Die zweite Castor ist in Gorleben angekommen. Doch die Zahl der Menschen, die trotz Demonstrationsverboten und Polizeigewalt bereit sind, sich querzustellen, wächst. Der folgende Artikel skizziert die Auswirkungen des "Tag X hoch 2" auf die energiepolitische Diskussion und das Kräfteverhältnis zwischen Bundesregierung und Anti-Atom-Bewegung. (Red.)
Typisch Wendland, mal wieder: Am Tag nachdem mit massiver Polizeigewalt der zweite Castor-Transport das Gorlebener Zwischenlager erreicht hat, beginnt „Wendolina“ die erste große Windkraftanlage in Lüchow-Dannenberg, ihre Flügel zu drehen. Auf dem Jeetzeler Berg, nahe Lüchow, steht die erste 600-kW-Anlage der „Wendland Wind GmbH & Co KG“, bemalt mit einer riesigen Anti-Atom-Sonne, und produziert Strom für 260 Haushalte. Die nächsten Windräder sollen bis Herbst folgen.
Ob im Herbst auch der nächste Castor wie geplant aus Gundremmingen nach Gorleben rollt, ist allerdings fraglich. Eigentlich sollte dieser mit 16 Brennelementen beladene Behälter ja gleichzeitig mit dem Glaskokillen-Transport aus La Hague durchgeführt werden, der am 8. Mai durch das Wendland geprügelt wurde. Doch einige Wochen vorher erklärten die Innenminister der Bundesländer, daß es polizeilich nicht zu gewährleisten sei, zwei Atom-Fuhren gleichzeitig zu sichern. So wurde der Transport aus Bayern erstmal verschoben. Fest steht darüberhinaus bereits, daß aus La Hague 1996 kein weiterer Castor kommen soll.
Wachsender Widerstand
Nachdem nun Anfang Mai bundesweit 19 000 BeamtInnen von Polizei und Bundesgrenzschutz (BGS) den Castor aus Frankreich durch das Bundesgebiet und das Wendland „geleiteten“, in dieser Zeit ganze Polizeireviere geschlossen werden mußten, Unmengen von Überstunden angefallen sind und das ganze mehr als 60 Millionen DM kostete, stellt sich die Frage, ob dieser Kraftakt überhaupt mehr als einmal jährlich zu schaffen ist. Ein Superlativ reiht sich an den nächsten: Größter und teuerster Polizeieinsatz in der Geschichte der Bundesrepublik, längste und flächenmäßig ausgedehnteste Einschränkung der Demonstrationsfreiheit durch neuntägige Versammlungsverbote an allen möglichen Transportstrecken zwischen Uelzen, Lüneburg, Dannenberg und Gorleben.
Bundesregierung und Atomindustrie haben sich kräftig verschätzt, als sie damit rechneten, der Widerstand im Wendland und entlang der Strecken durch die Republik würde sich nach dem ersten Castor von selbst erledigen. Bei einem Gespräch mit PastorInnen aus Lüchow-Dannenberg Ende letzten Jahres in Bonn gab Bundesumweltministerin Merkel dies auch unumwunden zu. Die bisherige Erfahrung mit sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik sei gewesen, daß sie zusammenbrechen, wenn es dem Staat gelingt, ein umstrittenes Projekt mit Brachialgewalt gegen heftigen Widerstand durchzusetzen (z.B. Notstandsgesetze, Startbahn West, Pershing-Stationierung, Brokdorf, Faßtransporte mit schwachaktivem Müll nach Gorleben). Gleiches habe Merkel auch in Sachen Castor erwartet und deshalb gleich nach der ersten Einlagerung im April letzten Jahres für 1995 noch fünf weitere Transporte angekündigt. Erst danach habe sie gemerkt, daß die Anti-AKW-Bewegung beim Castor nicht in diese Falle getappt ist.
Es ist ja auch wirklich beachtlich: Beteiligten sich 1995 noch 800 Menschen an der öffentlichen Schienendemontage „Ausrangiert!“ am Gleis vor dem Dannenberger Verladekran, so waren jetzt drei Wochen vor dem Transporttermin mehr als 2 000 bereit zum zivilen Ungehorsam im Rahmen von „Ausrangiert 2“. Demonstrierten im direkten Vorfeld des Castor im letzten Jahr 3 000 Menschen und hatten sich am damaligen „Tag X“ etwa 2 000 Leute quergestellt so waren es in diesem Jahr im Vorfeld 10 000 und am „Tag X hoch 2“ 6 000.
Selbst im widerstandserprobten Wendland überraschte, daß sich noch breitere Bevölkerungsschichten an den Aktionen beteiligten. Neben den schon traditionell aktiven Bauern/Bäuerinnen, LehrerInnen, PastorInnen, ÄrztInnen, SchülerInnen, etc. konnte mensch diesmal auch Bankangestellte und Bundeswehroffiziere beim Übertreten des Versammlungsverbotes treffen. An die 100 Firmen und Geschäfte schlossen ihren Betrieb am Transport-Tag, damit sich die Belegschaft am Querstellen beteiligen konnte.
Auch überregional kam es zu einer ähnlichen Entwicklung: War der Castor aus Philippsburg 1995 noch ohne Unterbrechung quer durch die Republik bis Uelzen gerollt, so konnte der Glaskokillen-Zug aus La Hague, der westlich von Karlsruhe die deutsche Grenze passierte, unterwegs mehrmals gestoppt werden (siehe Artikel oben) und mußte den direkten Weg immer wieder verlassen, um auf kleinen Nebenstrecken dem Ziel näherzukommen, da die Hauptstrecken dicht waren. Alleine in Göttingen waren 500 Menschen auf den Schienen und zwangen den Transport zu einem Umweg von Kassel über Altenbeken, Herford und Verden nach Uelzen.
Die Castor-Transporte nach Gorleben sind inzwischen zu der zentralen symbolhaften Auseinandersetzung im Kampf gegen die Atomindustrie und gegen einen Staat, der die Atomindustrie mit seinen Gewaltmitteln schützt, geworden. Es ist schon heute absehbar, daß sich nochmal deutlich mehr Leute querstellen, falls es wirklich einen dritten Transport ins Wendland geben sollte. Viele Menschen haben gemerkt, daß hier schon das Betreten einer bestimmten Straße zu einem bestimmten Zeitpunkt politischen Druck in einem Ausmaß erzeugt, der die mächtigen Stromkonzerne um den Weiterbetrieb ihrer Reaktoren bangen läßt.
Der Gegenseite fällt eine Menge ein – nur nichts Vernünftiges
Denn was nützt es der Atomindustrie, jährlich einen Castor nach Gorleben zu schaffen, wenn gleichzeitig hochaktiver Müll für mehr als 100 solcher Behälter anfällt? Die grassierende Ratlosigkeit zu überspielen gelingt nur noch, indem die abwegigsten Phantastereien entwickelt werden. Die Vielzahl und das (fehlende) Niveau der Alternativvorschläge ist ein untrüglicher Gradmesser für die Effizienz des wendländischen Widerstandes.
Da die Bahnlinie 20 Kilometer vor Gorleben in Dannenberg endet und gerade dieses letzte Stück Straßenstrecke am schwersten zu sichern ist, veröffentlichte das „Hamburger Abendblatt“ einen Vorschlag, die Schienen bis zum Zwischenlager zu verlängern und mit einem Zaun durch das ganze Wendland gegen Sabotage und Blockaden zu schützen. Leider wurde vergessen zu erläutern, wie der Bau dieser Atommüll-Bahn gesichert werden kann. Und seltsam, daß noch niemand vorgeschlagen hat, gleich eine U-Bahn zu bauen.
Auch die jährlich wieder neu auftauchende Idee des niedersächsischen Innenministers Glogowski, die Castor-Behälter mit Hubschraubern zum Zwischenlager zu bringen, wird durch ständige Wiederholung nicht sinnvoller. Da der weltweit größte Helikopter lediglich 24 Tonnen tragen kann, die Atommüll-Behälter aber das fünffache wiegen, würde die Luftreise wahrscheinlich nicht sonderlich erfolgreich sein.
Schon realistischer ist der Gedanke, bei Transporten aus La Hague zukünftig gleich mehrere Behälter zusammen auf die Reise zu schicken. Doch auch hier kommt es spätestens am Verladekran in Dannenberg zu Problemen, da das umzäunte Krangelände nur für Einzeltransporte konzipiert ist. So wäre für die Verladung ganzer Castor-Züge der Neubau eines großen Umlade-Bahnhofs notwendig. Ich freue mich schon heute auf das Hüttendorf auf dem Baugelände…
Der „Spiegel“ kolportierte zum x-ten Mal Pläne, nach denen der Atommüll in Zukunft nach Rußland oder in die Südsee gebracht werden soll, da ein Lager in der Bundesrepublik auf Dauer politisch nicht durchsetzbar scheint. Doch auf die aktuelle „Entsorgungs“-Politik der Atomindustrie haben diese Gedankenspiele keinen Einfluß.
Auch der von Niedersachsens Ministerpräsident Gerhard Schröder gemachte Vorschlag, die Region um Gorleben durch die Errichtung eines zusätzlichen Zwischenlagers in Süddeutschland zu befrieden, zeugt von wenig Realitätssinn. Wenn nur noch Castor-Behälter aus norddeutschen Atomkraftwerken ins Wendland rollen, stellt sich doch kein/e Einzige/r weniger quer, als bei den bisherigen Transporten. Es gäbe höchstens noch einen zusätzlichen Kristallisationspunkt des Widerstandes im Süden. Die Anti-AKW-Bewegung könnte sich freuen, würde Schröders Idee umgesetzt.
Alternativkonzepte der Atomindustrie
Wie reagiert nun die Atomindustrie selbst auf die Tatsache, daß der Widerstand rund um Gorleben mit jedem weiteren Transport zunimmt? Schließlich war der in vergangenen Jahrzehnten praktizierte „Entsorgungsweg“ Wiederaufarbeitung im Ausland zu teuer geworden und deshalb extra 1994 in einer Atomgesetz-Änderung die „direkte Endlagerung“ genehmigt worden. Da es aber kein Endlager gibt, ist der Rückzug aus der Wiederaufarbeitung nur möglich, wenn genügend Zwischenlager-Kapazitäten vorhanden sind.
Die in den nächsten Jahren anstehende Rücknahme der verglasten hochaktiven Abfälle aus der Wiederaufarbeitung in La Hague und Sellafield ist vertraglich zwischen den beteiligten Atomkonzernen festgelegt. Auch dafür braucht es hierzulande Lagerkapazitäten, damit das Märchen von der gelösten Entsorgungs-Frage nicht wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt.
Doch in den Chefetagen der Energieversorger wurde nachgedacht und eine mögliche Lösung gefunden. Zur Zeit verhandelt die Preußen-Elektra, größter AKW-Konzern in der Bundesrepublik, mit der Cogema, Betreiberin der WAA La Hague. Dabei geht es nicht mehr um weitere Wiederaufarbeitung, sondern um die schlichte Zwischenlagerung deutschen Atommülls in den riesigen Lagerbecken der französischen Anlage. Gleichzeitig wird darüber gesprochen, ob die Glaskokillen ebenfalls weiter in La Hague gelagert werden können, was wohl nur eine Frage des Geldes ist. Statt also in Gorleben die Castor-Halle um den Preis riesigen politischen Flurschadens für die Atomindustrie langsam voller zu machen, sollen weiter Castor-Transporte nach Frankreich rollen, um den Preis finanzieller Zuwendungen an die Cogema.
Wird dieses Konzept Realität, dann muß sich die Atomlobby allerdings von einigen liebgewonnenen Propagandalügen verabschieden. So wird bisher immer behauptet, die Rücknahme der Kokillen beruhe auf völkerrechtlichen Verträgen. In Wirklichkeit gibt es lediglich ein Abkommen zwischen der Bundesrepublik und Frankreich, die privatwirtschaftlichen Verträge nicht zu behindern. Einigen sich die Firmen also auf den Verbleib in La Hague, so steht dem das Völkerrecht nicht entgegen.
Allerdings würde ein Verzicht auf weitere Einlagerung in Gorleben bei gleichzeitiger Fortführung der Atommüll- Verschickung ins Ausland die Kräfte des Widerstandes schnell auf die jährlich bis zu 100 Transporte von deutschen AKWs nach La Hague und Sellafield lenken.
Die Bundesregierung auf dem Weg in eine selbstgebaute Falle
Doch noch ist ein Abrücken von Gorleben nicht in Sicht. Denn auch ohne völkerrechtliche Notwendigkeit scheint die Bundesregierung ein großes Interesse daran zu haben, daß weitere Transporte ins Wendland durchgeführt werden. Dazu sind Merkel und Co auch bereit, massiven Druck auf die Energiewirtschaft auszuüben. Daß dies funktioniert, zeigt die Ankündigung der Gesellschaft für Nuklearservice (GNS) auf der „Jahrestagung Kerntechnik“ zwei Wochen nach dem „Tag X hoch 2“, 1997 sechs und für die darauf folgenden Jahre jeweils 17 Kokillen-Transporte nach Gorleben zu planen.
Welche Motive hinter der Penetranz der Bundesregierung stecken, läßt sich nur vermuten. Zum einen ist jeder weitere „Tag X“ eine gute Möglichkeit, dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder eins auszuwischen. Zum anderen gab es in Bonn schon seit jeher Probleme damit, sich dem „Druck der Straße“ zu beugen. Man/frau denke nur an das Gezeter der Bundesregierung, als die AKW-Betreiber den Bau der Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf stoppten. Und da inzwischen nicht mehr nur die Anti-AKW-Bewegung in der Castor-Auseinandersetzung ein Symbol für den Streit um das ganze Atomprogramm sieht, sondern auch die AtomfreundInnen in der Politik, will man/frau sich bei diesem Kräftemessen keine Blöße geben.
Doch die Demonstration des „starken Staates“ könnte beim sprichwörtlichen langen Atem des wendländischen Widerstandes schwerwiegende Folgen haben. Was ist, wenn diese Masche rund um Gorleben nicht funktioniert, weil das gewaltsame Durchdrücken jedes neuerlichen Transportes nur noch mehr Menschen für den nächsten mobilisiert? Möglicherweise, wenn Merkel stur an Gorleben festhält, läuft der Staat im Wendland in eine selbstgebaute Falle.
Manche Chancen erhalten soziale Bewegungen nur einmal. Der symbolbehaftete Streit um die Castor-Transporte wächst sich mehr und mehr zu einer solchen einmaligen Gelegenheit aus. Nutzen wir die Möglichkeiten, mit aller Kraft, die uns zur Verfügung steht!