zukunft transnationaler antimilitaristischer arbeit: neue aufgaben und strategien

„Wer keinen Mut zu träumen hat, hat keine Kraft zu kämpfen“

Verdrängt der "Übergang zur Demokratie" die Utopie der gewaltfreien Revolution?

| Andreas Speck

Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre wurde in der WRI ausgiebig über das Konzept der gewaltfreien Revolution diskutiert (vgl. Artikel S. 13). Damit erweiterte sich die Perspektive vom Widerstand gegen Krieg auf die positive Utopie einer gewaltfreien Gesellschaft, die durch eine gewaltfreie Revolution Realität werden sollte. Spätestens seit dem Fall der Berliner Mauer scheint es jedoch so, als hätten utopische Konzepte einer gewaltfreien Revolution ausgedient, als wäre das westlich-parlamentarische Modell alternativlos. Hat somit die derzeitige Utopielosigkeit großer Teile der Linken auch die WRI erreicht? (Red.)

„In Zeiten des Niedergangs, der Unkultur, der Geistlosigkeit und des Elends müssen Menschen, die … unter diesem Zustand … leiden, müssen die Menschen, die sich dagegen wehren, ein Ideal haben. … Sie haben Energie, die vorwärts drängt, und also Sehnsucht nach dem Besseren, … ein Bild einer reinen und gedeihlichen, einer freudebringenden Art des Zusammenlebens der Menschen.“ (1)

Die WRI und die Utopie

Die WRI hat sich 1968 als „Freiheitsbewegung“ definiert, die für die Utopie der gewaltfreien Gesellschaft kämpft. Die Selbstdefinition war Konsequenz der Gewaltfreiheit. Der „Kampf gegen Gewalt (muß) im Zusammenhang mit einer revolutionären Anstrengung zur Befreiung der Menschheit gesehen werden. Wir wissen, daß Gewalt viele Formen annimmt, und daß es neben der direkten Gewalt der Gewehre und Bomben auch die stille Gewalt der Krankheit, des Hungers und der Entmenschlichung von Männern und Frauen gibt, die in ausbeuterischen Systemen verfangen sind.“ (2)

Die Selbstdefinition der WRI als Freiheitsbewegung ist bereits in ihrer Grundsatzerklärung angelegt. Ihr ging es nie nur um das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und die Abwesenheit von militärischer Gewalt, ihr ging es von Anfang an um die „Beseitigung aller Kriegsursachen“. „Wir sind uns klar, daß wir als konsequente PazifistInnen nicht das Recht haben, eine bloß negative Stellung einzunehmen, sondern bemüht sein müssen, die tieferen Ursachen des Krieges zu erkennen.“ (3) Sie konnte daher nicht bei der Kritik an den bestehenden Gewaltverhältnissen stehenbleiben, sondern mußte als „positive Bewegung“ weitergehen, um „eine Vision von der neuen Gesellschaft (zu schaffen) und“ sich „sowohl mit den Sehnsüchten als auch dem Zorn der Menschen“ zu identifizieren. (4)

Eine so verstandene Utopie bleibt nicht nur Traum, sondern spielt die wichtige Rolle eines Leitbildes, einer Vision, wie sich die Gesellschaft entwickeln soll. Und sie liefert gleichzeitig die Maßstäbe, an denen die eigene Arbeit in Richtung dieses Zieles gemessen werden kann. „Das Manifest entwirft ein Bild von einer neuen Gesellschaft, von ihrer Ökonomie und Ökologie, von ihren Formen der Konfliktaustragung und von ihren weltweiten Dimensionen. Außerdem schlägt das Manifest einen Rahmen für eine Strategie des Kämpfens und Veränderns vor“ (5), so George Lakey im besten utopischen Sinne in der Präambel des Manifests. Gerade von Seiten radikaler PazifistInnen wurde dabei die Bedeutung der Ziel-Mittel- Relation stark betont. Gewalt wurde nicht nur deshalb verworfen, weil sie „moralisch“ zu verurteilen ist. Es wurde auch als Teil eines „grundlegenden Denkfehlers“ angesehen, „daß Gewalt – während der Revolution oder zur Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme – Gerechtigkeit und Freiheit bringen könne.“ (6)

Diese Utopie einer gewaltfreien Gesellschaft ist es, aus der AktivistInnen ihre Energie für den Alltag und für den damit verbundenen politischen Kampf ziehen können. Die Utopie ist es, die die „Änderungen in der Bestandssicherheit der Topie (der derzeitigen Realität, AS) erzeugt“. Sie „ist die zu ihrer Reinheit destillierte Gesamtheit von Bestrebungen“ (7) Die Utopie ist es, die bruchstückhaft schon heute in unzähligen Kommune- und Gemeinschaftsexperimenten, selbstverwalteten Betrieben, aber auch in den Umgangs- und Aktionsformen sozialer Bewegungen wie z.B. der feministischen, antirassistischen oder ökologischen Bewegung sichtbar wird.

Natürlich ist die Utopie nicht als Bauplan einer neuen Gesellschaft zu verstehen, der so und nicht anders zu verwirklichen ist, sondern als Zielvorstellung, die die Grundsätze und Ideale einer neuen Gesellschaft darlegt.

Auch wenn also „nie die Wirklichkeit dem Gedanken einzelner Menschen völlig gleich“ sehen wird, also „nicht das Ideal … zur Wirklichkeit (wird);“, so ist dieses Ideal dennoch notwendig, denn „durch das Ideal, nur durch das Ideal wird in diesen Zeiten unsere Wirklichkeit.“ (8)

Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach?

Seit 1989 scheinen Utopien aber in den sozialen Bewegungen allgemein nicht mehr hoch im Kurs zu stehen. Der Begriff des Sozialismus ist aufgrund des Scheiterns des „real existent gewesenen“ Sozialismus sowjetischer Prägung als Utopie diskreditiert. Der Kapitalismus, gekoppelt mit einem Parlamentarismus westlicher Prägung, hat sich global als Gesellschaftsmodell durchgesetzt. „Realpolitisch“ machbare Reformen sind bei vielen sozialen „Bewegungen“ angesagt: „Übergang zur Demokratie“ statt „gewaltfreie Revolution“?

Die WRI ist ein Netzwerk gewaltfreier sozialer Bewegungen, und so geht diese Entwicklung auch an ihr nicht spurlos vorüber. Es verwundert daher nicht, daß auf der Dreijahreskonferenz in Brasilien 1994 zunächst nicht die Revolution, sondern die Probleme des „Übergangs zur Demokratie“ diskutiert wurden. „Demokratie“ wurde dabei in Abgrenzung zu einer bloß formalen Betrachtungsweise als ein Prozeß verstanden, der – als Mindestvoraussetzung – folgende Punkte umfassen sollte:

  • Respektierung der Menschenrechte;
  • Beteiligung der Öffentlichkeit an der Entscheidungsfindung:
  • Kommunikationswege zwischen Regierung und Bevölkerung;
  • Existenz starker und selbstbewußter Basisorganisationen;
  • Akzeptanz alternativer Lebensformen;
  • Nichtteilnahme an staatlichen Aktivitäten muß erlaubt sein (z.B. das Recht, keinen Militärdienst abzuleisten);
  • Ausgeglichenheit zwischen sozialen und wirtschaftlichen Interessen;
  • Zugang zu den Medien, Presse- und Meinungsfreiheit“ (9)

Demokratie wird als weitergehender verstanden und nicht nur am Vorhandensein „demokratischer Institutionen“ wie freier Wahlen, Parteienpluralismus, Parlamente, unabhängiger Gerichtsbarkeit usw. gemessen. Es wurde deutlich gesehen, daß „sogar die sogenannten stabilen Demokratien (z.B. Deutschland, Belgien, USA) (sich) auf die eine oder andere Weise … immer noch in einem Übergangsstadium“ befinden. Deutlich wird dabei, daß hier das Konzept einer sozialen Fundierung von Demokratie zugrundeliegt, daß hier nicht „Demokratie“ im Sinne von IWF und Weltbank gemeint ist. Es geht nicht um eine marktorientierte, sich dem Kapital öffnende Demokratie, in der auch weiterhin die Reichen reicher und die Armen ärmer werden. Es geht nicht um eine Demokratie, in der weiterhin Militär und eine militarisierte Polizei unkontrolliert walten und die Politik bestimmen. Es geht nicht um eine Demokratie, bei der sich die Beteiligung der Bevölkerung in Malen von Kreuzen alle paar Jahre erschöpft.

Das Demokratieverständnis, um das es geht, wird z.B. von Maria da Penha Félix von SERPAJ Brasilien so formuliert:

„Der heutige demokratische Prozeß ist Teil einer gemeinsamen Anstrengung von sozialen Organisationen, die ihr Grundrecht auf ein würdiges Leben einfordern. Er entstand darüberhinaus aufgrund internationaler Zwänge. Es gibt unbestreitbar einen demokratischen Prozeß, denn das Volk ist auf die Straße gegangen und hat direkte Wahlen und seine staatsbürgerlichen Rechte gefordert, aber es gibt immer noch Hindernisse bei der Ausübung des Rechtes auf Freiheit. Dies beweist, daß der Kampf wichtig war, daß er aber noch nicht beendet ist, denn es muß noch vieles getan werden. Der Prozeß ist angelaufen und das Volk hat noch viel einzufordern.“

„Nur durch das Ideal wird Wirklichkeit“

„Nur durch das Ideal wird … Wirklichkeit“, dieser Satz Landauers beweist sich gerade an den Entwicklungen nach dem Zusammenbruch der Staaten des Ostblocks. Auf der einen Seite sind weltweite Demokratisierungsprozesse zu beobachten. In Osteuropa, Lateinamerika, Südostasien und Afrika werden zunehmend diktatorische Regime durch formale Demokratien ersetzt. Von den Industriestaaten des Nordens wird die Befolgung demokratischer Spielregeln als Bedingung für Kredite an Länder der „Dritten Welt“ gefordert. Und zum ersten Mal seit Jahrzehnten traf eine US-amerikanische Militärintervention wie diejenige in Haiti zur Wiedereinsetzung des vergleichsweise fortschrittlichen und populären Präsidenten Aristide nicht auf die kollektive und eindeutige Ablehnung aller sozialen Bewegungen in Lateinamerika.

Die gewaltfreien Massenbewegungen waren zwar vielfach in der Lage, die alten Herrschaftssysteme zu überwinden, der stattdessen mit voller Kraft hereinbrechenden (ökonomischen) Macht des „freien Marktes“ westlicher Demokratiemodelle konnten sie jedoch nichts mehr entgegensetzen. Und genau dies hat viel mit dem Mangel an Utopie in diesen Bewegungen zu tun. Denn wenn mensch kein eigenes Ziel benennen kann, wie Gesellschaft nach der Überwindung der alten Herrschaftsstrukturen organisiert werden soll, bleibt wenig anderes übrig, als sich an bestehenden Modellen zu orientieren und auf die von außen angetriebenen Entwicklungen zu reagieren (was gerade in Osteuropa und der DDR sehr deutlich war). Ohne positives Ziel bleibt statt Aktion nur noch die Reaktion.

Daß nun auch innerhalb der WRI z.B. auf der Dreijahreskonferenz über Probleme des „Übergangs zur Demokratie“ diskutiert wird, und nicht über gewaltfreie Revolution, heißt erstmal noch nicht, daß die Utopie ad acta gelegt wurde. Und es muß wohl als Tatsache festgestellt werden, daß auch für radikal-antimilitaristische und anarchistische Bewegungen die Bedingungen in formalen Demokratien besser sind, als unter autoritären Regimen. Diese Freiheiten gering zu schätzen, kann nur von denen kommen, die sie Zeit ihres Lebens als selbstverständlich genossen haben.

Für viele gewaltfreie soziale Bewegungen ist der Übergang zu einer formalen Demokratie westlicher Prägung gesellschaftliche Realität, und die Frage, wie auf diesen Prozeß zu reagieren ist, welche Möglichkeiten und Gefahren für gewaltfreie Bewegungen in diesem Prozeß liegen, von großer Bedeutung. Und gerade für diese Frage ist das Vorhandensein von Utopie wichtig.

Die Ergebnisse des „Übergangs zur Demokratie“ werden nach den ersten Jahren praktischer Erfahrung von vielen Menschen als Enttäuschung erlebt. Für die Masse der Menschen in Osteuropa, Lateinamerika oder Afrika hat sich trotz demokratischer Rechte in ihrem Alltag wenig geändert. Strukturelle Gewalt, Arbeitslosigkeit, Rassismus usw. sind auch unter der neuen Regierungsform nicht verschwunden. Als Folge der totalen Durchdringung aller Lebensbereiche durch den „freien Markt“ verschlechtert sich in Osteuropa für viele Menschen die eigene ökonomische Lage.

Gerade in dieser Situation ist es die Utopie der gewaltfreien Revolution, die unter Ausnutzung der erweiterten Spielräume formaler Demokratien eine Perspektive für die eigene Arbeit eröffnen kann. Während viele ehemalige Guerilla- Bewegungen sich in Parteien transformiert haben und in der Erringung der Macht auf parlamentarischen Wegen die einzige Möglichkeit sehen, noch nicht einmal ihre alte (meist marxistische) Utopie zu verwirklichen, sondern höchstens die Folgen des Kapitalismus sozial abzufedern (wer hätte gedacht, das Sozialdemokratismus mal zur Utopie wird?), kann es für gewaltfreie Bewegungen genau darum nicht gehen.

Die Forderungen der Landlosen nach Land, der Arbeitslosen nach befriedigender Arbeit, der Unterdrückten nach einem Ende der Unterdrückung haben auch während des Übergangs zur Demokratie nichts von ihrer Dringlichkeit verloren. In diesen Forderungen kommt die Utopie von einer freien, gerechten und selbstbestimmten Gesellschaft zum Ausdruck. Für die gewaltfreie Bewegung geht es daher darum, auch in einer „geistlosen Zeit“ (Landauer) Mut zur Utopie zu beweisen und an der Zielvorstellung der gewaltfreien Revolution festzuhalten. Wenn diese utopische Zielvorstellung durch den „Übergang zur Demokratie“ als Ziel stillschweigend verdrängt wird, einer „Demokratie“, die in ihrer realen Ausprägung von den Menschen zunehmend als Enttäuschung wahrgenommen wird, vergibt sich die gewaltfreie Bewegung die Chance, die weltweite Alternative gewaltfreie Revolution wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Denn gerade die Utopie der gewaltfreien Revolution ist es doch, die bei der Enttäuschung an der „realen Demokratie“ ansetzen kann und somit die Hoffnung auf und die Kraft für den Kampf um eine neue Gesellschaft wachhalten kann.

Das falsche Festhalten an bereits diskreditierten Zielen würde dagegen auch die gewaltfreie Bewegung selbst marginalisieren und unpopulär machen.

(1) Gustav Landauer: Aufruf zum Sozialismus

(2) Befreiungsbewegung und die WRI. Erklärung des Rates der WRI in Wien 1968. zitiert nach: Wolfram Beyer (Hrsg.): Widerstand gegen den Krieg. Verlag Weber, Zucht und Co, Kassel 1989

(3) zitiert nach: Der Kriegsdienstgegner, Ausgabe zum 25. jährigen Geburtstag der WRI, London 1946

(4) George Lakey: Manifest für eine gewaltfreie Revolution. abgedruckt in: Wolfram Beyer (Hrsg.): Gewaltfreie Revolution, OPPO-Verlag, Berlin 1988

(5) ebenda

(6) Befreiungsbewegung und die WRI, 1968

(7) Gustav Landauer: Revolution. Frankfurt/Main 1907, zitiert nach der Ausgabe Karin Kramer Verlag, Berlin 1974

(8) Gustav Landauer: Aufruf zum Sozialismus

(9) Übergang zur Demokratie. Themengruppenbericht aus "Das Zerbrochene Gewehr" Nr. 32, Juni 1995 (Zeitschrift der WRI)