank. Und als ich (S. 25) las, dass sie glaubte, Menschen würden sich „hinter Masken mit ihren eigenen Gesichtern verbergen“ dachte ich: Wie recht sie hat! Deshalb heißt es ja „Facebook“!
Anarchistische Kritik der Gewaltzusammenhänge
Unverändert aktuell ist ein Zusammenhang, der auch in der Graswurzelrevolution früh behandelt wurde: Männlichkeit und Gewalt. (7) Jeder Bürgerkrieg beweist die Verbindung. Vergewaltigungen, die männliche Macht über Frauen bestätigen oder herstellen, sind auch jenseits von offenen Kriegshandlungen Krieg gegen soziale Veränderungen – wie beispielsweise in Indien (8).
Um nur ein aktuelles Beispiel aus der Bundesrepublik zu nennen: Der Bundespolizist, der auf der Polizeiwache im Bahnhof Hannover Flüchtlinge drangsalierte, posierte im Netz als harter Mann mit Hang zu Waffen. Natürlich bilden auch andere Männlichkeitskonstruktionen („Kameradschaft“) eine Struktur, die solche Taten ermöglichen.
Wenn man alte programmatische Texte unserer Bewegung wieder liest, macht man schnell die Entdeckung, dass sie noch immer gut gesellschaftliche Probleme und unsere Antworten beschreiben. Das beginnt bei „Was heißt Graswurzelrevolution?“ (9), dem ersten Versuch einer Selbstverständigung der Gewaltfreien Aktionsgruppen. Dass diese Programmatik einer antiautoritär-sozialistischen, gewaltfreien Revolution ihre Gültigkeit behalten hat, zeigt auch, dass wir uns von diesem Ausgangspunkt nicht wirklich weit entfernt haben, die entscheidenden Probleme nach 40 Jahren sozialer Bewegungen, nach dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung und weltbewegender Globalisierung, nach weitreichenden technischen Veränderungen nur Verschiebungen und Intensivierungen zeigen.
Wir haben einen großen Beitrag zu den ökologischen Bewegungen in der Bundesrepublik geleistet, besonders zur Bewegung gegen die „friedliche Nutzung“ der Atomenergie, beginnend mit unserem Sommerlager 1974 im Kaiserstuhl über viele Aktionsvorschläge zu Demonstrationen und Blockaden, Besetzungen (von Bauplätzen oder der berühmten Tiefbohrstelle1004 in Gorleben und der Gründung der Republik Freies Wendland! (10)), kreative Widerstandsformen wie den Stromzahlungsboykott. Und hier ist mit dem unvollendeten, aber immerhin proklamierten „Atomausstieg“ und dem Ausbau von regenerativen Möglichkeiten der Energiegewinnung ein tatsächlicher Durchbruch erzielt worden. Andererseits ist die weltweite Situation durch extreme Ausbeutung noch der letzten Rohstoffquellen, durch Klimaveränderungen, Verwüstungen ganzer Länder mit verheerenden sozialen Folgen bedrohlicher geworden, so dass auch unter dieser Perspektive revolutionäre Veränderungen notwendig sind um einen Bruch mit der auf Wachstum angewiesenen Politik zu vollziehen, Klimakriege, Verelendung ganzer Kontinente und weltweite Fluchtbewegungen zu verhindern (11).
Bei vielen Themen, die uns bereits Anfang der 70er Jahre bewegten, muss man den Eindruck gewinnen, dass es eine auseinandergehende Entwicklung zwischen Metropolen und Peripherie gegeben hat, für die die weltweiten Fluchtbewegungen heute ein Beweis sind: Die Gewalt wurde exportiert in die früheren Kolonialgebiete (12) und Armutszonen, hier kehren Formen der Sklaverei zurück und werden oft unter schlimmsten Arbeitsbedingungen die Rohstoffe gewonnen und Waren für die (noch) befriedeten Zonen der Welt produziert.
So kann in den „westlichen“ Gesellschaften ein Machtzuwachs von Kindern und Jugendlichen beobachtet werden: eine „gewaltfreie Erziehung“ ist oft Gesetz geworden, die autoritären Schlag- und Tadel-Rituale gehören der Vergangenheit an. „Kindheit“ und „Jugend“ bilden Zukunfts-Märkte; Jugendlichkeit ist für die Älteren geradezu Leitbild, Garant eigener Verkäuflichkeit. Die Achtung der Rechte Jüngerer ist in den westlichen konsumorientierten Metropolen selbstverständlich geworden – während gleichzeitig Kindersoldaten und Kinderarbeit und viele Formen von Misshandlung und Missbrauch weltweit zunehmen.
Arbeitsbedingungen haben sich auch in den Metropolen stark verändert, unbefristete, tariflich abgesicherte Arbeitsverhältnisse waren vor 40 Jahren noch die Regel, Ferienjobs zu finden kein Problem. Heute gibt es weltweit Millionen Arbeitslose ohne Perspektive, je von ihrer Arbeit leben zu können, überflüssige Bevölkerungen solange „Arbeit“ das Zentrum des Lebens bleibt. Die Internationale Arbeitsorganisation hat gerade bekannt gemacht, dass weltweit zwei Drittel der arbeitenden Bevölkerung keinen Arbeitsvertrag haben.
Wir haben Anfang der 70er Jahre auch unter dem Einfluss von Johan Galtungs Begriff der „strukturellen Gewalt“ beschlossen, auch solche Verhältnisse als Gewalt zu kritisieren. Manchmal wurde dagegen eingewandt, so werde alles zur Gewalt erklärt und die wirklichen Verhältnisse körperlicher Brutalität wiederum würden nicht genügend akzentuiert, es würde gar Gegengewalt nahegelegt. Schon bei Galtung war aber der Ausgangspunkt ein anderer: Die PazifistInnen müssen erkennen, dass nicht nur Waffen töten. Wenn unser Ziel Freiheit von Furcht und Gewalt ist, dann hat das Dimensionen, die gesellschaftliche Strukturen und nur an der Oberfläche „friedliche“ Verhältnisse in Frage stellen. Denn diese benötigen zu ihrer Absicherung auch direkte Gewalt oder sie führen zur körperlichen Gewaltanwendung statt zur Solidarisierung unter den Unterdrückten.
Schon in „Was heißt Graswurzelrevolution?“ werden Angst, Anpassungszwänge und die scheinbaren Auswege in Leistung und Konsum thematisiert. Durch das Prekär-werden aller sozialen Verhältnisse durch „Globalisierung“ und „Individualisierung“ (zwei Seiten einer Medaille) hat seitdem auch die Angst, zu den Ausgeschlossenen zu gehören und Angst vor sozialem Abstieg eine neue Dimension erhalten, die soziale Beziehungen und Bewegungen prägt:
Die Angst vor dem Abstieg treibt die Mittelschichten zu rechtspopulistischen Bewegungen, der Kauf (und sogar Raub) von Waren hat stark die Dimension erhalten, zu zeigen, dass man „dazu gehört“, nicht zu den Ausgeschlossenen gerechnet werden darf; demonstrative Auftritte, etwa auch in „sozialen Netzwerken“, sollen vor dem sozialen Tod schützen: Nicht beachtet zu werden, keine FreundInnen (nicht mal Alkohol?) zu haben, nicht dazu zu gehören. Unter solchen Bedingungen ist auch der Wille, sich zu verkaufen, sich so zu präsentieren, dass man/frau für Märkte attraktiv wird oder bleibt, geradezu Pflicht geworden, Voraussetzung für alles andere. Am besten, man/frau wird selbst (und sich selbst) zum Markenartikel. Der Konsumismus hat gegenkulturelle Tendenzen aufgesogen:
Wo in den 60er Jahren lange Haare bei Männern, in manchen Zusammenhängen (vielleicht bei einer „Amtmännin“) auch Hosen bei Frauen, Rockmusik schwerste kulturrevolutionäre Herausforderungen darstellen konnten, ist heute noch in Diktaturen und sich streng religiös legitimierenden Staaten „abweichendes Verhalten“ von enormer Sprengkraft, weil es eine direkte Herausforderung der herrschenden Ordnung darstellt und diese zeigen muss, dass ihre Macht zu strafen funktioniert.
In solchen Ländern (der Iran wäre ein Beispiel) stehen sich autoritär-theokratische und staatskonsumistische Herrschaftsformen gegenüber: Ist da Platz für einen antiautoritären gewaltfreien Sozialismus?
Der Aufmerksamkeitswert von Provokationen ist begrenzt und funktioniert in den tolerant-gleichgültigen westlichen Gesellschaften zunehmend nach einer Logik der Überbietung, die immer extremistischere Positionen bis zum offenen Wahn der Verschwörungstheorien fördert. Dazu kommen sich bestätigende Teilöffentlichkeiten, die sich immer mehr gegen Informationen abschotten, die nicht ihrem Weltbild/Freundeskreis entsprechen und alle mit hemmungslosem Shit-Storm überziehen, die ihr Weltbild nicht teilen.
Schlechte Zeiten für die Aufklärung?
Warum ist beispielsweise der Islamismus für manche Jugendliche auch in Deutschland und Frankreich ein Identifikationsangebot? Nicht nur, aber auch nicht zuletzt, weil er verspricht, ihrem Leben Sinn und Richtung und eine Zugehörigkeit, eine emotionale Sicherheit zu geben. Dagegen kann nicht nur Denunziation und Repression helfen (im Gegenteil: Die Gefängnisse sind – wieder einmal – die hohen Schulen und Rekrutierungsfelder!), sondern der Aufruf, dem Leben einen anderen Sinn und eine andere, befreiende Richtung zu geben – und das kann nicht der Konformismus Arbeit-Konsum-Urlaub sein.
Und natürlich sind Islamismus und Dschihadismus auch (!) Reaktionen auf die Kriege in Afghanistan, Irak … eine Antwort auf Folter in Abu Ghraib und Guantanamo, eine Antwort auf empfundene Demütigungen (vielleicht dürfen und müssen gerade wir das sagen, weil wir von der islamistischen Ideologie und erst recht Praxis weiter entfernt sind als die „Islamkritiker“! Und weil wir im Islam auch Traditionen der Gewaltkritik und Toleranz kennen).
Noch immer: Die Waffen nieder!
Denn den Krieg zu verweigern und zu verhindern war von Anbeginn unser zentrales Anliegen – und ist es geblieben. Ja, DEN Krieg, nicht bloß diesen oder jenen. Dazu sagen unsere KritikerInnen nun: Das sei ja wohl unpolitisch. Nein, es ist revolutionär, weil es sich nicht mit einer Politik gemein macht, die immer wieder nur unterdrückt und ausbeutet.
Aber jetzt sind Kriege nicht mehr die gleichen wie wir sie uns in den Zeiten der „gegenseitigen gesicherten Vernichtung“ zwischen NATO und Warschauer Pakt vorstellen mussten, in einem Weltsystem, das mehr als einmal kurz vor der Realisierung dieser Möglichkeit stand (etwa zur Zeit der Kuba-Krise, aber auch während vieler „kleinerer“ Konfrontationen). Nachdem wir gegen Manöver, Truppenübungsplätze, Aufrüstung so lange gekämpft hatten und nach der „neuen Friedensbewegung“ Anfang der 80er Jahre etwas ratlos waren, wie ein antimilitaristisches außerparlamentarisches Engagement verstetigt werden könnte, schien es um 1990 kurze Zeit so als sei der Krieg „ein Anachronismus“ und jetzt eine „Friedensdividende“ fällig – wir wissen heute alle, dass die Dividenden anders erwirtschaftet wurden und auch die ausbleibenden Dividenden eher die Rüstung ankurbeln – aber eine etwas andere Rüstung:
In der Bundesrepublik wurde die Wehrpflicht ausgesetzt, Kriege werden weniger mit den Massen der Wehrpflichtigen geführt (obwohl diese als Rekrutierungsbasis für länger dienende SoldatInnen schwer ersetzt werden können), sondern durch spezialisierte Einheiten mit zunehmend technisierter Ausrüstung und Logistik bis hin zu den Phantasien des „automatisierten Schlachtfelds“, der Roboterkriege und des Cyberwar. Die Rekrutierungsprobleme der Armeen verschieben sich so auf hochspezialisierte Fachkräfte, weg von den Massenarbeitern des Krieges; massenhafte Verweigerung und die Ent-Legitimation des Krieges in den Bevölkerungen (so könnte man unsere Ziele bisher umschreiben) können unter diesen Bedingungen Krieg nicht unbedingt verhindern. (13)
Andererseits können die Strukturen der globalisierten Welt mit nicht-militärischen Mitteln geradezu terroristisch attackiert werden – wobei nicht einmal militärische Abwehr möglich wäre, aber als eskalierende Antwort u.U. wahrscheinlich wird. Neben Eingriffen in die technischen Infrastrukturen und Steuerungssysteme ist dabei sogar an zivil vorgehende Boykott- und Embargostrategien zu denken, die durch die hohe Anfälligkeit der Versorgungssysteme massenmörderische Auswirkungen haben können.
Im Kampf um Rohstoffe und Einflusssphären haben sich neue Interventionsstrategien ebenso verbreitet wie Warlord-Regime; der „Krieg gegen den Terror“ wie der „Krieg gegen Drogen“ haben häufig militarisierend auf gesellschaftliche Konflikte eingewirkt; „scheiternde“ Staaten führen in Ausscheidungskämpfen zu neuen Staatsbildungsprozessen, in einigen Teilen der Welt entstehen „Bloodlands“, die an Europa während des Dreißigjährigen Krieges, aber auf einem technologisch extrem fortgeschrittenen Niveau erinnern. Die Metropolen militarisieren ihre Außengrenzen (so wie sie im Inneren bewachte Stadtviertel der Reichen mit Zugangskontrollen etablieren). Da bei allen peripheren Konflikten droht, dass Rückzugsgebiete für Milizen, Ausbildungsstätten für Terrorgruppen und jedenfalls Flüchtlingsbewegungen entstehen, wird immer neu über „humanitäre“ Interventionen oder „friedens“-erzwingende Maßnahmen debattiert: Die Rollen von UNO, einzelnen Staaten, Militärbündnissen („der Willigen“) muss immer neu ausgelotet werden. Für die antimilitaristischen Bewegungen hat das neue, oft schwer aufzugreifende Probleme geschaffen. Rüstungsindustrie und Waffenhandel sind wichtige Ansatzpunkte, die Kritik an militärischen Konzepten und einer Kultur der Kriegslegitimation. Aber es gibt auch viele Gewaltstrategien, die der gewaltlosen antimilitaristischen Opposition wenige Angriffsflächen bieten, weil sie mit der „Normalität“ so ununterscheidbar verflochten sind.
Was können wir denn tun?
Es war Saul Alinsky, der den jugendlichen Rebellen Ende der 60er Jahre polemisch vorhielt, sie wollten Revolution machen – und könnten nicht einmal ein Picknick organisieren! Der Vorwurf ist sicherlich berechtigt. Dabei gab es damals und später viele, die mehr als ein Picknick organisieren konnten, die aber schnell aufhörten, „Revolution zu machen“ – und eben Picknick organisierten. Die Picknick-Veranstaltungen fanden zuerst „umsonst und draußen“ statt, wurden dann aber in Hallen verlegt, in Säle, sie fanden ihre professionellen GeschäftsführerInnen und finden heute eigentlich immer und überall statt, selbst wenn sie „revolutionär“ daherkommen, vielleicht als „temporäre autonome Zone“ oder als situationistisch eingestimmte „Fete“ oder „kommender Aufstand“ – ganz weit links vor den Fernsehkameras? Und wenn früher vor den Ausflugslokalen stand „Hier können Familien Kaffee kochen“, so werden heute eben „revolutionäre“ Neuerungen aufgeboten, die aber harmloser und meist familiärer bleiben als manches Picknick vor über hundert Jahren es war, etwa unter dem Sozialistengesetz. Und es sind auch nur Ausflüge aus einer ungerührt bleibenden Wirklichkeit. Man kann jetzt vom Picknick leben, es macht schließlich auch Arbeit, so wie das ganze Leben.
Der revolutionäre Party-Service kann tatsächlich als Party oder auch als Partei kostümiert auftreten, das ändert nicht viel. Nein, das alles ändert sogar überhaupt gar nichts. Und gesteht es oft auch offen ein.
Wir müssen neue, ernsthafte, nicht kommerzielle Assoziationen aufbauen, um über die veränderten Bedingungen eine offene Diskussion zu organisieren: Auch, aber nicht nur in der Zeitung. Wir sind entschieden zu wenige, die unspektakulär und mit langem Atem, nicht elitär an gesellschaftlichen Alternativen arbeiten. Wir werden solidarische Zusammenhänge noch brauchen. Und wir müssen (wieder) interventionsfähiger werden.
Durch Erich Fromms Schriften, die vor allem die Furcht vor der Freiheit in immer neuen Varianten zum Thema machten, haben wir aus dem Talmud die Passage gelernt und früher oft zitiert:
„Wenn ich nur für mich bin, was bin ich dann? Wenn nicht jetzt – wann?“ „Aber, aber!“, sagt da ein Genosse: „wie lange hältst Du das denn durch!? Es ist doch immer noch besser, im Gras zu liegen, die Wolken anschauen und von der Revolution zu träumen, als aufzugeben und reaktionär zu werden. Widerspruchsfrei kann im Kapitalismus nur der Kapitalist leben“.
(1) Lösche, Peter: Anarchismus. Darmstadt 1977 (Erträge der Forschung; 66), S. 135
(2) Ebenda S. 136
(3) Göttinger Blick 7.1975, Nr. 20 (15. Mai 1975) S. 1
(4) Alle Zitate aus Göttinger Blick 15.Mai 1975, alles also genau vor 40 Jahren!
(5) Mittelweg 36, 23.2014,3: Shulamith Firestone - eine radikale Feministin
(6) Lakey, George, Michael Randle: Gewaltfreie Revolution. Hrsg. Von Wolfram Beyer. Berlin 1988
(7) Vgl. Bruce Kokopeli/George Lakey: Männlichkeit und Gewalt, in: GWR 30/31 (1977), S. 18 ff.
(8) Uneindeutig ist bei vielen Gewaltphänomenen, ob die sozialen Tatbestände zugenommen haben oder unsere Wahrnehmung sensibler geworden ist. Und es ist anzunehmen, dass mediale Entzivilisierung und Vulgarisierung geschlechtlicher Beziehungen auch in gesellschaftlichen Krisen zu intensivierten Gewalthandlungen führen.
(9) Vgl. Was heißt Graswurzelrevolution? In: Bauer, Johann: Ein weltweiter Aufbruch. Nettersheim 2009, S. 57-64. Es interessiert mich, ob die Sichtweise, dass dieser Text noch aktuell ist, nur die eines alten Parteisoldaten ist oder ob auch LeserInnen der GWR damit noch etwas anfangen können. Kritisch neu zu lesen wären auch die Aufsätze in: Wege des Ungehorsams: Jahrbuch für gewaltfreie & libertäre Aktion, Politik und Kultur. Kassel-Bettenhausen 1984
(10) Halbach, Dieter, Gerd Panzer: Zwischen Gorleben und Stadtleben. Erfahrungen aus 3 Jahren Widerstand im Wendland und in dezentralen Aktionen . Berlin 1980. Dass die GWR-Redaktion einige Jahre im Wendland zu finden war und auch viele der neueren Bewegungen gegen Castortransporte durch AktivistInnen aus unseren Zusammenhängen vorangetrieben wurden und werden, ist den LeserInnen dieser Zeitung sicherlich bewusst. Vgl. Cécile Lecomte : "Kommen Sie da runter!" Kurzgeschichten und Texte aus dem politischen Alltag einer Kletterkünstlerin. Heidelberg 2014
(11) Vgl. etwa GWR 319: Die Gewalt der Globalisierung - und die Globalisierung der Gewalt: www.graswurzel.net/319/g8.shtml
(12) Als die GWR gegründet wurde, gab es noch die portugiesischen Kolonien in Afrika, in der ehemals französischen Kolonie Vietnam warfen die US-Bomber Napalm auf die "entmilitarisierte Zone", ...
(13) Eine Entwicklung, die sich in einigen Aspekten bereits in den 70er Jahren ankündigte: Der Vietnamkrieg zersetzte die US-Armee, so dass die Wehrpflicht abgeschafft wurde, Interventionen nicht mehr zu langfristigen Kriegshandlungen und Besetzung des Landes führen sollten, damit eine zivile Opposition sich nicht so gut formieren konnte. In eine letztlich ähnliche Richtung gingen die französischen Erfahrungen, dass man sich für Einsätze im Inneren nicht auf Wehrpflichtige verlassen wollte, sondern Spezialeinheiten bildete.