anarchismus

Mehrheitsdiktatur und Konsensprinzip

Konsensverfahren als anarchistische Alternative zum Mehrheitsprinzip?

| Charlie Blackfield

In der heutigen Gesellschaft der BRD wird das Prinzip der Mehrheitsentscheidung nur von wenigen BürgerInnen in Frage gestellt. Wahlen und Abstimmungen gelten als Werkzeuge der Demokratie. Das "allgemeine und gleiche Wahlrecht" ist ein Grundsatz, der von vielen als demokratisches Ideal gesehen wird, nach dem am besten die ganze Welt organisiert werden sollte. Doch bei näherem Hinsehen entpuppt sich der Mehrheitsentscheid als etwas, das es sich durchaus zu hinterfragen lohnt. (Red.)

Zunächst einmal ist es ohnehin sehr zweifelhaft, ob die jahrhundertelange Herrschaft von Minderheiten über eine Mehrheit nun tatsächlich von einer „demokratischen“ Herrschaft der Mehrheit abgelöst worden ist.

Politische Entscheidungen werden in der BRD von einer politischen Klasse gefällt, die sich in Parteien organisiert, in denen insgesamt nur etwa drei Prozent der Bevölkerung Mitglieder sind. Im Bundestag wird eine bunt gemischte Bevölkerung zur Hälfte von juristisch verbildeten AkademikerInnen repräsentiert, die sich zwar darauf berufen können, „demokratisch“ gewählt zu sein, aber nach den Wahlen oft genug tun, was sie wollen, ohne Rückkopplung zu den WählerInnen.

Noch mächtiger als PolitikerInnen sind die führenden ManagerInnen der großen Konzerne, die oft überhaupt nicht gewählt worden sind, wenngleich auch sie vorgeben, auf dem Boden eines „demokratischen“ Systems zu stehen. Daher stellt sich die Frage, ob in der heutigen Gesellschaft die Meinung der Mehrheit wirklich so relevant ist, wie uns immer vorgegaukelt wird – oder ob nicht vielmehr politische und kapitalistische Eliten (sprich: Minderheiten) den Begriff der „Mehrheitsdemokratie“ zur Legitimation ihrer Herrschaft benutzen.

Es geht mir aber in diesem Beitrag nicht darum zu erörtern, wie demokratisch das Gesamtsystem der BRD ist. In erster Linie will ich versuchen, die Frage zu klären, ob das Prinzip des Mehrheitsentscheids grundsätzlich für den Aufbau einer herrschaftsfreien Gesellschaft taugt. Dazu werde ich von der gesamtgesellschaftlichen Ebene auf die Ebene kleinerer Gruppen übergehen.

Die Grenzen des Mehrheitsprinzips

Wo es eine Mehrheit gibt, da gibt es auch stets eine Minderheit. Wie wird in einer Gesellschaft oder Gruppe, die sich nach dem Prinzip des Mehrheitsentscheids organisiert, mit Minderheiten umgegangen? – Zunächst einmal: Minderheiten werden schlicht und einfach überstimmt. Ist den BefürworterInnen der Mehrheitsposition erst einmal klar, daß ihre Position eine Mehrheit erhalten wird, so können sie oft den Abstimmungsprozeß beschleunigen, die Diskussion um die Bedenken der Minderheit abbrechen. In größeren Zusammenhängen entstehen häufig ständige Minderheiten, die von den Beschlüssen einer ständigen Mehrheit zunehmend ausgegrenzt und unterdrückt werden. Das Mehrheitsprinzip führt zu Kampfabstimmungen, bei denen es darum geht, durch geschickte Rhetorik oder Taktik eine Mehrheit hinter sich zu bringen, wobei es vorkommen kann, daß eine qualifizierte Minderheitenposition von einer wenig informierten, von ein paar wenigen manipulierten Mehrheit niedergestimmt wird. Am Ende stellt sich der Mehrheitsentscheid nicht als urdemokratisches Prinzip dar, sondern als eine Struktur, die zu einer Diktatur der Mehrheit über eine oder mehrere Minderheiten führt.

Stellen wir uns einmal eine ganz konkrete Sitzung vor, in der nach Mehrheitsprinzip entschieden wird: Da sitzen etwa zwanzig Menschen um einen großen Tisch herum, alle sind Delegierte aus kleineren Gruppen. Zusammen bilden sie einen Ausschuß, der – theoretisch – eine eigenständige Gesamtheit sein soll, nicht die bloße Summe der einzelnen, in dem Ausschuß vertretenen Gruppen. Das Bewußtsein der Delegierten ist aber interessanterweise ein ganz anderes: Sie verstehen sich einzig und allein als VertreterInnen ihrer jeweiligen Gruppen, die anderen Delegierten sind in ihren Augen entweder freundlich, feindlich oder neutral gesinnt. Sinn und Zweck ihrer Anwesenheit in dem Ausschuß sehen fast alle Delegierten darin, unter allen Umständen die Position der eigenen Gruppe durchzusetzen. Mittel dazu sind Überzeugungskünste, strategisches und taktisches Vorgehen, oft auch einfach „Totdiskutieren“ der gegnerischen Position, Diskreditierung der „GegnerInnen“ und andere Nettigkeiten. Auf das, was andere sagen, wird nur insofern gehört, als sich die einzelnen VertreterInnen die Frage stellen, ob es zur Durchsetzung ihrer Position notwendig ist, auf das Gesagte zu reagieren oder nicht. Alles in allem herrscht eine Kampfatmosphäre, und da sich viele der Anwesenden schon aus früheren Sitzungen kennen, sind die Frontlinien längst abgesteckt. In den seltenen Pausen wird gemauschelt, getuschelt, intrigiert, ausgewertet. Zart besaitete Gemüter brechen bei derlei Sitzungen schon mal in Tränen aus, der „Verschleiß“ an Delegierten ist recht hoch; doch die härtesten unter ihnen kann das nicht schrecken, sie vertreten ihre Gruppen fast seit Menschengedenken – „survival of the fittest“! Und sie wissen, wie sie es anstellen, sind kompetent genug, mit Satzung und Geschäftsordnung nach Belieben umgehen zu können, wissen, was ein Geschäftsordnungsantrag ist und wie nützlich es sein kann, nach einem solchen von der „Gegenseite“ gleich noch einen eigenen hinterherzuschicken, um die Tagesleitung endgültig zu überfordern und dann aus formalen Gründen diesen oder jenen gegnerischen Antrag für ungültig zu erklären. Am Ende der Sitzung Zufriedenheit bei der Mehrheit, Frust bei der Minderheit, und eine Reihe persönlicher Zwistigkeiten wurde wieder einmal gepflegt oder neu geschaffen.

Horrorvision? – Nein, das war nur ein persönlicher Erfahrungsbericht von Sitzungen, wie ich sie in den letzten Jahren zuhauf erleben durfte; Sitzungen, bei denen fast alles fehlte, was zur Verwirklichung der Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft unabdingbar ist: Toleranz, gegenseitiges Zuhören, Respekt vor den Mitmenschen (unabhängig von deren Position), Wille zur Zusammenarbeit und zur Berücksichtigung aller bei der Entscheidungsfindung.

Konsens als Ausweg?

Die Herrschaft der Mehrheit über Minderheiten mag zwar ein historischer Fortschritt sein – doch um zu einer wirklich freien Gesellschaft zu kommen, ist es notwendig, sämtliche Herrschaftsmechanismen abzuschaffen und alle von einer Entscheidung betroffenen Menschen an der Entscheidungsfindung derart teilhaben zu lassen, daß ihnen nicht ein fremder Wille übergestülpt wird. Dazu ist das Mehrheitsprinzip nicht in der Lage; um das zu erreichen, braucht es Konsens – das heißt: Ein Beschluß muß so gefaßt werden, daß ihn alle Betroffenen mittragen können.

Das Konsensprinzip ist keineswegs eine moderne Erfindung. Es existierte bereits in vierlerlei Gestalt in anarchischen Gesellschaften, einzelnen feudalen Strukturen, in religiösen, sozialistischen, anarchistischen Gemeinschaften vergangener Jahrhunderte.

Was bedeutet Konsens? – Wer sich noch nicht näher damit beschäftigt hat, wird das Wort wahrscheinlich spontan mit „Einstimmigkeit“ übersetzen, in der Vorstellung, daß die „Gegenstimme“ einer einzelnen einen Beschluß unmöglich machen würde. Aber ganz so einfach ist es nicht. Es gibt verschiedene Wege, mit Bedenken einzelner oder einer Minderheit umzugehen.

Im Idealfall wird die Minderheit durch Argumente so weit überzeugt, daß sie den Beschluß voll und ganz mittragen kann, oder es wird ein Kompromiß gefunden, mit dem alle einverstanden sind. Manchmal ist es jedoch nicht möglich, Bedenken auszuräumen. In diesem Fall gibt es im wesentlichen drei Möglichkeiten:

  1. Die Minderheit legt gegen den Beschluß ein „Veto“ ein und verhindert damit den Konsensentscheid.
  2. Die Minderheit stellt ihre Bedenken zurück und trägt den Beschluß mit, was natürlich nur funktioniert, wenn die Bedenken nicht sehr schwerwiegend sind.
  3. Die Minderheit trägt den Beschluß nicht mit, verzichtet aber auf ein „Veto“, um einen Beschluß gemäß der Mehrheitsmeinung nicht zu blockieren.

Wird ein „Veto“ eingelegt, so muß sich die Mehrheit einer Gruppe nicht unbedingt diesem „Veto“ beugen, denn das könnte – bei Mißbrauch des Konsensprinzips – leicht zur Diktatur einer Minderheit führen oder zur völligen Beschlußunfähigkeit.

Es ist durchaus möglich, in diesem Fall den Anspruch, im Konsens zu entscheiden, aufzuheben. Logische Folge ist allerdings in aller Regel die Spaltung der Gruppe.

Ist das Konsensprinzip der ideale Weg zur herrschaftsfreien Gesellschaft, zur Berücksichtigung aller in der Entscheidungsfindung?

Eine leicht absurde Vorstellung

Nehmen wir uns den vorhin beschriebenen Ausschuß vor. Nach langjähriger Praxis in Mehrheitsentscheiden hat der Ausschuß in einer besonders turbulenten Sitzung einen folgenschweren Beschluß gefaßt: Es soll künftig im Konsens entschieden werden! „Also gut“, sagen sich die Delegierten, „da müssen wir uns jetzt umstellen.“ Und sie tun es auch. Die Kampfabstimmungen sind jetzt passé. Stattdessen bezichtigen sich die Anwesenden gegenseitig, Beschlüsse zu blockieren, tun aber eben dies auch immer selbst, sobald ihnen ein Beschluß nicht paßt. Es hagelt ein „Veto“ nach dem anderen, der Ausschuß ist zur totalen Entscheidungsunfähigkeit verdammt – mal abgesehen von ein paar völlig unwichtigen Entscheidungen. – In der Tat: So würde es wohl aussehen, wenn von einem auf den anderen Tag ein in Mehrheitsentscheid „geübtes“ Gremium sich auf Konsensentscheid umstellen würde. Denn um im Konsens entscheiden zu können, braucht es einige wichtige Voraussetzungen.

Voraussetzungen für Konsensentscheid

Eine Grundvoraussetzung, ohne die jeder Versuch, im Konsens zu entscheiden, zum Scheitern verurteilt ist, ist die, daß sich alle Anwesenden darüber einig sind, im Konsens entscheiden zu wollen. Ist diese Einigkeit nicht gegeben, so ist ein verantwortungsvoller Umgang mit dem „Vetoprinzip“ und einigen anderen Charakteristika des Konsensprinzips äußerst unwahrscheinlich. Für die Delegierten der beschriebenen „Modellgruppe“ bedeutet dies, daß sie erst einmal lernen müßten, sich nicht mehr (nur) als VertreterInnen ihrer jeweiligen Gruppe zu verstehen, sondern (auch) den Ausschuß als eine eigene Gruppe und sich selbst als Teil von dieser zu begreifen. Das alleine reicht jedoch noch nicht aus. Unbedingt notwendig ist es, das bisherige Gegeneinander und Sich-durchsetzen-wollen durch den Wunsch nach Kooperation und die grundsätzliche Bereitschaft zu Kompromissen zu ersetzen. Das Verhalten muß von gegenseitigem Respekt und von gegenseitigem Zuhören geprägt sein, d.h., jede einzelne versucht nun, auf das von anderen Gesagte einzugehen, die Argumente – auch und gerade die „gegnerischen“ – sorgfältig und vorurteilsfrei zu prüfen. Persönliche Zwistigkeiten haben im Konsensentscheid keinen Platz; wo sie vorhanden sind, müssen sie bei der Entscheidungsfindung zurückgestellt werden. Bei der Beschlußfassung muß sich jede einzelne bewußt sein, für die Entscheidungen der Gruppe mitverantwortlich zu sein.

Neben dem Zuhören gehört zum Konsensentscheid auch die Bereitschaft, auf das „Totreden“ anderer zu verzichten und das eigene Redeverhalten (und die Redezeit!) zu überprüfen. Kommen auch weniger Redegewandte ausreichend zu Wort? Wird dem, was sie sagen, die gleiche Bedeutung beigemessen wie den rhetorisch Geschickteren oder den in der Gruppe Erfahreneren? Bestehen innerhalb der Gruppe informelle Hierarchien? Wird mit geäußerten Bedenken verantwortungsvoll umgegangen – von seiten der „Mehrheit“ wie auch von seiten derjenigen, die die Bedenken äußern? Wie konzentriert werden Entscheidungen und Beschlüsse gefällt, wie sorgfältig werden sie vorbereitet? – Diese Liste von Fragen zeigt deutlich, vor welche Schwierigkeiten eine Gruppe gestellt ist, will sie im Konsens entscheiden. Doch auch wenn der Weg zu einem Konsensentscheid weitaus beschwerlicher ist als der zu einem Mehrheitsentscheid, so lohnt es sich doch, ihn zu gehen. Denn am Ende sollte eine Entscheidung stehen, mit der alle Betroffenen leben können. – Oder etwa nicht?

Probleme des Konsensentscheids

In der Praxis läuft es nicht immer so ab, daß Konsensentscheidungen von allen Betroffenen wirklich mitgetragen werden. Auch in Gruppen, die im Konsens entscheiden, kann es vorkommen, daß sich einzelne von einem Beschluß „überfahren“ fühlen. Wie das?

Das Konsensprinzip verlangt von jedem einzelnen Mitglied einer Gruppe sehr viel Engagement, Kooperationsbereitschaft und Verantwortungsbewußtsein. Wer in Konsensentscheiden noch unerfahren ist, wird nicht selten Schwierigkeiten damit haben. Wann soll ich meine Bedenken äußern, wann nicht? Wann ist ein „Veto“ angebracht, wann nicht? Wie reagiere ich auf die Bedenken anderer?

In relativ homogenen Gruppen, die bereits über eine lange Erfahrung mit dem Konsensprinzip verfügen, funktioniert die Sache meist sehr gut. Anders sieht es jedoch aus, wenn die Gruppe recht heterogen ist, die einzelnen Menschen in ihr einen sehr unterschiedlichen (Entscheidungs-)Erfahrungshorizont haben. Hier finden sich oft informelle Hierarchien, die Empfindung von Gruppendruck und ein übergroßes Bedürfnis nach falsch verstandener Harmonie. Oft geschieht dies, weil die nötige Zeit fehlt (oder zu fehlen scheint!), um alle Aspekte einer Entscheidung und alle auftretenden Bedenken so lange zu erörtern, bis eine von allen getragene, verantwortungsvolle Entscheidung herauskommt. Ein Hinweis dazu: Meine Erfahrung (und die vieler anderer) mit Entscheidungsfindungen ist die, daß Pausen zwischen einzelnen Redebeiträgen oder längere Pausen in einer festgefahrenen Diskussion den Entscheidungsprozeß eher verkürzen als verlängern, weil dadurch die Möglichkeit geschaffen wird, sich noch einmal in Ruhe Gedanken zu machen oder zu einer durch stundenlanges Gerede verlorengegangenen, für verantwortungsbewußte Entscheidungen aber unabdingbaren Konzentrationsfähigkeit zurückzugelangen. Ich will sogar behaupten, daß eine zweiminütige Pause schon so manches Mal ein halbstündiges Aneinander-Vorbeireden hätte verhindern können!

Ein weiteres Problem beim Konsensentscheid ist die Frage der Gruppengröße. Je größer und heterogener die Gruppe, desto schwieriger wird es, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Oft kommt es dann zu faulen Kompromissen, die nichts sind als ein „Minimal-Konsens“, eher widerwillig gefaßt, um überhaupt zu einem Beschluß zu kommen. Das erzeugt Unzufriedenheit und Frustration und führt nicht selten dazu, vom Konsensprinzip wieder abzurücken.

Dieser Schwierigkeit kann begegnet werden, indem Entscheidungen so dezentral wie möglich gefällt werden. Nur dort, wo es unbedingt notwendig ist, sollten Entscheidungen von einer Basisgruppe auf eine größere Ebene verlagert werden. Allerdings ist es in einer komplexen Gesellschaft natürlich alles andere als einfach zu erkennen, welche Entscheidung auf welcher Ebene gefällt werden sollte.

Konsens und Konflikt

An seine Grenze stößt das Konsensprinzip endgültig, wenn unüberbrückbare Interessensgegensätze auftauchen. Im gesamtgesellschaftlichen Kontext können solche Konflikte oft mit sehr unterschiedlichen Machtpotentialen der beteiligten Konfliktparteien einhergehen. Beispielsweise haben AKW-BetreiberInnen in aller Regel erst einmal ein weit größeres Machtpotential als AKW-GegnerInnen und sind daher imstande, ihre Position relativ leicht durchzusetzen. In einer solchen Situation wäre es sicher absurd, wenn die AKW-GegnerInnen den Konflikt durch einen Konsens mit der Gegenseite beizulegen versuchten. Im Gegenteil ist es in diesem Fall notwendig, der eigenen Position erst einmal mehr Gewicht zu verschaffen, z.B. durch gewaltfreie Widerstandsaktionen, mit dem Ziel, zumindest ein Machtgleichgewicht herzustellen. Das bedeutet, daß der Konflikt zuerst bewußt gemacht und – unter Umständen auch konfrontativ – ausgetragen wird, ehe ein Lösungsversuch in Angriff genommen wird. Um zu einer herrschaftsfreien Gesellschaft zu gelangen, ist im gesamtgesellschaftlichen Kontext ein dogmatisches Beharren auf dem Konsensprinzip fehl am Platz. Die Gesellschaft kann unmöglich verändert werden (zumindest nicht radikal), wenn wir uns um der lieben Harmonie willen nicht auf Konfrontationen mit den Herrschenden einlassen.

Auch in homogeneren, kleineren Gruppen kann es vorkommen, daß es Situationen gibt, in denen keine Einigkeit möglich ist. Dann kann es unter Umständen sinnvoll sein, doch wieder auf einen anderen Entscheidungsmechanismus zurückzugreifen, sofern eine Entscheidung notwendigerweise gefällt werden muß. Allerdings sollten wir uns auch eingestehen, daß es Konfliktsituationen gibt, die sich erst einmal nicht lösen lassen – weder per Konsens noch auf andere Weise – und eben ausgehalten werden müssen. Manches Mal ist das sehr unangenehm; ein anderes Mal kann es auch sein, daß gerade das Stehenlassen eines Konflikts sich als fruchtbar erweist.

Fazit

Es muß sicher nicht noch einmal betont werden, daß das Prinzip des Mehrheitsentscheids zum Aufbau einer herrschaftsfreien Gesellschaft nicht taugt, sondern diesem im Gegenteil im Wege steht. In der Entscheidungsfindung sind das Konsensprinzip und die möglichst weitgehende Dezentralisierung von Entscheidungen zweifellos die besten Mittel, um die Gesellschaft von den derzeitigen Herrschaftsstrukturen zu befreien. Aber der Konsensentscheid ist ein sehr hoher Anspruch, der nur erfüllt werden kann, wenn alle Beteiligten sich entsprechend dafür einsetzen, ihr eigenes Verhalten bei der Entscheidungsfindung selbstkritisch überprüfen, Verantwortungsbewußtsein für die Gruppe entwickeln und bereit sind, sich auf die Schwierigkeiten eines Konsensentscheids einzulassen. Wo diese Voraussetzungen fehlen, kann das Konsensprinzip nicht oder nur unzureichend verwirklicht werden. So elementar der Konsensentscheid für den Aufbau einer herrschaftslosen Gesellschaft erscheinen mag, so sollten wir ihn keineswegs zu einem starren, formalistischen Dogma degenerieren lassen. Konsens funktioniert nämlich erfahrungsgemäß am besten mit viel Phantasie, Flexibilität und Spontaneität!

Anmerkungen

Zur Vorbereitung dieses Artikels diente mir in erster Linie die Broschüre "Konsens - Anleitung zur herrschaftsfreien Entscheidungsfindung", hrsg. von der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion Baden, Am Karlstor 1, 69117 Heidelberg; auch erhältlich bei Pazifix, c/o Sonnhild und Ulli Thiel, Alberichstr. 9, 76185 Karlsruhe.