es wird ein lächeln sein

Meine erste graswurzelrevolution

Relativer Zufall, Identifizierung und Kontinuität

| Jens Kastner

"Die Bajonette der napoleonischen Armee", schrieb Antonio Gramsci, hatten ihren "Weg von einem unsichtbaren Heer von Büchern und Broschüren geebnet" bekommen. Bedrucktes Papier matters, sollte damit gesagt sein. Es hat Auswirkungen, ohne die so mancher Kampf nicht zu gewinnen, vielleicht erst gar nicht zu führen ist.

Erste GWR I

Sollte es also von irgendeiner allgemeinen Relevanz sein, wie ich zu meinem ersten Exemplar einer Ausgabe der graswurzelrevolution gelangt bin und was das für mich bedeutet hat, dann vielleicht in diesem Sinne, allerdings vom Allgemeinen ins Persönliche, vom Globalhistorischen in die individuelle Sozialisation verlegt.

Anders gesagt, der mehr oder weniger große Zufall, das erste Mal eine graswurzelrevolution in den Händen gehabt und auch gekauft zu haben, in einem Tübinger Buchladen – wo ich überhaupt nur ein einziges Mal in meinem Leben in Tübingen war -, das hat für mich wichtige Wege geebnet. Wege meiner Politisierung. Auch wenn ich erstmal gar nicht viel verstanden habe vom Inhalt des Heftes, angezogen hatten mich letztlich auch weniger die konkreten Themen als vielmehr allgemein die Worthälfte „-revolution“.

Es war 1988 und ich hatte das in diesem Jahr erschienene GWR-Sonderheft zur „Sozialen Verteidigung“ erworben, siebzehnjährig und während wir mit unserer SchülerInnen-Kabarettgruppe „Die Kettwichte“ beim „Schülertheater der Länder“ gastierten. Wir saßen auf den Treppen vor einer Kirche, gegenüber hatte jemand einen Hölderlin-Satz an die Wand gesprüht, blätterten in dem eng bedruckten Heft herum und tranken Bier.

Erste GWR II

Der Zufall des Zeitschriftenkaufes ist selbstverständlich ein relativer. Die Kontexte des Schülerkabaretts, in dem ich auftrat, und des Buchladens, in dem ich stöberte, zeigen schon an, dass bestimmte Dispositionen bereits vorhanden waren, die damals noch als „alternativ“ bezeichnet wurden. Ein Jahr später kaufte ich dann abermals zufällig einem Straßenverkäufer meine erste reguläre graswurzelrevolution ab. Die Freude über das Wiedererkennen war groß. Das war in Westberlin, wo ich u.a. wegen des Evangelischen Kirchentages war, von mir damals in erster Linie als Zusammentreffen alternativer Bewegungsinitiativen erlebt (und auch nur deshalb aufgesucht).

In einem von 1968 völlig unberührten Haushalt aufgewachsen, war mir an einem Projekt gelegen – ohne dass ich selbstverständlich konkret danach gesucht hätte -, das möglichst viel von dem vereinte, was ich auf dieses vor meiner Geburt liegende Jahr zu projizieren begann: alltägliche Revolte und Kritische Theorie, subkulturelle Aktion und vor allem eine antiautoritäre Haltung. Ziele und Mittel der Politik sollten irgendwie in Einklang stehen, deshalb war mir alles Leninistische von vornherein unsympathisch. So wurde ich Abonnent.

Am 12. Mai 1990 fuhr ich dann mit ein paar Leuten nach Frankfurt am Main und wir demonstrierten mit 20.000 anderen Linken unter dem Motto „Nie wieder Deutschland!“, ich pendelte zwischen dem Schwarzen Block und den Leuten mit der Fahne, auf dem das zerbrochene Gewehr auf dem schwarzen Stern prangte, traute mich aber nicht, einen von ihnen anzusprechen.

Im selben Jahr nahm ich dennoch erstmals an einem Treffen der damals noch sehr aktiven „Föderation gewaltfreier Aktionsgruppen“ (FöGA) teil, ein Sammelsurium von PazifistInnen, AnarchistInnen und auch linken Grünen, ein paar DDR-Oppositionelle waren auch da. Selbst war ich noch nicht Teil einer solchen Aktionsgruppe, wäre es aber immer gern gewesen. Da jedenfalls lernte ich auch die ersten Totalverweiger persönlich kennen, also Leute, die weder Militär- noch Zivildienst leisten wollten, die Wehrpflicht als solche ablehnten und das auch politisch begründeten. Im Herbst 1990 brach ich dann nach zwei Monaten meinen so genannten Zivildienst ab. Ich wollte nicht Teil der NATO-Gesamtverteidigungsstrategie sein und fand auch den staatlichen Zugriff auf mich moralisch und politisch illegitim. Nicht, dass dieses Treffen oder das Kennenlernen allein ausschlaggebend für meine eigene Entscheidung gewesen wären. Aber zu sehen, dass es andere gibt, die Ähnliches im Sinn haben und für ihre Entschlüsse einzustehen bereit sind, war sicherlich nicht einflusslos. Erfahren hatte ich davon aus der graswurzelrevolution: von der inoffiziellen Möglichkeit, total zu verweigern, wie auch von dem Treffen der FöGA. Andere Quellen waren rar, es sollten schließlich noch mehrere Jahre vergehen, bis ein WG-Mitbewohner mir gegenüber an seinem Computer auf ein paar bunte, teletextähnliche Zeilen deutete mit der Behauptung, darin lägen ungeahnte Vernetzungsmöglichkeiten, man nenne es Internet.

Erste GWR III

Womit die Frage auftaucht, ob linke/emanzipatorische Zeitungen und Zeitschriften fünfundzwanzig Jahre später, angesichts der medientechnologischen Entwicklung, überhaupt noch einen vergleichbaren Stellenwert haben können. Eine Bedeutung nämlich, die den eines reinen Informationslieferanten bei Weitem übersteigt: als Identifizierungstool, als Instrument der Bündelung von politischen Ansprüchen und Leuten, die in dieser Hinsicht Schnittmengen teilen.

Sicherlich: Aufregung und Aufwand fallen weg, die es einst bedeutet hat, zufällig in einer fremden Kleinstadt oder absichtlich in der nächstgelegenen Großstadt einen Buchladen zu betreten – mit Plattenläden war es ganz ähnlich – und dabei auch noch ein diffuses Anliegen zu verfolgen (etwa Zeitungen mit „Revolution“ im Titel durchzublättern). Im autonomen Infoladen nach einer Zeitung mit gewaltfreiem Anspruch oder nach einer anarchistischen in der Karl Liebknecht-Buchhandlung zu fragen, das waren ja noch körperlich erlebte, kleine Wagnisse und Selbsteinordnungen zugleich.

Dennoch betreiben Zeitschriftenprojekte wie die graswurzelrevolution nach wie vor – und auch im Netz – weit mehr als die Vermittlung von Inhalten. Zeitschriften geben Orientierung, indem sie über einen längeren Zeitraum zu Zustimmung und Widerspruch anregen, und dies vor dem Hintergrund einer in vielen grundlegenden Fragen geteilten – und selbstverständlich auch in Grenzen variablen – Weltanschauung. Sie stiften kollektives Erleben. Sie ermöglichen Kontinuität, halten bei der Stange, auch wenn sich das direkte Engagement mit sich verändernden Lebensumständen vielleicht abschwächt gegenüber den zeitprallen und abwägungsärmeren Jugendjahren.

1993 schickte ich dann erstmals eine Diskette per Post an die Redaktion im Wendland und nervte wenig später all meine MitbewohnerInnen mit meinem Stolz: Sie haben meinen Artikel gedruckt! Er hieß „Von Brandherden und Werbestrategien“ und war vom zuständigen Redakteur, wie ich fand, etwas einfältig untertitelt worden („Alle fordern ‚keine Gewalt‘ gegen AusländerInnen, doch niemand fordert dies vom Staat“) – was ich mich damals natürlich nicht zu beanstanden traute. Auch die also, die Nummer 176, in der der erste von mittlerweile (laut http://ildb.nadir.org/) weit über Hundert Texten stand, die ich für diese Zeitschrift verfasst habe, war meine erste graswurzelrevolution.