kommentar

Geht alle Gewalt vom Volk aus?

Wie es Polizei und Medien beinahe gelang, die öffentliche Wahrnehmung des Castor-Widerstandes um 180 Grad zu wenden

| Jochen Stay

„Noch nie gingen militante Kernkraftgegner derart brutal gegen die Polizei vor, wie in Gorleben“ schrieb das Nachrichten-Magazin „Focus“, nachdem 19 000 PolizistInnen, davon 9 000 im Wendland, im größten Polizeieinsatz in der Geschichte der Bundesrepublik den zweiten Castor-Behälter, diesmal mit hochradioaktivem Müll aus dem französischen La Hague, ins Zwischenlager Gorleben geleitet hatten. Und der niedersächsische Innenminister Gerhard Glogowski (SPD) erklärte, die friedlichen wendländischen DemonstrantInnen seien von über 1 000 angereisten gewalttätigen Berufs-Chaoten „weggefegt“ worden. Fast alle Fernsehsender berichteten in ihren Sondersendungen von „kriegsähnlichen Zuständen“ im Landkreis Lüchow-Dannenberg, ausgelöst durch militante AtomkraftgegnerInnen und RandaliererInnen, die mit Stahlkugeln, Leuchtspurmunition, Steinen und Flaschen agierten.

Was war geschehen? War der Grundkonsens des wendländischen Widerstandes, bei den Aktionen keine Menschen zu gefährden, auf breiter Linie durchbrochen worden? Spätestens als am Tag nach dem Transport die Polizei mitteilte, daß von den 9 000 in Lüchow-Dannenberg eingesetzten PolizistInnen lediglich 35 leichte Verletzung davongetragen haben (wobei noch nicht einmal klar ist, wieviele davon durch äußere Einwirkungen zustandekamen), wurde deutlich, daß da irgendetwas nicht stimmte.

Auch all jene, die am „Tag X hoch 2“ auf der Straße waren, haben ein vollkommen anderes Bild der Ereignisse. Um es gleich zu sagen: Obwohl inzwischen Informationen über den Einsatz von polizeilichen Provokateuren vorliegen, kam es auch zu Steinwürfen von DemonstrantInnen. Mehr AtomkraftgegnerInnen als PolizistInnen wurden durch diese Steine verletzt. Aus einer Gruppe von 20 Leuten heraus wurde mit Zwillen geschossen. Vereinzelt flogen Leuchtkugeln. Aber insgesamt waren solche Szenen an diesem Tag die absolute Ausnahme. Von einem Fernsehteam, das die ganze Zeit dabei war, ist bekannt, daß von sechs Stunden aufgenommenem Filmmaterial nur 90 Sekunden dabei sind, in denen DemonstrantInnen die Polizei angreifen.

Erstaunlich ist dies vor allem auch deshalb, weil die Staatsgewalt dermaßen überzogen agierte, daß es mich nicht verwundert hätte, wären mehr Menschen ausgerastet. Die Ankündigungen der Minister Glogowski und Kanther, mit „voller Härte“ vorzugehen, war Leitmotiv des Polizeieinsatzes: 170 Traktoren der „Bäuerlichen Notgemeinschaft“ wurden weitab der Transportsrecke demoliert, die FahrerInnen zum Teil zusammengeschlagen. Damit gelang es der Staatsmacht die beeindruckenden Bilder der friedlichen Trecker-Blockade vom letztjährigen Castor zu unterbinden. Singende SitzblockiererInnen wurden übel zusammengeknüppelt, wurden von Hochdruckwasserwerfern durch die Gegend geschleudert.

28 DemonstrantInnen mußten ins Krankenhaus eingeliefert werden, mehr als 250 trugen Verletzungen davon. Es spricht für die Disziplin und Zivilcourage der QuerstellerInnen, daß die überwiegende Mehrheit bei solchen Szenen nicht die Fassung verlor. Viele mischten sich auch massiv ein, als einige wenige anfingen, Steine zu werfen. Auch die LandwirtInnen der Bäuerlichen Notgemeinschaft setzten sich auf die Straße, nachdem ihre Fahrzeuge nicht mehr einsetzbar waren.

Warum aber dann diese Berichterstattung? Warum sagt der Innenminister nicht, daß es seine Polizei war, die die friedlichen DemonstrantInnen „von der Straße fegte“? Verschiedene Faktoren kommen zusammen: Zum einen funktionieren Massenmedien, die sich verkaufen müssen, so, daß eben 90 Sekunden DemonstrantInnen-Krawall gesendet werden und nicht sechs Stunden Polizeigewalt. Da wird dann eine wegen Kreislaufkollaps umgekippte Polizistin zum Chaoten-Opfer und ein BGS-Beamter, der über Schienen stolpert und sich das Schlüsselbein bricht, bekommt plötzlich einen Steintreffer angedichtet. Wenn am Wochenende vor den Transport in Karwitz 150 Leute für bis zu neuen Stunden eingekesselt und in Gewahrsam genommen werden, weil sie singend auf den Schienen saßen und ganz öffentlich 17 Schrauben lösten, dann steht in den Zeitungen, daß die Polizei militante RandaliererInnen festgenommen habe, die 500 Meter Gleise zerstört und so den (auf dieser Strecke nicht vorhandenen) Zugverkehr massiv gefährdet hätten.

Der Polizei ist natürlich auch an solchen Schlagzeilen gelegen, da so die massiven Einsätze viel besser öffentlich zu legitimieren sind. Dementsprechend sieht die Pressearbeit der Polizei aus. Da wird vor der Aktion „Ausrangiert!“, die als gewaltfreie und öffentliche Aktion zivilen Ungehorsams angekündigt ist, den Medien mitgeteilt, es werde mit gewalttätigen Ausschreitungen gerechnet. Da werden immer wieder Gerüchte über Gewalttaten verbreitet, die sich längst als falsch herausgestellt haben.

Während der Castor am Vormittag des 8. Mai im Schritt-Tempo durch das Wendland rollte, tagte in Hannover der niedersächsische Landtag. Innenminister Glogowski informierte die ParlamentarierInnen und die anwesenden JournalistInnen über die angebliche „Lage an der Front“. So sprach er zum Beispiel davon, daß sich direkt am Gorlebener Zwischenlager 2 000 militante Chaoten eingefunden hätten, die dort auf den Transport warten. Zur gleichen Zeit saßen dort aber lediglich 400 Menschen auf der Straße, die Frühlingslieder sangen und schließlich von der Polizei weggetragen wurden.

Ich denke, Glogowski hat genau verstanden, daß er den unverhältnismäßigen und über weite Strecken brutalen Polizeieinsatz gegen die demonstrierende „Normalbevölkerung“ politisch nur überlebt, wenn es ihm gelingt, die öffentliche Empörung über die Staatsgewalt mit noch lauterem Geschrei über angebliche militante Randalierer zu übertönen. In den Tagen vor dem Transport wurde dies geschickt vorbereitet. Der Innenminister und auch Gerhard Schröder erklärten: Wer durch Anschläge auf die Bahn Menschenleben gefährdet, muß damit rechnen, daß die Polizei die ganze Breite der ihr zur Verfügung stehenden Zwangsmaßnahmen voll einsetzt. Sie sagten dies immer wieder und so laut, damit in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen sollte, als ob die wendländischen „QuerstellerInnen“ das Leben von Bahnreisenden gefährden.

Alles wurde so verwischt. In der Darstellung der Regierenden gab es nur noch zwei Kategorien: einerseits Leute, die friedlich weit abseits der Transportstrecken demonstrieren und so den Ablauf nicht stören und andererseits menschengefährdende Gewalttäter. Allerdings sind im Wendland genau diese Personengruppen fast nicht vorhanden. Die gängigen Formen des Widerstandes spielen sich zwischen diesen beiden Polen ab. Doch viele Medien nahmen nicht mehr wahr, daß meist nur an Gleisen herumgesägt wurde, auf denen keine Züge außer dem Castor rollen. Presse und einfache PolizistInnen vergaßen, daß das Sitzen auf der Straße lediglich eine Ordnungswidrigkeit darstellt. Alle AtomkraftgegnerInnen waren zu halben TerroristInnen gebrandmarkt worden, die notfalls über Leichen gehen und deshalb hart angepackt werden müssen.

ReporterInnen, die mit den vorher verbreiteten Kategorien ins Wendland kamen, machten zwar vor Ort sehr drastische Lernprozesse durch und mußten ihr Bild vom gewalttätigen Widerstand schnell revidieren. Einige begriffen sogar, daß es nicht mehr mit den üblichen Schablonen erklärbar ist, wenn 6 000 „normale“ Bür-gerInnen Versammlungsverbote mißachten, Polizeiketten ignorieren, Bäume auf die Straßen legen, einige Strohballen anzünden und die Transportstrecke unterhöhlen. All diese Mittel finden im Wendland einen breiten Konsens und genauso breit ist die Ablehnung von Gewalt gegen Menschen. Doch lieferten die JournalistInnen ihre Berichte in den Zentral-Redaktionen ab, so wurden diese zusammengestrichen oder total umgestellt. Ziviler Ungehorsam scheint keine Kategorie zu sein, die von den Massenmedien 1996 verstanden wird. Friedlich ist, wer am Rande stehenbleibt. Alle, die sich querstellen, sind GewalttäterInnen…

Doch ich will es nicht beim Lamentieren über Medien-Mechanismen und Polizei-PR-Strategie belassen. Ein Teil der Ursachenforschung ist auch beim Widerstand selbst zu betreiben. Das meiner Ansicht nach stärkste und politisch wirksamste Mittel gegen die Castor-Transporte, der massenhafte, von breiten Bevölkerungsschichten getragene zivile Ungehorsam in Form von Sitzblockaden auf der Strecke, geht in der Praxis vor Ort zu oft hinter den Formeln von der Gleichwertigkeit aller Widerstandsformen unter.

Ich habe nichts gegen weitergehende Aktionsformen, solange sie die Gefährdung von Menschen ausschließen und vermittelbar sind. Doch wenn im Vorfeld des Mai-Transportes in der Szene die Frage, wie die Sachschäden immer höher getrieben werden können, viel ausführlicher diskutiert und bedacht wird, als die Vorbereitung des schlichten ungehorsamen Blockierens, an dem sich nicht nur feste Aktionsgruppen, sondern Tausende beteiligen können, dann fehlt am Ende etwas. Wenn immer wieder die Unberechenbarkeit des Widerstandes als zentraler Wert propagiert wird und damit oftmals für die „eigenen Leute“ nichts mehr überschaubar ist, dann bleiben viele Chancen ungenutzt. Wenn zwar die Infrastruktur, die Versorgung der Angereisten etc. wie immer im Wendland perfekt organisiert ist, aber der Informationsfluß und basisdemokratische Entscheidungsformen zu kurz kommen, dann muß mensch sich nicht wundern, wenn viele DemonstrantInnen relativ orientierungslos auf Aktionsaufrufe reagieren. Und auch bei der Darstellung des Widerstandes nach außen kann der Schwerpunkt in Zukunft ruhig noch mehr auf die Vermittlung des „Querstellens“ gelegt werden.

Deshalb am Schluß ein Appell an all jene LeserInnen der GWR mit gewisser Erfahrung in gewaltfreier Aktion: Die Menschen im Wendland können eure Unterstützung gebrauchen, gerade im Vorfeld eines eventuellen nächsten Transportes. Für mich jedenfalls steht in den kommenden Monaten ein Thema im Vordergrund: Wie können noch mehr Leute die Zivilcourage lernen und sich gründlich auf Grenzüberschreitungen vorbereiten? Wie können wir die breite Bereitschaft zum einfachen Ungehorsam der Öffentlichkeit so vermitteln, daß die Gewalt-Parolen Glogowskis nicht mehr funktionieren? Wie können wir Strukturen der Entscheidungsfindung und Aktionsvorbereitung entwickeln, die die einzelnen Aktiven mit ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten ernst nehmen? Gewaltfreies Know-How ist gefragt. Das ist in gewissem Sinne neu im Wendland, zumindest in dieser Eindeutigkeit. Macht mit!

Kontakt

für Menschen, die an den genannten Fragen mitarbeiten wollen:

J. Stay
Landstr. 6
29462 Güstritz
Tel.: 05843/7527